BT-Drucksache 16/6635

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung -16/3655, 16/6634- Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechtsberatungsrechts

Vom 10. Oktober 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/6635
16. Wahlperiode 10. 10. 2007

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Jörn Wunderlich, Karin Binder, Dr. Gregor Gysi,
Oskar Lafontaine und der Fraktion DIE LINKE.

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
– Drucksachen 16/3655, 16/6634 –

Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechtsberatungsrechts

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Das mit dem vorgelegten Gesetzentwurf der Bundesregierung geplante
Außerkraftsetzen des aus dem Jahre 1935 stammenden Rechtsberatungs-
gesetzes ist ein längst überfälliger Schritt. Dabei wurde jedoch mit dem
neuen Rechtsdienstleistungsgesetz die Chance, ein neues Regelungsmodell
für rechtsberatende Tätigkeiten einzuführen, nicht genutzt. Als Verbotsge-
setz mit Erlaubnisvorbehalt schließt es nahtlos an die Regelungssystematik
des Rechtsberatungsgesetzes an, wenn es auch liberaler ausgestaltet wurde.
Damit werden die gesellschaftlichen Bedingungen nicht in erforderlichem
Maße berücksichtigt. Zwar wird zur Kenntnis genommen, dass eine zuneh-
mende Verrechtlichung nahezu aller Lebensbereiche erfolgt. Die hieraus fol-
genden Schlüsse werden jedoch nicht gezogen.

2. Das Rechtsdienstleistungsgesetz will die Rechtsuchenden vor den oft weit
reichenden Folgen unqualifizierten Rechtsrats schützen und hierbei vor
allem die Belange des Verbraucherschutzes, aber auch den Schutz der
Rechtspflege sichern. Nur dann, wenn sonst Gemeinwohlbelange gefährdet
würden, denen die Zugangsschranken gerade zu dienen bestimmt sind, ist
nach dem Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfG, 1 BvR 780/87 v. 29. Okto-
ber 1997, NJW 1998, 3481 f.) auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen
gesetzlich festgelegter Berufe – wie der Anwaltschaft – Bedacht zu nehmen.
Die die Rechtsberatenden weniger belastenden Maßnahmen als das vollstän-
dige Verbot sind vorzuziehen, um den Schutzzwecken Geltung zu verleihen.
Der Gesetzentwurf beachtet die genannten Grundsätze leider nicht in dem
notwendigen Umfang.
3. Insbesondere das Verbot unentgeltlicher Rechtsberatung ist – wie die Verfas-
ser des Gesetzentwurfs auch feststellen – nicht zeitgemäß und steht mit dem
Gedanken von bürgerschaftlichem Engagement und zwischenmenschlicher
Hilfe nicht im Einklang. Der zunächst im Gesetzentwurf aufgestellte Grund-
satz der Erlaubnisfreiheit wird jedoch durch das Gesetz selbst ausgehebelt.
Denn der zunächst formulierte Grundsatz der Erlaubnisfreiheit der unent-

Drucksache 16/6635 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

geltlichen, altruistischen Rechtsberatung wird durch die geregelten Ein-
schränkungen in weitem Maße zurückgenommen und stellt sich im Ergebnis
eher als grundsätzliches Verbot mit Ausnahmen dar. Dies ist weder praxisge-
recht noch verbraucherfreundlich.

4. Unentgeltliche Rechtsberatung ist grundsätzlich und ohne weitere Voraus-
setzungen zu erlauben. Das Ziel des Schutzes der Rechtsratsuchenden vor
unqualifiziertem Rechtsrat erfordert im Bereich der unentgeltlichen Rechts-
beratung kein generelles Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. Die unentgeltliche
Rechtsberatung wurde in den Schutzbereich des Rechtsberatungsgesetzes
aus antisemitischen und nationalsozialistisch motivierten politischen Grün-
den aufgenommen. Ziele des Verbraucherschutzes waren nie Gründe der
Regulierung der altruistischen Rechtsberatung.

