BT-Drucksache 16/6976

zu der Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung -16/6281- Der Nationale Integrationsplan - Neue Wege - Neue Chancen

Vom 7. November 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/6976
16. Wahlperiode 07. 11. 2007

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Ulla Jelpke, Dr. Hakki Keskin, Jan Korte,
Kersten Naumann, Wolfgang Neskovic, Petra Pau und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
– Drucksache 16/6281 –

Der Nationale Integrationsplan
Neue Wege – Neue Chancen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Bundestag begrüßt im Grundsatz, dass die Bundesregierung das Thema
der Integration nach jahrzehntelangen staatlichen Versäumnissen nun öffent-
lich als ein politisch zentrales Aufgabenfeld debattiert. Der Bundestag be-
fürwortet den Ansatz, staatliche und nichtstaatliche Akteure der verschie-
densten Ebenen zusammenzuführen, um sich über Fragen der Integration
auszutauschen, bestehende Defizite herauszuarbeiten und politische Hand-
lungsoptionen zu entwerfen („Integrationsgipfel“).

2. Der Bundestag kritisiert, dass der Nationale Integrationsplan (NIP) und die
beiden Integrationsgipfel keinen glaubhaften Neuanfang in der Integrations-
politik darstellen. Nach wie vor ist der Grundgedanke der Integrationspolitik
von einem Verständnis geprägt, nach dem „Integrationsdefizite“ in erster
Linie oder überwiegend bei den Betroffenen gesucht und in deren individuelle
Verantwortung gelegt werden. Stattdessen müssen strukturelle Mechanismen
und Hindernisse in Politik, Recht und Gesellschaft identifiziert und beseitigt
werden, die Integration be- oder gar verhindern. Themen wie Antirassismus
und Antidiskriminierung, kommunales Wahlrecht für Drittstaatsangehörige,
aufenthalts- und staatsangehörigkeitsrechtliche Änderungen oder die Integra-
tion von Flüchtlingen und Illegalisierten wurden entgegen der Kritik beteilig-
ter Verbände und Nichtregierungsorganisationen von vornherein als Hand-
lungsfelder des NIP ausgeschlossen.

3. Die parallel zur Erstellung des NIP gegen den breiten Widerstand der Ver-
bände von Migrantinnen und Migranten verabschiedeten umfangreichen
Gesetzesverschärfungen (EU-Richtlinienumsetzungsgesetz) haben den An-
spruch einer gemeinsamen Integrationspolitik unglaubwürdig werden lassen.
Der Grundsatz des NIP: „Wir sprechen mit Migrantinnen und Migranten,
nicht über sie“ (Bundestagsdrucksache 16/6281, S. 8) erweist sich so als ein

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folgenloses, leeres Versprechen, das über die real ausgrenzende Politik und
Gesetzgebung hinwegtäuschen soll. Wenn das Reden über Integration mit
Unterstellungen, negativen Pauschalisierungen und der Androhung von Sank-
tionen verknüpft wird, ist die Wirkung im Ergebnis desintegrierend.

4. Der Bundestag stellt mit Bedauern fest, dass im NIP als Beitrag des Bundes
überwiegend solche Maßnahmen als Selbstverpflichtungen aufgeführt wer-
den, die ohnehin geplant waren oder bereits existieren. Viele Selbstver-
pflichtungen sind auch sehr vage und unverbindlich formuliert, bei anderen
handelt es sich um Maßnahmen, die eine längst überfällige „Bringschuld“
der Aufnahmegesellschaft darstellen – etwa die Öffnung des Bundesaus-
bildungsförderungsgesetzes für dauerhaft in der Bundesrepublik Deutsch-
land lebende Migrantinnen und Migranten oder die (immer noch unzurei-
chende) Verbesserung der Integrationskurse. Die Ankündigung des Bundes,
750 Mio. Euro für „unmittelbare Integrationsförderung bzw. für Maßnah-
men mit primärer Zweckbestimmung Integrationsförderung“ jährlich zur
Verfügung stellen zu wollen (Bundestagsdrucksache 16/6281, S. 15), er-
weist sich bei genauerer Betrachtung als eine zum Teil beliebige Zusam-
menstellung von Maßnahmen und Titeln, die vielfach einfach fortgeschrie-
ben werden (vgl. Bundestagsdrucksache 16/6263, Frage 11 und 12).

