BT-Drucksache 16/7003

Arbeit statt Frühverrentung fördern

Vom 7. November 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/7003
16. Wahlperiode 07. 11. 2007

Antrag
der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks,
Christian Ahrendt, Daniel Bahr (Münster), Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst,
Ernst Burgbacher, Patrick Döring, Mechthild Dyckmans, Otto Fricke, Horst
Friedrich (Bayreuth), Dr. Edmund Peter Geisen, Hans-Michael Goldmann, Joachim
Günther (Plauen), Dr. Christel Happach-Kasan, Heinz-Peter Haustein, Birgit
Homburger, Michael Kauch, Hellmut Königshaus, Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin,
Heinz Lanfermann, Sibylle Laurischk, Harald Leibrecht, Ina Lenke, Michael Link
(Heilbronn), Horst Meierhofer, Patrick Meinhardt, Jan Mücke, Burkhardt
Müller-Sönksen, Dirk Niebel, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Detlef Parr, Cornelia
Pieper, Gisela Piltz, Jörg Rohde, Frank Schäffler, Dr. Hermann Otto Solms,
Dr. Rainer Stinner, Carl-Ludwig Thiele, Florian Toncar, Christoph Waitz, Dr. Claudia
Winterstein, Dr. Volker Wissing, Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Martin Zeil, Dr. Guido
Westerwelle und der Fraktion der FDP

Arbeit statt Frühverrentung fördern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Eine Zwangsverrentung von Arbeitsuchenden darf es nicht geben. Stattdessen
soll der Zeitpunkt des Renteneintrittsalters für alle Versicherten ab dem 60. Le-
bensjahr bei Wegfall aller Zuverdienstgrenzen frei wählbar sein.

Eine Zwangsverrentung von Arbeitsuchenden droht aber ab 1. Januar 2008 Re-
alität zu werden. Ende 2007 läuft die „58er-Regelung“ aus (§ 428 des Dritten
Buches Sozialgesetzbuch – SGB III). Personen, die ab 1. Januar 2008 Unterstüt-
zung durch ALG II beantragen, können dann darauf verwiesen werden, sobald
wie möglich ihre gesetzliche Rente zu beziehen, um ihre Bedürftigkeit auszu-
schließen oder zu verringern. Im Ergebnis werden sie also gezwungen sein, in
Rente zu gehen, statt weiter auf dem Arbeitsmarkt nach einer Arbeit zu suchen.

Eine Zwangsverrentung benachteiligt Frauen, Menschen mit Behinderungen
und langjährig Versicherte. Arbeit suchende Frauen müssen ab 60 Jahren mit
18 Prozent Abschlägen ihre Rente beantragen, Arbeit suchende Männer ab dem
63. Lebensjahr mit 7,2 Prozent Abschlag. Versicherte, die 35 Beitragsjahre
vorzuweisen haben, können ab dem 63. Lebensjahr auf ihre Rentenansprüche
verwiesen werden. Menschen mit Behinderungen müssen ihre Rente ab dem
60. Lebensjahr einsetzen. Die ursprünglich als Privileg gedachten Frühverren-
tungsmöglichkeiten verkehren sich in das Gegenteil.

Auch arbeitsmarktpolitisch treten unerwünschte Wirkungen ein, denn für alle
Frühverrenteten gelten nach gegenwärtiger Rechtslage enge Zuverdienstgren-

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zen. Sie dürfen neben ihrer Rente nur 350 Euro maximal hinzuverdienen. Sie
werden damit aus dem Arbeitsmarkt herausgedrängt.

Ziel ist es aber, ältere Versicherte länger aktiv im Arbeitsmarkt zu halten. Die ab
1. Januar 2008 greifende Rechtslage ist daher nicht zielführend. Eine Verlän-
gerung der bisherigen „58er-Regelung“ zur Lösung des Problems ist ebenfalls
abzulehnen, da damit ältere Versicherte ebenfalls aus der aktiven Arbeitsuche
gedrängt werden.

