BT-Drucksache 16/7276

Nanotechnologie für die Gesellschaft nutzen - Risiken vermeiden

Vom 26. November 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/7276
16. Wahlperiode 26. 11. 2007

Antrag
der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Dr. Kirsten Tackmann, Karin Binder,
Dr. Martina Bunge, Cornelia Hirsch, Volker Schneider (Saarbrücken)
und der Fraktion DIE LINKE.

Nanotechnologie für die Gesellschaft nutzen – Risiken vermeiden

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Durch den Einsatz von Nanotechnologie erschließen sich neue Anwendungen in
vielen Bereichen. Die Bundesregierung hat Nanotechnologie im Rahmen der
Hightechstrategie als einen „Leitmarkt der Zukunft“ identifiziert und erwartet
die Entstehung von Märkten für nanotechnologische Anwendungen im Umfang
von etwa einer Billion Dollar weltweit. Bisher bestehen Anwendungen im Auto-
mobil-, im Optik- und Biotechnologiebereich. Zudem strebt die Bundesregie-
rung Anwendungen im Militär- und Sicherheitsbereich an, die im Rahmen von
Dual-Use-Entwicklungen umgesetzt werden sollen.

Nanotechnologie ist nicht nur ein Zukunftsmarkt, sie kann durch ihre Anwen-
dungen etwa in der Medizin- und Umwelttechnik, in der Bau- und in der Ver-
kehrsbranche zur Lösung gesellschaftlicher Problemstellungen wie der Bekämp-
fung von Krankheiten, der Ressourcen-, der Umwelt- und der Klimaschonung
beitragen.

Damit diese Chancen genutzt werden können, müssen die Risiken bekannt sein.
Das Wissen um gesundheitliche und ökologische Gefahren durch nanopartiku-
läre Stoffe ist jedoch bisher gering. Sicher ist, dass Partikel in Nanogröße bio-
chemische Barrieren wie die Blut-Hirn- und die Plazentaschranke aber auch die
oberen Hautschichten überwinden können und daher andere Gefährdungen bei
der Exposition bergen als das beispielsweise bei Chemikalien in größerer Parti-
kelform der Fall ist. Nicht zuletzt geben Zwischenergebnisse des vom Bundes-
ministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsprojekts „Nano-
Care“ starke Indizien für eine Gefährdung des menschlichen Organismus durch
das Einatmen von Nanopartikeln, z. B. in Form von Aerosolen an. Noch weit-
gehend unklar sind die weiteren Risiken bei der Aufnahme über die Nahrung
und die Haut, die Auswirkungen auf Ökosysteme, die Übertragungsmöglich-
keiten von Partikeln über Stoffkreisläufe sowie Probleme der Entsorgung. Auch
der Bericht der Bundesregierung zum Veränderungsbedarf des für Anwendun-

gen der Nanotechnologie bestehenden und relevanten Rechtsrahmens (Aus-
schussdrucksache 16(18)259), benennt große Lücken im Wissen um die Wir-
kungen von Nanopartikeln auf den Menschen. Die Bereiche Ökotoxizität sowie
Entsorgung werden nicht benannt.

Die öffentliche Hand fördert die Erforschung der Nanotechnologie im Umfang
von derzeit 330 Mio. Euro jährlich. Allein das Bundesministerium für Bildung
und Forschung (BMBF) ist mit etwa 134 Mio. Euro beteiligt. Für Projekte der

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Risikoforschung im Grundlagenbereich (NanoCare, INOS, TRACER) stehen
lediglich knapp 1,6 Mio. Euro jährlich für die Erforschung von Risiken zur Ver-
fügung. Die weitere verbraucher-, umwelt- und arbeitsschutzorientierte Begleit-
forschung soll über Institutionen wie das Umweltbundesamt (UBA), das Bundes-
institut für Risikobewertung (BfR) und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und
Arbeitsmedizin (BAuA) abgedeckt werden. Die Vorgängerkoalition hatte be-
schlossen, 5 Prozent des gesamten Fördervolumens für die Begleitforschung
einzusetzen. Davon ist die jetzige Regierung weit entfernt.

Obwohl durch die schnelle Entwicklung nanotechnologischer Produkte ein um-
fangreicher Bedarf an Wissen über Risikopotenziale von Nanostoffen entstan-
den ist, sind die Forschungsergebnisse bisher äußerst lückenhaft, für viele
Fragestellungen nicht vorhanden. Es fehlen zunächst Messtechniken zur Skalie-
rung von Nanopartikeln und eine fundierte Charakterisierung synthetischer
Nanomaterialien. Daran sollten umfangreiche Forschungen, auch Einzelstoff-
prüfungen, zu den toxikologischen und ökotoxikologischen Folgen angeschlos-
sen werden. Aus den erhobenen Daten sind Erfordernisse für die Regulierung
des Umgangs mit Nanomaterialien abzuleiten.

Ein Entwurf einer solchen Forschungsstrategie wurde bereits Ende 2006 von
den beteiligten Ressortforschungseinrichtungen vorgeschlagen. Die zum glei-
chen Zeitpunkt eingesetzte Nanokommission unter Leitung von Wolf-Michael
Catenhusen hat bis heute keine nachvollziehbare Tätigkeit und sichtbare Ergeb-
nisse vorzuweisen. Aus dem Forschungsprojekt NanoCare wurden Zwischen-
ergebnisse vorgestellt, die noch ein bis eineinhalb Jahre von einem ersten um-
fassenden Ansatz zur Risikobewertung entfernt sind. Aufgrund der verspätet
aufgelegten Risikoforschung fehlt sowohl die Basis für eine mögliche Regula-
tion des Umgangs mit Nanomaterialien als auch für einen breiten Dialog mit ge-
sellschaftlichen Beteiligten – etwa Verbraucherinnen und Verbrauchern, Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmern sowie Umweltverbänden.

