BT-Drucksache 16/6914

Deutschspracherwerb und Deutschprüfungen im Ausland im Zusammenhang der Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug

Vom 2. November 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/6914
16. Wahlperiode 02. 11. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Ulla Jelpke, Jan Korte, Wolfgang Neskovic
und der Fraktion DIE LINKE.

Deutschspracherwerb und Deutschprüfungen im Ausland im Zusammenhang der
Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug

Nach Inkrafttreten des EU-Richtlinienumsetzungsgesetzes ist entsprechend
der §§ 28 Abs. 1 Satz 5 und 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Aufenthaltsgesetzes
(AufenthG) der Nachzug von Ehegatten und Lebenspartnern/-partnerinnen aus
dem Ausland grundsätzlich vom Nachweis einfacher deutscher Sprachkennt-
nisse des Niveaus A 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens
(GER) abhängig. Von dieser Bestimmung ausgenommen sind unter anderem
Staatsangehörige bestimmter Länder (USA, Australien, Kanada, Japan usw.)
sowie Personen mit einem „erkennbar geringen Integrationsbedarf“, wovon
nach § 4 Abs. 2 der Integrationsverordnung insbesondere beim Vorliegen einer
(Fach-)Hochschulqualifikation ausgegangen wird.

Die Neuregelung des Spracherwerbs im Ausland zielt vor allem auf türkische
Staatsangehörige aus bildungs- und sozial schwachen Schichten ab, wie die Re-
de von Bundesminister des Innern Dr. Wolfgang Schäuble zur Vorstellung des
Kabinettsentwurfs verdeutlichte (vgl. Plenarprotokoll 16/90, 28. März 2007,
S. 9065). Von mehreren türkischen Verbänden wurde sie als diskriminierend
empfunden und als verfassungswidrige Ungleichbehandlung bezeichnet.

Nach Auffassung von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel und Staatsministerin
Dr. Maria Böhmer (beide CDU) sei zur Erreichung des Sprachniveaus A1 GER
lediglich der Erwerb von 200 bis 300 Wörtern in deutscher Sprache erforderlich
und diese Neuregelung deshalb zumutbar (Pressekonferenz zum Integrations-
gipfel vom 12. Juli 2007).

Nach dem Erfahrungsbericht der Bundesregierung zur Durchführung und Finan-
zierung der Integrationskurse (Bundestagsdrucksache 16/6043, S. 27) ist bei
einem durchschnittlichen bzw. langsamen Lerntempo das Ziel A1 GER in einem
deutschen Integrationskurs in 300 Unterrichtsstunden zu erreichen.

Bei Analphabetinnen und Analphabeten ist nach dem vorläufigen Konzept für
einen bundesweiten Alphabetisierungskurs des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge (S. 23) zur Erreichung dieses Ziels – wenn auch nicht in allen Fäl-
len – ein 600-stündiger Kursbesuch erforderlich.
Nach Einschätzungen deutscher Sprachlehrerinnen und Sprachlehrer können die
geforderten einfachen Sprachkenntnisse von Türkinnen und Türken im güns-
tigsten Fall (vorhandene Fremdsprachenkenntnisse) in einen zweimonatigen
Kurs, von Türkinnen und Türken ohne Fremdsprachenkenntnisse in einen vier-
bis sechsmonatigen oder im ungünstigsten Fall (Analphabetinnen und Analpha-

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beten) in einem ein bis zwei Jahre dauernden Unterricht erworben werden (vgl.
Frankfurter Rundschau vom 12. Juli 2007).

Die Sprachberaterin der Duisburger Ausländerbehörde, Marion Overhoff,
wiederum schätzt, dass Türkinnen und Türken mit einfacher Schulbildung
400 Kursstunden benötigen werden, um den geforderten Sprachtest bestehen zu
können (vgl. Frankfurter Rundschau vom 9. Oktober 2007).

