BT-Drucksache 16/7627

Erhöhte Krebsgefahr für Kinder im Umfeld von Atomkraftwerken

Vom 18. Dezember 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/7627
16. Wahlperiode 18. 12. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, Bärbel Höhn,
Undine Kurth (Quedlinburg), Volker Beck (Köln), Cornelia Behm,
Bettina Herlitzius, Winfried Hermann, Peter Hettlich, Ulrike Höfken,
Dr. Anton Hofreiter, Nicole Maisch, Renate Künast, Fritz Kuhn und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Erhöhte Krebsgefahr für Kinder im Umfeld von Atomkraftwerken

Seit vielen Jahren stellen Ärzte in der Umgebung von Atomkraftwerken
(AKW) eine erhöhte Häufigkeit von Leukämie und Missbildungen bei Kindern
fest. Ein erhöhtes Leukämierisiko wurde nun in der umfassenden Studie bestä-
tigt. Damit verdichten sich die Hinweise darauf, dass Atomkraftwerke auch im
Normalbetrieb wesentlich schädlicher sind als bisher angenommen. Die etab-
lierte, meist atomfreundliche Wissenschaft hat die Gefahren der Atomenergie
bisher unterschätzt.

Die vom Mainzer Kinderkrebsregister im Auftrag des Bundesamts für Strah-
lenschutz durchgeführte KiKK-Studie zeigt eine signifikante Erhöhung der
Zahl an Krebs – vornehmlich Leukämie – erkrankten Kinder unter 5 Jahren im
Umfeld von Atomkraftwerken.

Die bundesweit an 16 AKW-Standorten durchgeführte Untersuchung umfasst
den Zeitraum 1980 bis 2003 und ist damit statistisch äußerst gut abgesichert.
Das Studiendesign und die angewandte Methodik wurden von einem 12-köpfi-
gen Expertengremium einvernehmlich festgelegt. Die Studie genügt nach An-
sicht des Bundesamts für Strahlenschutz und der beteiligten Wissenschaftlerin-
nen und Wissenschaftler höchsten Maßstäben und ist wissenschaftlich nicht
angreifbar. Sie kommt zu folgenden zentralen Ergebnissen:

● Das Risiko, für unter 5-jährige Kinder an einem Tumor oder an Leukämie zu
erkranken, steigt mit zunehmender Nähe des Wohnstandortes zu einem AKW
statistisch signifikant an. Im Umkreis von 5 km eines Atomkraftwerks liegt
das Risiko, für unter Fünfjährige an Leukämie zu erkranken, um 120 Prozent
höher als im Bundesdurchschnitt.

● Krebsfälle bei Kindern treten aber auch in weiteren Entfernungen auf. Der
beteiligte Kreis von Experten hat auf Basis der Studienergebnisse ermittelt,
dass im Umkreis von 50 km um die AKW-Standorte von mindestens 121

bis 275 zusätzlichen Neuerkrankungen bei Kindern dieser Altersklasse im
Zeitraum 1980 bis 2003 auszugehen ist.

● Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der von den AKW ausgehenden
Strahlenbelastung im Normalbetrieb und dem Auftreten der Leukämie wird
vom beteiligten Expertengremium explizit nicht ausgeschlossen.

Drucksache 16/7627 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

A. Zur Bewertung der KiKK-Studie und den sich aus ihr ergebenden For-
schungsfragen

1. Welchen Stellenwert räumt die Bundesregierung der KiKK-Studie im Hin-
blick auf die künftige Nutzung der Atomenergie in Deutschland ein?

2. Sind der Bundesregierung ähnliche Untersuchungen aus anderen Ländern
bekannt, falls ja, mit welchen Ergebnissen?

3. Inwieweit sieht die Bundesregierung die Ergebnisse der KiKK-Studie
durch vergleichbare Studien im Ausland bestätigt?

4. Bis wann soll die Strahlenschutzkommission ihre Prüfergebnisse zu der
Studie vorlegen?

5. Welche konkreten anderen Ursachen der erhöhten Krebsraten bei Kindern
im Umfeld von Atomkraftwerken werden zurzeit für wahrscheinlicher ge-
halten als eine Strahlenexposition?

6. Wie bewertet die Bundesregierung das Ergebnis der Studie, dass Krebs-
fälle besonders östlich der Atomkraftwerke aufgetreten sind, was mög-
licherweise im Zusammenhang mit den häufigeren Westwinden steht?

7. Haben aus Sicht der Bundesregierung die Autoren beim Ausschluss der
Strahlenbedingtheit berücksichtigt, dass die Verdopplungsdosen bei vorge-
burtlicher Strahlenexposition sehr viel kleiner sind als für Erwachsene?