5. Der Bundestag kritisiert, dass das Parlament nicht ausreichend beteiligt
wurde, indem lediglich Abgeordnete der Koalitionsfraktionen der CDU/
CSU und SPD, nicht aber der Oppositionsfraktionen in den Arbeitsgruppen
zur Erarbeitung des NIP beteiligt wurden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz vorgenommenen umfangreichen
Verschärfungen der Rechtslage zurückzunehmen, soweit sich diese nicht
zwingend aus den umzusetzenden EU-Richtlinien ergeben;

2. ein unabhängiges Gremium zu schaffen, das dem Bundestag Vorschläge
für eine aufeinander abgestimmte Integrationspolitik unterbreitet. Dieses
Gremium soll ohne zeitlichen Druck und mit Hilfe von themenbezogen
heranzuziehenden weiteren Sachverständigen ein Integrationskonzept er-
arbeiten. Alle Bundestagsfraktionen sind bei der Frage der personellen
Zusammensetzung des Gremiums zu beteiligen, in jedem Fall müssen
Mitglieder von Migrantinnen- und Migrantenselbstorganisationen und
von Flüchtlingsorganisationen sowie renommierte Expertinnen und Ex-
perten der Sozialwissenschaften vertreten sein. Dieses Gremium kann
Vorarbeiten und Vorschläge, die im Rahmen des NIP erarbeitet wurden,
kritisch prüfen und gegebenenfalls aufgreifen;

3. dem Gremium folgende Aspekte eines offenen Integrationskonzepts, das
auf den Grundgedanken „Gleiche Rechte für Alle“, Integration durch so-
ziale Partizipation und Integration durch Überwindung gesellschaftlicher
Ausgrenzung basieren soll, zur Berücksichtigung aufzugeben:

3.1 Integration durch rechtliche Gleichstellung und politische Partizipation

Reformierung des Staatsangehörigkeitsrechts (Geburtsrecht, Zulas-
sung von Mehrfachstaatsangehörigkeiten, erleichterte Einbürgerun-
gen); aktives und passives (kommunales) Wahlrecht für Menschen mit
Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik Deutschland; interkulturelle
Öffnung von Parteien, Vereinen und Organisationen und Verbesserung
der Bedingungen für Selbstorganisationen von Migrantinnen und Mi-
granten;

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/6976

3.2 Integration durch Einbeziehung von Flüchtlingen und Illegalisierten

konsequente Umsetzung der Genfer Flüchtlingskonvention und der
Europäischen Menschenrechtskonvention; Rücknahme des ausländer-
rechtlichen Vorbehalts gegenüber der UN-Kinderrechtskonvention;
Beendigung der Widerrufspraxis gegenüber anerkannten Flüchtlingen;
Aufhebung bzw. zumindest Einschränkung der Abschiebungshaft;
Sicherstellung von grundlegenden Rechten Illegalisierter; Schaffung
einer wirksamen Bleiberechtsregelung;

3.3 Integration durch Anti-Diskriminierung

Änderung und Verbesserung des Allgemeinen Gleichbehandlungsge-
setzes (Berücksichtigung der sozialen Herkunft, der Sprache usw. als
Diskriminierungstatbestand, Verbandsklagerecht, Beweislastumkehr),
öffentliche Aufklärung/Kampagnen über Rechte und Möglichkeiten,
gegen Diskriminierungen vorzugehen;

3.4 Integration durch gleichberechtigte Teilhabe in der Bildung

Abschaffung des sozial höchst selektiven und Ungleichheiten verfes-
tigenden dreigliedrigen Schulsystems und Einführung einer Gemein-
schaftsschule mit Ganztagsbetreuungsangeboten; flächendeckende,
gebührenfreie (Klein-)Kinderbetreuung und frühzeitige Sprach- und
Förderangebote; interkulturelle Qualifizierung der Lehrenden; Verbes-
serung der Integrationskurse und Ausweitung der Teilnahmeberechtig-
ten;

3.5 Integration durch Ausbildung

Beseitigung der bestehenden rechtlichen und faktischen Ausbildungs-
verbote; interkulturelle Weiterbildung von Personalverantwortlichen;
Steigerung des allgemeinen Ausbildungsanteils durch Einführung ei-
ner solidarischen, branchenbezogenen gesetzlichen Ausbildungsplatz-
umlage; interkulturelle Öffnung ausbildungsbegleitender Hilfen und
von Angeboten für lernschwache Jugendliche bzw. solche aus sozial
prekären Verhältnissen;