All diese Angaben basieren offenkundig auf der Annahme, dass die Betroffenen
einen „Vollzeitkurs“ mit circa 25 Wochenstunden besuchen – was aber z. B. nur
in etwa der Hälfte aller Integrationskurse in der Bundesrepublik Deutschland der
Fall ist (vgl. Sachstandsbericht des Bundesministeriums des Innern zur Durch-
führung von Integrationskursen nach der Integrationskursverordnung vom
1. Oktober 2007, S. 19).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche ersten konkreten Erfahrungen hat die Bundesregierung hinsichtlich
der praktischen Umsetzung und Anwendung der Neuregelungen nach §§ 28
und 30 AufenthG, und welche Probleme bzw. welcher Änderungsbedarf ist
in welchen Ländern bzw. allgemein bereits ersichtlich geworden?

2. Wie viele Visa zum Ehegattennachzug wurden im 3. Quartal des Jahres 2007
insgesamt erteilt (bitte auch differenzieren nach den 15 Ländern, in denen die
meisten Visa zum Ehegattennachzug erteilt wurden, und jeweils die Ver-
gleichszahlen des 2. Quartals benennen)?

3. Wie viele Neueinreisende wurden 2005, 2006, im 1. Halbjahr 2007 zur Inte-
grationskursteilnahme verpflichtet (in absoluten Zahlen, in relativen Größen
zur Gesamtzahl, differenziert auch nach den 10 herkunftsstärksten Ländern)?

a) In wie vielen Fällen kamen die Verpflichteten dieser Aufforderung nicht
nach, und welches waren die Gründe hierfür (in absoluten Zahlen, in rela-
tiven Größen zur Gesamtzahl, differenziert auch nach den 10 herkunfts-
stärksten Ländern)?

b) Wie viele und welche Sanktionsmaßnahmen wurden daraufhin ergriffen
(in absoluten Zahlen, in relativen Größen zur Gesamtzahl, differenziert
auch nach den 10 herkunftsstärksten Ländern)?

4. Wieso wurden keine Übergangsbestimmungen für Fälle geschaffen, in denen
eine Visumsantragstellung vor Einführung der Sprachnachweispflicht er-
folgte?

a) Wie ist die derzeitige Rechtslage und Praxis in solchen Fallkonstella-
tionen?

b) Werden auch Visaanträge entgegengenommen und bearbeitet, wenn kein
Sprachzertifikat oder -nachweis erbracht wurde, jedoch zugleich unter
Hinweis auf eine mögliche Verfassungswidrigkeit der neuen Gesetzeslage
ausdrücklich eine Bearbeitung und Bescheidung erwünscht wird (wenn
nein, bitte begründen)?

c) Wie wird in solchen Konstellationen verfahren, in denen eine Einreise
noch unter den alten Bestimmungen erfolgte, in denen aber in der Bundes-
republik Deutschland nach den Hinweisen des Bundesministeriums des
Innern vom 2. Oktober 2007 (Randnummer 232) das Visum nicht in eine
Aufenthaltserlaubnis umgewandelt werden soll, wenn nicht die geforder-
ten Sprachkenntnisse nachgewiesen werden können?

Wird beispielsweise eine Fiktionsbescheinigung erteilt werden, oder dro-

hen Abschiebungsmaßnahmen?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/6914

5. Plant die Bundesregierung, in Hinblick auf die neuen sprachlichen Anforde-
rungen der §§ 28 und 30 AufenthG Sprachkurse im Ausland (insbesondere in
der Türkei, aber z. B. auch in Ländern mit einer besonders schlechten diesbe-
züglichen Angebotsstruktur) zu fördern, einzurichten und/oder zu finanzie-
ren, wenn ja, wie, wenn nein, warum nicht?

6. Wie ist die diesbezügliche Regelung, Praxis und Erfahrung der Niederlande,
auf die in diesem Zusammenhang häufig verwiesen wird, und was sieht die
beabsichtigte französische Regelung vor, um Menschen beim Spracherwerb
im Ausland zu helfen (werden z. B. Kurse im Ausland angeboten, wer trägt
die Kosten)?