Eine Lösung bietet sich mit dem Modell „Flexibler Renteneintritt bei Wegfall al-
ler Zuverdienstgrenzen“ an. Danach haben alle Versicherten ab dem Ende des
60. Lebensjahrs die Möglichkeit, ihre gesetzliche Rente in Anspruch zu nehmen,
wenn ihre kumulierten Ansprüche aus gesetzlicher, betrieblicher und privater
Altersvorsorge über Grundsicherungsniveau liegen. Sie müssen ihre gesetz-
lichen Rentenansprüche aber nicht einsetzen, um Bedürftigkeit nach SGB II zu
vermeiden oder zu verringern. Umgekehrt kann neben realisiertem Rentenbezug
natürlich kein ALG II bezogen werden. Erst bei der Ermittlung der Bedürftigkeit
für einen Anspruch auf Grundsicherung im Alter (gegenwärtig 65) sind die ge-
setzlichen Rentenansprüche zu berücksichtigen.

Mit diesem Ansatz besteht für die Menschen über die versicherungsmathema-
tisch korrekte Berechnung der Rente erstens der Anreiz, länger zu arbeiten bzw.
Arbeit zu suchen. Zweitens werden sie nicht durch Frührente in Verbindung mit
rentenrechtlichen Zuverdienstgrenzen aus dem Arbeitsmarkt gedrängt. Viel-
mehr erhalten sie die Möglichkeit, Rente und Verdienst nach ihrem Wunsch zu
kombinieren.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. Versicherten in der Rentenversicherung die Möglichkeit zu eröffnen, ab dem
Ende des 60. Lebensjahrs den Zeitpunkt ihres Renteneintritts selbst bestim-
men zu können, wenn die Summe ihrer gesetzlichen, betrieblichen und priva-
ten Altersversorgungsansprüche ab dem Zeitpunkt des Renteneintritts über
dem Grundsicherungsniveau liegt,

2. die Grenzen für Zuverdienst neben dem Rentenbezug ab 60 Jahren aufzuhe-
ben,

3. sicherzustellen, dass nicht in Anspruch genommene gesetzliche Rentenan-
sprüche bei der Ermittlung der Bedürftigkeit nach SGB II nicht berücksich-
tigt werden und damit keine Zwangsverrentung stattfindet,

4. sicherzustellen, dass bei der Ermittlung der Bedürftigkeit der Grundsiche-
rung im Alter nach SGB XII die gesetzlichen Rentenansprüche berücksich-
tigt werden.

Berlin, den 7. November 2007

Dr. Guido Westerwelle und Fraktion

Begründung

I. Die in der Einleitung dargestellte, ab 2008 einsetzende Rechtslage betrifft
folgende Antragsteller für ALG II: (1) solche die 35 Beitragsjahre nachwei-
sen können und 63 Jahre alt sind, (2) solche die zur Altersgruppe bis Jahr-
gang 1951 (heute 56 Jahre alt) gehören und daher eine Frührente nach
Arbeitslosigkeit oder Altersteilzeit mit 63 Jahren (ab Ende 2008, die Zu-

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gangsgrenze steigt monatlich um einen Monat an) beanspruchen können,
und (3) Frauen bis Jahrgang 1951 mit Anspruch auf Rente ab 60 Jahren. Da-
neben (4) gibt es die Frührente für Schwerbehinderte ab 60 Jahren.

II. Gegenüber der Rechtslage heute bzw. bis Ende 2007 führt die in diesem An-
trag vorgeschlagene Variante zu keinen Mehrkosten: Auch heute können die
Menschen über die „58er-Regelung“ im ALG-II-Bezug bleiben und müssen
nicht ihre gesetzliche Rente zum Erhalt von ALG II einsetzen.

III. Der flexible Renteneintritt ab 60 ohne Einsatz der Rentenansprüche führt
wahrscheinlich kurzfristig zu Mehrkosten für den Bundeshaushalt, ver-
glichen mit der ab 2008 geltenden Rechtslage. Denn Personen, die ab 2008
mit 63 Jahren bei Arbeitslosigkeit auf ihre Rente verwiesen werden könnten
(Personen nach Arbeitslosigkeit oder Altersteilzeit), können dann nach dem
flexiblen Eintrittsmodell für weitere zwei Jahre ALG II beziehen. Frauen
können dann, statt mit 60 ihre Rentenansprüche nehmen zu können, bis zum
65. Lebensjahr ALG II beziehen.