Die Bundesregierung verweist selbst im vorgelegten Bericht zum Veränderungs-
bedarf des bestehenden Rechtsrahmens für Anwendungen der Nanotechnologie
auf Defizite an systematischem Forschungswissen. Sie lehnt aktuell dennoch
spezifische gesetzliche Regelungen für nanotechnologische Anwendungen ab.
Als ausreichend werden die einschlägigen nationalen Zulassungsregelungen
und die europäische Chemikalienrichtlinie REACH angesehen. Diese sehen je-
doch nur allgemeine Sorgfaltspflichten der Hersteller und nur teilweise Unbe-
denklichkeits- und Zulassungsprüfungen vor. Da Vorschriften, Methoden und
Bewertungsmaßstäbe für spezifische Untersuchungen zur Partikelgröße und de-
ren Auswirkungen auf Mensch und Umwelt fehlen, besteht für den geltenden
Rechtsrahmen zur Bewertung von Nanomaterialien Überprüfungs- und Ände-
rungsbedarf. Dafür spricht nicht zuletzt, dass die Mindestherstellungsmengen
für eine Prüfpflicht nach REACH so hoch festgelegt wurden, dass Nanostoffe,
die häufig nur in kleinen Mengen gebraucht und produziert werden, nicht erfasst
sind.

Der Deutsche Bundestag begrüßt, dass auf europäischer Ebene erste Initiativen
zur Aufnahme der Partikelgröße als Kriterium für eine Prüfpflicht in Verordnun-
gen über neuartige Lebensmittel und über Lebensmittelzusatzstoffe zu erwarten
sind.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Chancen der Nanotechnologie zu nutzen und die Forschungsförderung im
Bereich der Nanotechnologie zukünftig neben der Grundlagenforschung auf
die Bewältigung gesellschaftlicher Probleme wie Gesundheit-, Klima-, Res-
sourcen- und Umweltschutz sowie auf Energieeffizienz auszurichten. Die

öffentliche Forschungsförderung zum Einsatz nanopartikulärer Stoffe und
Technologien für militärische Anwendungen ist einzustellen;

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2. angesichts internationaler und nationaler Forschungsergebnisse zur erhöhten
Toxizität von Nanopartikeln die Risikoforschung in die Ausschreibungen
prinzipiell zu integrieren. Dabei sind bereits erste Zwischenergebnisse von
NanoCare angemessen zu berücksichtigen, beanspruchten diese doch einen
sehr hohen Aufwand zur Begutachtung unterschiedlicher Expositionen von
Nanostoffen. Die Mittel für Risikoforschung und Arbeitsschutzmethoden
sind daher mindestens zu verdoppeln;

3. ein gesondertes Forschungsprogramm zur Ökotoxizität aufzulegen;

4. die Förderung der Technologieentwicklung an verbindliche Zusagen der
Antragsteller und Antragstellerinnen auf einen eigenständigen Beitrag zur
Risiko- und Technikfolgenforschung zu knüpfen;

5. die zeitnahe Umsetzung der durch die Ressortforschungseinrichtungen kon-
zipierten Forschungsstrategie „Gesundheits- und Umweltrisiken von Nano-
partikeln“ zu sichern;

6. die einschlägigen Forschungsanhaltspunkte zum gesundheitlichen Risiko
beim Inhalieren von nanoskaligen Stäuben, wie sie auch bei üblichen Tätig-
keiten in der Industrie, beispielsweise beim Schweißen in Dämpfen, ent-
stehen, umgehend in eine Arbeitsgruppe zum Arbeitsschutz beim Umgang
mit nanoskaligen Partikeln umzusetzen. Diese soll zum einen als Schnitt-
stelle zwischen den Ergebnissen aus EU-, BMBF- und Ressortforschungs-
projekten fungieren, zum anderen Ansprechpartner für die Industrie, die
Betriebs- und Personalräte sein sowie auch Aufklärung gegenüber diesen
Einrichtungen betreiben;

7. die Initiative NanoDialog schnellstmöglich zu einer umfassenden Diskus-
sionsplattform auszubauen, die in der Lage ist, ressortübergreifend soziale
Folgen bei Anwendung der Nanotechnologie angefangen bei der Ausbildung
bis zur Risikoabschätzung zu vermitteln, zu debattieren und Vorschläge zur
Bewältigung der Probleme zu entwickeln. Der organisatorische und finan-
zielle Rahmen der Diskussionsplattform ist so zu gestalten, dass eine breite
gesellschaftliche Beteiligung ermöglicht wird;

8. zeitnah eine gesetzliche Kennzeichnungspflicht einzuführen, durch die Ver-
braucher und Verbraucherinnen von Lebensmitteln und Produkten auf syn-
thetische Nanomaterialien und auf neuartige Herstellungsverfahren, in denen
nanopartikuläre Stoffe zur Anwendung kommen, sowie auf die Möglichkeit
gesundheitlicher und ökologischer Gefahren gut sichtbar hingewiesen wer-
den;

9. darauf zu drängen, dass bei der Umsetzung der europäischen Chemikalien-
richtlinie REACH die Partikelgröße als Prüfkriterium einbezogen und die
Mindestmengen für die Zulassungspflicht herabgesetzt werden. Zudem soll
die Forderung gestellt werden, dass die Partikelgröße als Prüfkriterium bei
der Revision der EG-Verordnung über neuartige Lebensmittel und neuartige
Lebensmittelzutaten ebenso einbezogen wird, wie bei nationalen Zulassungs-
regelungen für Bedarfsgegenstände, Kosmetika, Verbraucherprodukte und
Lebensmittel.

Berlin, den 26. November 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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