7. Mit welchen Kosten rechnet die Bundesregierung schätzungsweise für einen
300- bzw. einen 600-stündigen Sprachkurs zusätzlich einer Zertifizierung
durch das Goethe-Institut über das Niveau A1 GER im Ausland bzw. in der
Türkei (durchschnittlich, bitte nach Kurs und Zertifizierung getrennt auffüh-
ren)?

a) Was wird die Betroffenen eine Sprachzertifizierung durch Lizenznehmer
bzw. Partnerorganisationen des Goethe-Instituts, bei denen die Anwesen-
heit von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Goethe-Instituts erforder-
lich ist, ungefähr kosten?

b) Welche Kosten werden mit einer Sprachprüfung durch die Botschaften für
die Betroffenen verbunden sein, falls weder Goethe-Institute noch Part-
nerorganisationen in einem Land zur Verfügung stehen?

c) Inwieweit hält die Bundesregierung diese Kosten, die zu den Kosten für
das Visumsverfahren, für den Umzug/die Einreise usw. noch hinzukom-
men, für verhältnismäßig und zumutbar in Hinblick darauf, dass diese
Kosten insbesondere bei sozial Schwächeren dazu führen könnten, dass
die Führung einer Ehe bzw. einer Lebensgemeinschaft be- oder sogar ver-
hindert wird?

8. Wieso hat die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der
Fraktion DIE LINKE. (vgl. Bundestagsdrucksache 16/6263, Antwort zu den
Fragen 13a und 13b behauptet, die Auswirkungen der Änderungen der Nach-
zugsregelungen durch Einführung von Sprachnachweisen als Einreisebe-
dingung seien bei den Haushaltsberechnungen zu den Integrationskursen
nicht berücksichtigt worden, wenn es im Gegensatz dazu in der Sachinfor-
mationen des Bundesministeriums des Innern vom 13. September 2007 zum
Kapitel 06 33 an das Mitglied des Bundestages, Roland Claus, als Antwort zu
der Frage 1d heißt: „Eine Prognose der Zuwanderungszahlen nach Inkraft-
treten der Neuregelungen zum Familiennachzug ist nicht möglich. Es wird
aber von einem Rückgang ausgegangen, der für die Prognose der Teilneh-
merzahlen bereits berücksichtigt wurde“?

9. Wie bewertet die Bundesregierung den Umstand, dass die Leiterin des
Goethe-Instituts in Ankara, Fr. Sabine Hagemann-Ünlüsoy, sich vom Gesetz-
geber „in eine diffizile Lage gebracht“ sieht, da das Institut jetzt schon von
ratsuchenden Familien umlagert sei, und ihre Erwartung eines „Ansturms“
von tausenden Prüflingen zum Ende des Jahres, dem das Goethe-Institut
„kaum gewachsen“ sei (vgl. Frankfurter Rundschau vom 9. Oktober 2007)?

Welche Maßnahmen oder Gesetzesänderungen plant sie, um diese Miss-
stände zu beheben?

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10. Kann die Bundesregierung die Auskunft in dem Bericht der „Frankfurter
Rundschau“ vom 9. Oktober 2007 bestätigen, wonach in ländlichen Regio-
nen der Türkei ein Sprachkursangebot fast gänzlich fehle, und

a) wenn ja, welche Konsequenzen zieht sie hieraus, wenn nein, welche
anders lautenden Kenntnisse liegen ihr vor;

b) ist die Lage in vielen anderen Ländern nicht eher noch schlechter einzu-
schätzen, da in der Türkei aufgrund der hohen Betroffenenzahlen und der
langen Einwanderungsgeschichte zwischen der Bundesrepublik Deutsch-
land und der Republik Türkei deutsche Sprachkurse noch am ehesten an
mehreren Orten angeboten werden könnten (welcher Qualität auch im-
mer) – und wenn ja, welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung
hieraus?

11. In welchen Ländern gibt es keine Goethe-Institute,

a) in welchen Ländern werden keine Sprachkurse von Goethe-Instituten
zum Erlernen von Deutschkenntnissen des Niveaus A1 GER angeboten;

b) in welchen Ländern werden keine Zertifizierungen des Sprachniveaus
A1 GER durch Goethe-Institute angeboten;

c) in welchen Ländern gibt es zudem auch keine anerkannten Lizenznehmer
bzw. Partnerorganisationen des Goethe-Instituts, die eine entsprechende
Sprachzertifizierung vornehmen könnten, so dass im Regelfall die Bot-
schaften selbst das erreichte Sprachniveau werden prüfen müssen?