3.6 Integration durch Erwerbstätigkeit

Beseitigung von (faktischen) Arbeitsverboten und des Vorrangprinzips
bei der Arbeitssuche; Initiative für ein System der erleichterten Aner-
kennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen; auf Migran-
tinnen und Migranten unabhängig vom aufenthaltsrechtlichen Status
zugeschnittene arbeitsmarktpolitische Förder- und Qualifizierungs-
maßnahmen; Beratung und Hilfen für Migrantinnen und Migranten, die
sich selbständig machen wollen;

3.7 Integration durch gleichberechtigten Zugang zu sozialen Transfers und
Dienstleistungen

Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes; gleichberechtigter
Zugang zu Eingliederungshilfen, Kinder- und Erziehungsgeld, Wohn-
berechtigungsscheinen usw.; interkulturelle Öffnung aller sozialstaat-
lichen Institutionen;

Drucksache 16/6976 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

3.8 Integration durch Gleichstellung der Geschlechter

Eigenständiges Aufenthaltsrecht unabhängig vom Ehepartner; Stär-
kung der Aufenthaltsrechte zwangsverheirateter oder von Zwangs-
heiraten bedrohter Frauen sowie Rückkehrmöglichkeiten für ins Aus-
land verschleppte Frauen; Stärkung der Rechte von Opfern des
Frauen- und Menschenhandels; Ausbau der Beratungs-, Betreuungs-
und Schutzangebote für Migrantinnen; Öffentlichkeitsarbeit, Auf-
klärung, Prävention; Umwandlung prekärer, oft „frauentypischer“
Mini- und Midijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungs-
verhältnisse, Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von min-
destens 8,44 Euro brutto pro Stunde;

3.9 Integrative Kommunalpolitik statt kommunaler Integrationspolitik

Wohnungs- und sozialpolitische Maßnahmen zur Verhinderung von
Quartieren mit schlechten Wohn- und Lebensbedingungen sowie
unzureichenden Beschäftigungs- und Aufstiegsperspektiven; Kom-
munale Beschäftigungsprogramme; verstärkte Einbeziehung von
Migrantinnen und Migranten in Planungsprozesse; kommunales
Wahlrecht für Drittstaatsangehörige;

3.10 Integration durch Anerkennung der Heterogenität der Gesellschaft

Interkulturelle Öffnung von Entscheidungsstrukturen im Kulturbe-
reich; Schaffung eines für alle Schülerinnen und Schüler verpflich-
tenden interkulturellen „Lebenskunde-Unterrichts“, der Fragen der
Philosophie, der Religionen, der Menschenrechte, des Nord-Süd-Ver-
hältnisses usw. behandelt;

3.11 Integration durch Antirassismusarbeit

Vorlage eines Aktionsplans gegen Rassismus, der Rassismus als
relevantes und strukturelles gesellschaftliches Problem begreift; stär-
kere Thematisierung der kolonialen Vergangenheit Deutschlands in
den Schulen; Stärkung und Stabilisierung der Beratungsstellen für
Opfer rassistischer Gewalt, von Mobilen Beratungsteams und ande-
ren Projekten im Kampf gegen Rassismus; Bleiberecht für Opfer ras-
sistischer Übergriffe.

Berlin, den 6. November 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Über Jahrzehnte hinweg wurden Maßnahmen zur Förderung der Integration
systematisch unterlassen, weil das populistisch motivierte Dogma, die Bundes-
republik Deutschland sei kein Einwanderungsland, eine Realitäts- und Erkennt-
nisverweigerung nach sich zog, die zulasten der Betroffenen ging. Nicht Inte-
gration, sondern Ausreise der so genannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter
war über eine lange Zeit das Ziel der deutschen „Ausländerpolitik“. Es verbie-
tet sich bereits vor diesem Hintergrund, den Betroffenen eine (angeblich) man-
gelnde Integration oder gar „Integrationsunwilligkeit“ vorzuwerfen.