5. Die Ratsuchenden sind sich der Risiken einer aus Gefälligkeit erfolgenden
unentgeltlichen Tätigkeit bewusst und sind daher nicht so schutzbedürftig
wie bei der Erbringung einer entgeltlichen Dienstleistung. Dies gilt auch für
den Bereich der Beratung jenseits des Bekannten- und Familienkreises. Die
Anknüpfung an die persönliche Beziehung zwischen beratender und berate-
ner Person verkennt, dass auch in diesem Bereich vorrangig auf den Erwar-
tungshorizont und die Schutzbedürftigkeit der Beratenen und die Qualität
der Rechtsberatung abzustellen ist. Es gibt keinen Automatismus zwischen
Beratung außerhalb persönlicher Beziehungen und einer qualitativ schlech-
ten Beratung. Es fehlen jegliche rechtstatsächliche Untersuchungen, die dem
Gesetzentwurf zugrunde gelegt werden könnten. Missbrauchsfälle sind in
diesem Bereich nicht bekannt. Auch hier erheischt der Grundsatz, dass eine
aus Gefälligkeit oder anderen altruistischen Gründen erfolgende Beratung
beim Rechtsratsuchenden anders als anwaltliche Beratung wahrgenommen
wird, Geltung.

6. Individuelle, soziale und kulturelle Gründe für die Inanspruchnahme unent-
geltlicher Rechtsberatung durch private Organisationen sind als Ausdruck
freier Willensentscheidung grundsätzlich zu respektieren. Verbraucher-
schutz ist auch finanzieller Schutz, der im Einzelfall insbesondere durch
Beratungsstellen und uneigennützige Vereine effektiv vollzogen wird. Das
bürgerschaftliche Engagement, das von beratenden privaten Personen oder
Organisationen in diesem Bereich wahrgenommen wird, dient der Bereit-
stellung gesellschaftlich notwendiger Hilfe.

7. Die Beratungsstellen, z. B. für Arbeitslose, für Asylbewerberinnen und
Asylbewerber, Migrantinnen und Migranten, Studierende, Alleinerziehende
usw., aber auch Selbsthilfegruppen nehmen eine überragend wichtige Funk-
tion ein. Dabei geht es nicht nur um außergerichtliche Erstberatungen, die je
nach Bedarf und Willen von rechtsanwaltlicher Beratung flankiert werden
(müssen), sondern auch um soziale Funktionen gegenüber den gesellschaft-
lich oft ausgeschlossenen und sich selbst überlassenen Personen. Ein
Gesetzentwurf, der dieses freiwillige, notwendige und ehrenamtliche Enga-
gement anstatt zu fördern beschneiden will, genügt den sozialen Anforde-
rungen der Lebenswirklichkeit nicht.

8. Der Gesetzentwurf berücksichtigt vor allem nicht die zunehmende Verunsi-
cherung der Menschen im Umgang mit Behörden und Ämtern, in denen sich
gern hinter juristischen Formeln versteckt wird. In die Bewertung ist auch
einzubeziehen, dass die zum Großteil völlig überlasteten Gerichte als An-
laufpunkt für die Beratungshilfe (als prinzipielle Ausweichmöglichkeit für
Bedürftige) eine einschüchternde Wirkung auf hilfebedürftige Personen
haben können.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/6635

9. Die staatliche Beratungshilfe ist auszubauen, um eine Inanspruchnahme
privaten unentgeltlichen Rechtsrats für mittellose Personen nicht zu einem
Zwang werden zu lassen und um eine wirklich freie Entscheidung darüber,
ob keine anwaltschaftliche Beratung in Anspruch genommen werden soll,
zu ermöglichen. Es besteht dringender Bedarf, die Beratungshilfevoraus-
setzungen so zu verändern, dass die soziale Situation nicht letztlich zu
einem Diskriminierungsmerkmal beim Zugang zu berufsmäßig erbrachter
Rechtsdienstleistung führt. Den vermehrten gegenteiligen politischen An-
strengungen, den Zugang zu beruflicher Rechtsberatung ebenso wie zu den
Gerichten für sozial Bedürftige zu erschweren, muss entgegengewirkt wer-
den. Stattdessen bedarf es einer Besinnung auf die Grundsätze des sozialen
und demokratischen Rechtsstaats, der die vorhandenen Barrieren beim Zu-
gang zu Rechtsrat effektiv zu überwinden vorgibt.

10. Für die entgeltliche Rechtsberatung durch Verbraucherzentralen ebenso
wie für andere öffentliche oder öffentlich anerkannte Stellen dürfen Ein-
sparungen in den öffentlichen Haushalten keinesfalls mit einer Beschnei-
dung der – für die Verbraucherinnen und Verbraucher erforderlichen –
Rechtsberatungstätigkeit einhergehen. Dies geschieht jedoch im Gesetz-
entwurf durch die Voraussetzung ausreichender finanzieller Ausstattung.