12. Wird die Bundesregierung in Hinblick auf die Unverhältnismäßigkeit/Un-
zumutbarkeit/Unmöglichkeit eines Spracherwerbs (in angemessener Zeit)
Änderungen der Gesetzeslage oder der Umsetzungshinweise vornehmen in
Bezug auf

a) Menschen, die einen Sprachkurs nicht in zumutbarer Nähe erreichen
können, und welche diesbezüglichen finanziellen und zeitlichen Auf-
wendungen hält die Bundesregierung für zumutbar;

b) Menschen, die sich einen Sprachkurs aufgrund ihres Einkommens nicht
leisten können, und wie ist die derzeitige Praxis in Ländern, in denen die
ungefähren Kosten für den erforderlichen Sprachkurs in einem erkenn-
baren Missverhältnis zum Durchschnittsverdienst im jeweiligen Land
bzw. zum konkreten Verdienst des/der Betroffenen stehen (etwa: mehr
als ein (halbes) Monatsgehalt), bzw. in einer welchen Fallkonstellation
würde die Bundesregierung einen solchen Sprachnachweis aufgrund
unverhältnismäßiger Kosten für unzumutbar/verzichtbar halten?

13. Welche Internetangebote zum Erwerb des deutschen Sprachniveaus A1
GER gibt es für welche Sprachen, welche technischen Vorraussetzungen
müssen hierfür erfüllt sein, und wie lange benötigen Nicht-Deutsche durch-
schnittlich (wie lange benötigen Lernschwache/Analphabetinnen und An-
alphabeten), um mithilfe dieser Angebote die Voraussetzungen der §§ 28
und 30 AufenthG erfüllen zu können?

Wie hoch ist der (eigene) Internetzugang in Ländern wie z. B. Türkei,
Afghanistan, Russland, in afrikanischen Ländern, wie hoch ist er in diesen
Ländern in ländlichen Gebieten, und wie hoch ist er in Haushalten mit ge-
ringem Einkommen in diesen Ländern?

14. Welche Kassetten-Angebote zum Erwerb des deutschen Sprachniveaus A1
GER gibt es für welche Sprachen, was kosten sie, wie sind sie verfügbar,
und wie lange benötigen Nicht-Deutsche durchschnittlich (wie lange be-
nötigen Lernschwache/Analphabetinnen und Analphabeten), um mithilfe

dieser Angebote die Voraussetzungen der §§ 28 und 30 AufenthG erfüllen
zu können?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/6914

15. Bei welchen Sprachen geht die Bundesregierung aufgrund der Unterschied-
lichkeiten zur deutschen Sprache von einem erhöhten Lernaufwand zur Er-
reichung des Niveaus A1 GER aus, und mit welcher Begründung sieht die
Bundesregierung den Gleichbehandlungsgrundsatz gewahrt, wenn den
Sprecherinnen und Sprechern dieser Sprachen eine längere Trennung von
ihren Ehe- bzw. Lebenspartnerinnen und Lebenspartnern zugemutet wird?

16. Inwieweit ist für die Bundesregierung die Ungleichbehandlung gerechtfer-
tigt, die sich daraus ergibt, dass Ehe- oder Lebenspartnern/-partnerinnen mit
Lernschwächen oder solchen, die des Lesens und Schreibens nicht mächtig
sind, eine wesentlich längere Trennungszeit zugemutet wird als sprach-
begabten Menschen oder solchen, die zufälligerweise bereits über einfache
Deutschkenntnisse verfügen, oder solchen, die viel Geld für qualitativ hoch-
wertige Intensivkurse aufbringen können (in der Antwort bitte differenzie-
ren)?

17. Welche konkreten Erkrankungen oder Behinderungen können beispielhaft
dazu führen, dass vom Nachweis einfacher deutscher Sprachkenntnisse
beim Ehegattennachzug abgesehen wird?

Wieso wird in den Hinweisen des Bundesministeriums des Innern vom
2. Oktober 2007 zu den wesentlichen Änderungen durch das EU-Richt-
linienumsetzungsgesetz in Randnummer 209b ausgeführt, dass auch eine
solche Krankheit oder Behinderung als Härtefall anzuerkennen sei, die „ein
Erlernen an räumlich entferntem Goethe Institut“ unzumutbar erscheinen
lässt (etwa mangels behindertengerechter Infrastruktur) – und wieso gilt es
nicht gleichsam als anzuerkennender Härtefall, wenn Betroffene aufgrund
ihrer Wohnlage in abgelegenen Gebieten und/oder mangels Zeit (infolge
eigener Erwerbstätigkeit oder Mitarbeit auf dem Hof der Eltern usw.) und/
oder mangels Geld keinen Sprachkurs besuchen können?