Der NIP ist ein symbolischer Höhepunkt der Integrationspolitik der Bun-
desregierung, einen inhaltlichen Paradigmenwechsel stellt er nicht dar. Im

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/6976

Integrationsplan fehlen Fragen des Zugangs zum Arbeitsmarkt und die Gesamt-
problematik der Migrantinnen und Migranten ohne Arbeits- und Aufenthalts-
genehmigung. In den Diskussionen der entsprechenden Arbeitsgruppe 3 „Gute
Bildung und Ausbildung sichern, Arbeitsmarktchancen erhöhen“ wurden
hierzu Forderungen vorgetragen (nachlesbar in dem Dokumentationsband).
Dies verdeutlicht, dass die Integrationspolitik der Bundesregierung selektiv ist
und begleitet wird von einer systematischen Desintegrationspolitik gegenüber
bestimmten Gruppen, vor allem Flüchtlingen und ohne Genehmigung in der
Bundesrepublik Deutschland lebenden und arbeitenden Migrantinnen und
Migranten.

Dass der NIP maßgeblich einen für die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregie-
rung instrumentalisierenden Charakter aufweist, erweist sich beispielhaft beim
Thema Zwangsverheiratungen. Während das Thema öffentlich dazu benutzt
wurde, um die Rechte von Migrantinnen und Migranten beim Familiennachzug
einzuschränken, und indirekt pauschalisierende Bilder der „Rückständigkeit“
gestärkt wurden, enthält der NIP keine Selbstverpflichtung des Bundes im auf-
enthaltsrechtlichen Bereich. Aufenthaltsrechtliche Verbesserungen sind nach
Auffassung nahezu aller Sachverständigen dringend erforderlich, um den von
Zwangsverheiratungen Bedrohten und Betroffenen effektiv helfen zu können
(etwa durch ein Rückkehrrecht für Zwangsverschleppte oder die Sicherung
eines eigenständigen Aufenthaltsrechts von Frauen).

Unverbindlich bleibt der NIP im Bereich der Bildung. Bund und Länder ver-
sprechen, sich dafür einzusetzen, dass „demografiebedingt frei werdende Mit-
tel“ „im Schwerpunkt“ für die Bildung genutzt werden (S. 66); mehr kosten soll
Bildung also weiterhin nicht. Eine Beseitigung des sozial höchst selektiven und
insbesondere die Kinder mit Migrationshintergrund benachteiligenden drei-
gliedrigen Schulsystems mit früher Aufteilungssystematik sieht der NIP jedoch
nicht vor, obwohl dies ein zentrales Thema der entsprechenden Arbeitsgruppe 3
war (Bundestagsdrucksache 16/6281, S. 52 f.).

Auch die Handlungsvorschläge zu Ausbildung und Arbeitsmarkt vermitteln
nicht den Eindruck, dass sie geeignet wären, die bestehenden Probleme zu be-
seitigen. Es fehlt ein systematischer, auf die Zielgruppe der Migrantinnen und
Migranten zugeschnittener Förderansatz, der zudem rechtliche und praktische
Beschränkungen beseitigt und verbindliche Vorgaben macht. Wenn ausweislich
der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion DIE
LINKE. zu den Hartz-IV-Gesetzen (Bundestagsdrucksache 16/4210, S. 28)
Migrantinnen und Migranten bei den Maßnahmen zur aktiven Eingliederung in
den Arbeitsmarkt nach SGB II „unterproportional gefördert“ werden, ist dies
ein Skandal, weil sich so die Armuts- und Beschäftigungskluft zwischen Men-
schen mit und ohne Migrationshintergrund weiter vergrößert. Eine bloße Fort-
führung der bisherigen Maßnahmen und die weitgehend unverbindlichen
Selbstverpflichtungen des Bundes im Bereich Ausbildung und Erwerbsleben
sind deshalb ungenügend.

Bund und Länder machen insgesamt wenig verbindliche und wenig ehrgeizige
Zusagen. Die Selbstverpflichtungen der Bundesvereinigung der kommunalen
Spitzenverbände enthalten zwar viele richtige Ansätze und Ideen, aber auch sie
bleiben zumeist unkonkret. Strukturelle Fragen werden im NIP weitgehend
ausgespart. Gerade strukturelle gesellschaftliche Integrationshindernisse müs-
sen aber in den Blick genommen werden. Damit es gelingt, Integration zu be-
fördern und gleichberechtigte Teilhabe für alle Bewohnerinnen und Bewohner
sicherzustellen, dürfen Fragen der politischen Partizipation und der Gesetz-
gebung nicht ausgeschlossen bleiben. Eine veränderte bzw. verbesserte Geset-
zeslage wird auch dazu beitragen, ein neues gesellschaftliches Klima der Aner-
kennung, Offenheit, Wertschätzung und Solidarität zu schaffen.

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