11. Den privaten Trägern sozialer Einrichtungen, die gesellschaftlich notwen-
dige, durch verfehlte Privatisierungspolitik jedoch ausgelagerte Leistungen
erbringen, muss die Rechtsdienstleistung bei Vorhandensein entsprechen-
der qualitativer Voraussetzungen in gleichem Maße erlaubt sein wie den
staatlichen Stellen. Ansonsten ginge mit der verfehlten Privatisierungspoli-
tik noch ein Minus an Rechtsberatung der Betroffenen einher.

12. Der Entwurf eines Rechtsdienstleistungsgesetzes ermöglicht eine zukunfts-
offene Weiterentwicklung durch die Subsidiarität gegenüber spezialgesetz-
lichen Erlaubnissen der Rechtsberatung. In diesem Zusammenhang sieht
der Deutsche Bundestag das Erfordernis einer steten Überprüfung der
Ausgestaltung anderer Rechtsdienstleistungsberufe unterhalb der Rechts-
anwaltschaft insbesondere im Bereich der außergerichtlichen Rechtsbera-
tung, wie sie bisher aus Verbraucherschutzgesichtspunkten noch abgelehnt
wird.

13. Bei der gerichtlichen Rechtsberatungs- und -betreuungstätigkeit im Partei-
prozess ist eine freie Wahlmöglichkeit des Bevollmächtigten sicherzustel-
len. Die Möglichkeit des Ausschlusses gewählter Personen wegen Unzu-
verlässigkeit oder anderweitiger Ungeeignetheit durch das Gericht ist als
Ermessensvorschrift und überprüfbar auszugestalten, um willkürlicher Zu-
rückweisung missliebiger Personen im Einzelfall zu begegnen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. einen Gesetzentwurf vorzulegen, der

● die unentgeltliche Rechtsdienstleistung ohne weitere Voraussetzungen er-
laubnisfrei stellt;

● die freie Wahl der gerichtlichen Vertretung für die Fälle des Parteiprozes-
ses mit der überprüfbaren Möglichkeit des Ausschlusses ungeeigneter
Personen durch das Gericht regelt;

● allen Trägern sozialer Aufgaben, insbesondere im Rahmen der Durchfüh-
rung der Sozialgesetze, die entgeltliche Beratung ermöglicht;

2. die Angemessenheit der Voraussetzungen der Beratungshilfe zu evaluieren
und insbesondere zu prüfen, ob die Bevölkerung über die Möglichkeiten

nach dem Beratungshilfegesetz ausreichend informiert wird; darüber hinaus

Drucksache 16/6635 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
ist zu prüfen, ob die Rechtsanwaltschaft in allen Rechtsgebieten ausreichend
Kapazitäten für die Beratung zur Verfügung stellt; die jeweiligen Ergebnisse
sind dem Deutschen Bundestag in Berichtform vorzulegen;

3. ein Konzept für vermehrtes Engagement der Rechtsanwaltschaft zu ent-
wickeln, falls dies nach dem Bericht erforderlich erscheint;

4. geeignete Formen der flächendeckenden, sozial ausgewogenen außerge-
richtlichen Beratung, z. B. durch unparteiische öffentliche Beratungsstellen,
gemeinsam mit den Ländern zu entwickeln;

5. die Regulierungserforderlichkeit der entgeltlichen Rechtsberatung fortwäh-
rend zu prüfen; insbesondere sind die im Rechtsdienstleistungsgesetz statu-
ierten Voraussetzungen auf ihre Praktikabilität und ihren Nutzen für den
Verbraucherschutz zu untersuchen und hierbei auf gesellschaftliche Ent-
wicklungen einzustellen;

6. ein Konzept darüber vorzulegen, wie die umfassendere Einbeziehung von
Diplomjuristinnen und Diplomjuristen sowie Absolventinnen und Absol-
venten des 1. Staatsexamens in die entgeltliche außergerichtliche Rechts-
beratung ermöglicht werden kann;

7. Vorschläge zu unterbreiten, wie die Voraussetzungen der Prozesskostenhilfe
verändert werden können, um sozial schwächeren Personen – über das nach
der Rechtsprechung des BVerfG verfassungsrechtlich notwendige Maß hi-
naus – den völlig gleichen Zugang zu Gerichten zu ermöglichen.

Berlin, den 10. Oktober 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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