18. Warum hält die Bundesregierung eine sich aus dem Erfordernis eines
Sprachnachweises ergebende faktische „Wartezeit“ von einigen Monaten
bis zu weit mehr als einem Jahr – je nach sozialer Lebenslage, Wohnort,
Infrastruktur, persönlicher Sprachbegabung usw. – für verfassungsgemäß

a) insbesondere auch in den Fällen, in denen eine fortgeschrittene Schwan-
gerschaft vorliegt und insofern das schnellstmögliche Zusammenkom-
men der Eltern aus nahe liegenden Gründen dringend erforderlich ist;

b) insbesondere auch in den Fällen, in denen ein gemeinsames Kind gerade
geboren wurde, d. h. in einer Lebensphase, in der nach der Rechtspre-
chung des Bundesverfassungsgerichts bereits eine kurzfristige, aufent-
haltsrechtlich bedingte Trennung des Kindes vom Vater verfassungswid-
rig sein kann, und in der einer Mutter der regelmäßige Besuch eines
Sprachkurses zudem kaum möglich sein dürfte?

19. Wird die Bundesregierung in Hinblick auf die Unverhältnismäßigkeit/Un-
zumutbarkeit/Unmöglichkeit eines Spracherwerbs (in angemessener Zeit)
Änderungen der Gesetzeslage oder der Umsetzungshinweise vornehmen in
Bezug auf

a) Analphabeten/Analphabetinnen,

b) Schwangere,

c) Mütter mit Babys bzw. Mütter oder Väter mit mehreren minderjährigen
Kindern,

d) vollzeit Berufstätige oder durch nicht entlohnte Arbeiten zeitlich erheb-
lich gebundene Personen
(bitte jeweils begründen)?

Drucksache 16/6914 – 6 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

20. Wieso hat die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der
Fraktion DIE LINKE. (vgl. Bundestagsdrucksache 16/6263, Antwort zu
den Fragen 10 und 10a) behauptet, sie könne keine „pauschalen Aussagen
zum Zeitbedarf für das Erlernen von Deutsch als Fremdsprache“ machen
(„pauschale Aussagen“ waren allerdings nicht erfragt worden), wenn solche
Aussagen in der Unterrichtung durch die Bundesregierung auf Bundestags-
drucksache 16/6043 z. B. auf der Seite 27 explizit, differenziert nach schnel-
lem, durchschnittlichem und langsamem Lerntempo getroffen werden, d. h.
ganz ähnlich wie dies in der genannten Kleinen Anfrage gefragt worden
war?

21. Warum erachtet die Bundesregierung den geforderten Nachweis von
Sprachkenntnissen auf dem Niveau A1 GER unter Maßgabe des Urteils des
Bundesverfassungsgerichts vom 12. Mai 1987 (2 BvR 1226/83), nach dem
der Rahmen zulässiger Zuzugsbegrenzungen bei einer dreijährigen Warte-
frist in Anbetracht des Schutz- und Fördergebots des Artikels 6 des
Grundgesetzes „erheblich überschritten“ sei, als verfassungsrechtlich zu-
lässig

a) insbesondere in solchen Fällen, in denen aufgrund von Lernschwächen
und/oder weil die Betroffenen (etwa aufgrund eigener Erwerbstätigkeit)
keinen Vollzeitkurs besuchen können, der Sprachkursbesuch zur Errei-
chung des geforderten Sprachniveaus über ein Jahr dauert;

b) insbesondere in Bezug auf Analphabeten/Analphabetinnen, bei denen im
Regelfall mit einem weit über einjährigen Sprachkursbesuch gerechnet
werden muss?