8. Wie wurden die Dosen für Erwachsene in der Umgebung von Atomkraft-
werken berechnet?

9. Spiegeln die im Abschlussbericht angegebenen Dosen die gesamte Be-
lastung durch radioaktive Emissionen in der Umgebung von Atomkraft-
anlagen wider?

10. Wurde die radioaktive Belastung in der Umgebung von Atomkraftwerken
vorab untersucht?

11. Wurden in die Untersuchungen externe Experten einbezogen, falls ja, wie
ist deren Einschätzung zur möglichen Strahlenbedingtheit des Befundes?

12. Liegen der Bundesregierung Hinweise über erhöhte Missbildungsraten bei
Neugeborenen in der Nähe von Atomreaktoren vor?

13. Falls ja, lässt die Bundesregierung entsprechende Hinweise auf erhöhte
Missbildungsraten in der Nähe von Atomkraftwerken wissenschaftlich ge-
nauer untersuchen?

14. Kann die Bundesregierung bestätigen, dass die natürliche Hintergrund-
strahlung sowie das medizinische Röntgen nicht zu einer Erhöhung des
Risikos für kindliche Leukämien führen?

15. Sind dabei die speziellen Wirkungen inkorporierter Radionuklide – insbe-
sondere von Alphastrahlen und Kernspaltungsnukliden – berücksichtigt?

16. Hält die Bundesregierung die gesundheitlichen Auswirkungen inkorporier-
ter Radionuklide – vor allem von Spaltprodukten – für ausreichend er-
forscht?

17. Kann aus dem Kenntnisstand der radio-medizinischen Forschung ge-
schlossen werden, dass das Auftreten von erhöhten Leukämiefällen bei
Kindern nicht mit der Dosis-Wirkungsbeziehung erklärt werden kann?

18. Welche Annahmen über die Form der Dosis-Wirkungsbeziehung im Be-
reich niedriger Dosen liegen der Einschätzung der Bundesregierung zu-

grunde?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/7627

B. Zur Strahlenbelastung im Umfeld von Atomkraftwerken

19. Wieso wird Radioaktivität beim Normalbetrieb von Atomkraftwerken in
die Umgebung abgegeben?

20. Welche Emissionen gehen von Atomkraftwerken aus (bitte unterteilen in
die einzelnen radioaktiven Gase und Aerosole sowie in einzelne nicht-
radioaktive Gase und Aerosole)?

21. Welche Messdaten liegen der Bundesregierung über die Emission radio-
aktiver Gase, Aerosole und deren Zerfallsprodukte aus Atomkraftwerken
vor?

22. Welche Messdaten liegen der Bundesregierung über radioaktive Emissio-
nen aus Sicherheitsgefäßen vor?

23. Welche Messdaten liegen der Bundesregierung über radioaktive Emissio-
nen aus Zwischenlagern für Brennelemente vor?

24. Wurden die Erkenntnisse der KiKK-Studie mit Messdaten über Emissio-
nen radioaktiver Gase aus Atomkraftwerken korreliert?

25. In welchem Maße haben die einzelnen deutschen Atomkraftwerke im
Laufe ihrer bisherigen Betriebsdauer bereits Radioaktivität an die Umwelt
abgegeben, und wieviel Radioaktivität wurde davon jeweils über die
Schornsteine abgelassen?

26. In welchem Umfang erhöhen die radioaktiven Abgaben aus Kaminen und
Abwässern der Atomkraftwerke die natürliche Hintergrundstrahlung – ins-
besondere in Zeiten von Regenfällen (Fallout)?

27. Kann ausgeschlossen werden, dass die Emissionsüberwachung von Kern-
kraftwerken Lücken aufweist?

28. Ist insbesondere sichergestellt, dass die Emission relativ großer Aerosole
(Durchmesser 0,02 mm und mehr), die in geringerer Zahl auftreten als
kleinere Aerosolteilchen, durch die Probenahmen im Abgas zuverlässig er-
fasst wird?

29. Ist weiterhin sichergestellt, dass derartige Partikel von der Immissions-
überwachung in der Umgebung der Anlage erfasst werden, die schließlich
nicht flächendeckend, sondern lediglich an einigen einzelnen Punkten er-
folgen kann?

30. Gibt es neben Kaminen und Abwässern weitere Abgabequellen von Radio-
aktivität in Atomkraftwerken, falls ja, welche?

31. Wieso werden die radioaktiven Emissionen über Kamine und Abwässer
verteilt?

32. Gibt es Ausbreitungsberechnungen für die Verbreitung von radioaktiven
Emissionen von Kaminen von Atomkraftwerken?

33. Falls ja, bei welchen Atomkraftwerken wurden solche Berechnungen vor-
genommen?

C. Zu den Schlüssen und Maßnahmen der Bundesregierung

34. Sieht die Bundesregierung auf der Grundlage der Studie einen Bedarf an
zusätzlichen Vorsorgemaßnahmen zur Senkung der Strahlenbelastung im
Umfeld von Atomkraftwerken?