Aus zwei Gründen sind die mit dem flexiblen Renteneintrittsmodell zu er-
wartenden Mehrkosten gegenüber der geltenden Rechtslage ab 2008 aber
eher gering:

1. Personen, die einen Rentenanspruch unter Grundsicherungsniveau besit-
zen, werden vor und nach 65 immer steuerfinanziert aufgestockten Unter-
halt erhalten. Für diesen Personenkreis ist es für den Steuerhaushalt ein
Nullsummenspiel, ob diese Personen eine Rente früher oder später neh-
men. Müssen sie ihre Rente früher in Anspruch nehmen, dann ist ihr Ren-
tenzahlbetrag dauerhaft gemindert und die Aufstockungen durch steuer-
finanzierte Grundsicherung im Alter höher, als wenn diese Personen ihre
Rente erst später ohne Abschläge in Anspruch nehmen.

Personen, die einen Rentenanspruch über Grundsicherungsniveau haben,
werden wenig Anreize haben lieber ALG II zu beziehen als ihre Renten
ohne Zuverdienstgrenzen in Anspruch zu nehmen. Denn bei Bezug von
ALG II unterliegen sie zum einen der Vermögensprüfung und sind zum
anderen zur Aufnahme von Tätigkeiten verpflichtet. Zudem unterliegt ihr
Verdienst den Anrechnungsregeln des ALG II.

2. Die wesentlichen, 2008 geltenden, Frühverrentungstatbestände laufen in
wenigen Jahren aus. Dann gibt es die „Zwangsfrühverrentung“ nur noch
für langjährig Versicherte nach 35 Beitragsjahren mit 63 und für Schwer-
behinderte ab 60 Jahren.

Der am meisten genutzte Tatbestand für Frührente nach Arbeitslosigkeit
mit 63 gilt nur noch bis Jahrgang 1951 (heute 56-jährige). In 7 Jahren,
wenn die heute 56-jährigen 63 sind, läuft er aus. Das heißt, dass auch nach
der 2008 einsetzenden Rechtslage Arbeitsuchende mit 63 nur noch in den
kommenden sieben Jahren in Frührente geschickt werden können. Bereits
in vier Jahren beginnt der Frühverrentungstatbestand für Frauen mit
60 Jahren, der nur noch bis Jahrgang 1951 gilt, auszulaufen.

Mit Auslaufen dieser Tatbestände werden dann vor allem Personen früh-
verrentet werden können, die mit 35 Beitragsjahren einen Frührenten-
anspruch ab dem 63. Lebensjahr haben, daneben noch Menschen mit Be-
hinderungen mit 60 Jahren. Diese langjährig Versicherten liegen ziemlich
sicher über Grundsicherungsniveau (ein Durchschnittsverdiener bereits
mit 26 Beitragsjahren).

Das bedeutet, auch nach geltendem Recht werden in wenigen Jahren die
Möglichkeiten zur Frühverrentung extrem reduziert werden. Im Wesent-
lichen werden nur noch Schwerbehinderte in die Frührente gezwungen
werden können.

Drucksache 16/7003 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
3. Im Vergleich zur Rechtslage nach 2008 wird das flexible Renteneintritts-
modell daher kaum, wenn überhaupt, Mehrkosten im Bundeshaushalt er-
zeugen. Verbessert sich die Lage am Arbeitsmarkt für Ältere, wie mit
dem flexiblen Rentenmodell beabsichtigt, führt es im Gegenteil zu Ent-
lastungen.

IV. Das Erfordernis, gesetzliche Rentenansprüche einzusetzen, um bedürftig
nach SGB XII zu sein, und beispielsweise Hilfe zum Lebensunterhalt zu er-
halten, bleibt bestehen. Denn wer gesetzliche Rentenanwartschaften aufge-
baut hat und erwerbsunfähig wird, erhält eine Erwerbsminderungsrente bis
zum 65. Lebensjahr, danach seine Regelaltersrente. Die Erwerbsminde-
rungsrente ist dann natürlich bei der Ermittlung der Bedürftigkeit zu berück-
sichtigen.

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