22. Welche weniger belastenden Maßnahmen zur Erreichung der vorgegebenen
Ziele der Nachzugsbeschränkung hat die Bundesregierung geprüft bzw. aus
welchen Gründen verworfen

a) in Bezug auf das vorgegebene Ziel der Bekämpfung von Zwangsheira-
ten;

b) in Bezug auf das vorgegebene Ziel einer Förderung der Integration;

c) und in welcher Weise hat sie die öffentlichen Interessen mit dem Schutz-
und Fördergebot des Artikels 6 des Grundgesetzes und den persönlichen
Interessen der Betroffenen gegeneinander abgewogen, wie dies vom
Bundesverfassungsgericht in dem o. g. Grundsatzurteil aus dem Jahre
1987 verlangt wurde?

23. Stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, dass es im Regelfall des
Ehegattennachzugs nicht um Zwangsverheiratungen geht (wenn nein,
warum nicht, und auf welche konkreten Erkenntnisse stützt sie sich dabei)?

a) Stimmt die Bundesregierung vor diesem Hintergrund der Auffassung zu,
dass die Bewertung der Verfassungsgemäßheit der Sprachanforderungen
als Nachzugsvoraussetzung vor allem an dem vorgegebenen Ziel der
„Förderung der Integration“ gemessen werden muss (wenn nein, warum
nicht)?

b) Weshalb ist die Bundesregierung der Auffassung, dass der Spracherwerb
im Ausland (und damit die Integration in der Bundesrepublik Deutsch-
land) besser gelingen und für die Betroffenen weniger belastend sein
könnte als der Spracherwerb in der Bundesrepublik Deutschland in
eigens hierfür eingerichteten Sprachkursen des Bundesamtes für Mi-
gration und Flüchtlinge – und stimmt sie der Auffassung zu, dass nur
unter dieser Bedingung die Beschränkung des Ehegattennachzugs in An-
betracht des Artikels 6 des Grundgesetzes überhaupt als verfassungs-

gemäß bewertet werden könnte (wenn nein, bitte begründen)?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/6914

c) Wie begründet die Bundesregierung das durch die Auslagerung des ers-
ten Spracherwerbs ins Ausland zum Ausdruck kommende Misstrauen in
die Qualität und Möglichkeiten der Integrationskurse in der Bundesrepu-
blik Deutschland?

24. Teilt die Bundesregierung die Bewertung, dass die mögliche positive
Wirkung einer Integrationskursteilnahme für tatsächlich zwangsverheirate-
te Frauen nicht im bloßen Spracherwerb liegt, sondern vor allem darin, dass
die Betroffenen hierdurch in Kontakt zur „deutschen Gesellschaft“, d. h. zu
anderen Migrantinnen und Migranten, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbei-
tern, Informationsmaterialien und Beratungsstellen kommen und in einem
deutschen Integrationskurs zudem bereits im Sprachunterricht Rechte von
Frauen und entsprechende Hilfsangebote thematisiert werden (wenn nein,
warum nicht)?

a) Welche Vorteile sieht sie vor diesem Hintergrund darin, wenn Zwangs-
verheiratete erste Sprachkenntnisse zunächst in ihrem Herkunftsland er-
werben müssen und dort mutmaßlich sehr viel mehr in patriarchale und
gewaltförmige Strukturen eingebunden bleiben und weniger Hilfsange-
bote erfahren, als dies in der Bundesrepublik Deutschland vermutlich der
Fall wäre?

b) Wie wirksam sind die neu eingeführten Zuzugsbeschränkungen als an-
gebliches Mittel gegen Zwangsverheiratungen, wenn die geforderten
Sprachkenntnisse so schnell angeeignet werden können, wie Vertrete-
rinnen und Vertreter der Bundesregierung in der Öffentlichkeit den Ein-
druck zu erwecken versuchen?

25. Inwieweit sieht die Bundesregierung einen Widerspruch darin, dass in den
Integrationskursen Migrantinnen über patriarchale und gewaltförmige
Strukturen aufgeklärt werden, um sich von diesen Verhältnissen emanzi-
pieren zu können, dann aber unter Umständen wegen des Bezugs von staat-
lichen Hilfeleistungen aufgrund der Rechtslage in genau diesen Verhältnis-
sen verbleiben (müssen), um nicht abgeschoben zu werden (vgl. taz vom
16. Oktober 2007)?

Berlin, den 30. Oktober 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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