35. Falls ja, welche?

36. Falls nein, warum nicht?

Drucksache 16/7627 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

37. Ab welcher signifikanten Risikoerhöhung sind nach Ansicht der Bundesre-
gierung Vorsorgemaßnahmen zur Senkung der Radioaktivitätsemissionen
durch Atomkraftwerke erforderlich?

38. Inwieweit stellt nach Ansicht der Bundesregierung eine Absenkung der
Grenzwerte für radioaktive Emissionen eine wirksame Vorsorgemaßnahme
dar?

39. Wie beurteilt sie in diesem Zusammenhang den Vorschlag von Prof.
Dr. Lengfelder, die Emissionswerte um den Faktor 50 zu verringern?

40. Bereitet die Bundesregierung zurzeit eine Absenkung der Grenzwerte für
radioaktive Emissionen vor?

41. Wenn ja, welcher Grenzwert wird darin angestrebt, und bis zu welchem
Zeitpunkt soll die entsprechende Rechtsgrundlage erstellt werden?

42. Beabsichtigt die Bundesregierung, eine Beweislastumkehr einzuführen,
der zufolge die Betreiber von Atomkraftwerken nachweisen müssen, dass
die Atomkraftwerke die Krankheitsfälle nicht verursachen?

43. Falls ja, bis wann beabsichtigt sie dies in welcher Form zu tun?

44. Falls nein, wieso nicht?

45. Beabsichtigt die Bundesregierung weitere Studien zu veranlassen, die auch
Altersklassen oberhalb von vier Jahren bis hin zum Erwachsenenalter um-
fassen?

46. Beabsichtigt die Bundesregierung, den bisher in der Wissenschaft ange-
nommenen Wirkungszusammenhang zwischen niedriger radioaktiver
Strahlung und Krebserkrankungen aufbauend auf den neuen Fakten wissen-
schaftlich neu zu bewerten und gegebenenfalls an die Erkenntnisse dieser
Studie anzupassen?

47. Hält die Bundesregierung es für erforderlich, dass die wissenschaftliche
Kenntnis über die Wirkungen von Niedrigstrahlung auf Kinder erweitert
werden muss?

48. Falls ja, was beabsichtigt die Bundesregierung bis wann zu tun, um die
wissenschaftliche Kenntnis über die Wirkungen von Niedrigstrahlung auf
Kinder zu erweitern?

49. Befürwortet die Bundesregierung, dass unter dem Gesichtspunkt der Ge-
sundheitsvorsorge sämtliche Emissionen von Radioaktivität rechtlich un-
terbunden werden?

50. Falls ja, was beabsichtigt die Bundesregierung bis wann zu tun?

51. Falls nein, beabsichtigt die Bundesregierung die Grenzwerte für die Frei-
setzung von radioaktiven Emissionen aus Atomkraftwerken deutlich zu
verschärfen?

52. Falls nein, welche Rolle spielt die Gesundheitsvorsorge aus Sicht der Bun-
desregierung im Falle der Freisetzung von Radioaktivität gerade ange-
sichts der jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse?

53. Kann die Bundesregierung ausschließen, dass die Betreiber von Atom-
kraftwerken für Entschädigung wegen Körperverletzung an Familien zah-
len müssen, deren Kinder an Leukämie erkrankt oder missgebildet sind,
wenn dies eingeklagt wird?

54. Beabsichtigt die Bundesregierung die rechtliche Position von Klägern zu
stärken, die gegen die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit in Folge
von radioaktiven Emissionen klagen?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/7627

55. Wieso hat die Bundesregierung auch 20 Jahre nach dem IAEO-Bericht von
1987 noch keine Erklärung dafür, dass das Atomkraftwerk Krümmel laut
eben diesem Bericht im Vergleich zu anderen Siedewasserreaktoren die
höchste anlageninterne Kontamination hat (vergleiche Antwort der Bun-
desregierung zu den Fragen 47 und 48, Bundestagsdrucksache 16/6767 zu
der Kleinen Anfrage auf Bundestagsdrucksache 16/6272)?

56. Wird die Bundesregierung diesen IAEO-Bericht der Öffentlichkeit der
IAEO zur Verfügung stellen?

57. Falls ja, bis wann, und auf welchem Wege?

58. Falls nein, warum nicht?

Berlin, den 18. Dezember 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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