BT-Drucksache 16/6196

Abschiebungen von Flüchtlingen nach Afghanistan

Vom 6. August 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/6196
16. Wahlperiode 06. 08. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Ulla Jelpke, Jan Korte, Dr. Norman Paech
und der Fraktion DIE LINKE.

Abschiebungen von Flüchtlingen nach Afghanistan

Die Sicherheits- und Menschenrechtslage in Afghanistan hat sich auch 2006 und
2007 verschlechtert. 2006 starben allein durch Luftangriffe und Selbstmord-
attentate mindestens 1000 Zivilisten. Im Juni 2007 kamen bei Attentaten inner-
halb von fünf Tagen mehr als 200 Personen ums Leben. Rechtsstaatlichkeit und
Menschenrechte werden durch ineffiziente Regierungsstrukturen und die
Machtfülle regionaler Befehlshaber untergraben. Gewalt gegen Frauen ist nach
wie vor alltäglich (Amnesty International Deutschland „Jahresbericht 2007
Afghanistan“; Human Rights Watch „The Human Cost: The Consequences of
Insurgent Attacks in Afghanistan“, April 2007; taz vom 22. Juni 2007). Die Ver-
schlechterung der Sicherheitslage nimmt die Große Koalition zum Anlass, um
eine Ausweitung des deutschen Militäreinsatzes in Afghanistan zu befürworten
(Süddeutsche Zeitung vom 24. Juli 2007).

Die humanitäre Lage der Menschen und besonders die der Flüchtlinge in Afgha-
nistan verschlechtert sich zunehmend. Das Nachbarland Iran hat seit April 2007
mit der zwangsweisen Abschiebung von afghanischen Flüchtlingen begonnen.
Von April bis Juni 2007 sollen fast 100 000 unregistrierte und registrierte
Flüchtlinge ausgewiesen worden seien. Viele von ihnen leben in Afghanistan in
der Wüste mit völlig unzureichendem Zugang zu Wasser, Grundnahrungs-
mitteln und Wohnraum. Von der Ausweisung aus dem Iran sind insgesamt ca.
920 000 Menschen bedroht. Nach Angaben des UNHCR (United Nation High
Commissioner for Refugees) löste die zwangsweise Rückkehr der Flüchtlinge
aus dem Iran in Afghanistan erhebliche Spannungen aus (AFP vom 21. Mai
2007; Human Rights Watch „Iran: Halt Mass Deportation of Afghans“ Presse-
erklärung vom 19. Juni 2007).

Trotz der sich verschlechternden Situation wurden 2006 und 2007 die Abschie-
bungen von Flüchtlingen aus der Bundesrepublik Deutschland nach Afghanistan
fortgesetzt. Seit Beschluss der Innenministerkonferenz (IMK) vom 19. Novem-
ber 2004 sollten „mit Vorrang“ Personen afghanischer Staatsangehörigkeit, die
entweder zu einer Straftat von mehr als 50 Tagessätzen verurteilt worden sind
oder gegen die Hinweise bestehen, die Sicherheit der Bundesrepublik Deutsch-
land zu gefährden („Sicherheitsgefährder“) oder Personen, die sich als allein
stehende Männer noch keine sechs Jahre in der Bundesrepublik Deutschland
aufhalten, nach Afghanistan abgeschoben werden (vgl. Antwort der Bundes-

regierung auf die Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion DIE LINKE., Bundes-
tagsdrucksache 16/797 S. 2). Trotzdem wies der Flüchtlingsrat Nordrhein-West-
falens darauf hin, dass 2006 aus Nordrhein-Westfalen auch Familien nach
Afghanistan abgeschoben worden seien (http://www.fluechtlingsrat-nrw.de/
2521/index.html). Das Bundesland Hamburg hat erst aufgrund öffentlicher Pro-
teste am 13. März 2007 die Abschiebung von afghanischen Familien mit Kin-
dern für mindestens ein Jahr ausgesetzt (epd vom 13. März 2007).

Drucksache 16/6196 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Die Bundesregierung betont, dass grundsätzlich besonders schutzbedürftige
Personen wie alte und kranke Menschen, unbegleitete Kinder, allein stehende
Frauen und allein erziehende Mütter nicht nach Afghanistan abgeschoben wer-
den würden (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Bun-
destagsfraktion DIE LINKE., Bundestagsdrucksache 16/797 S. 4). Demgegen-
über wies Caritas international am 7. Mai 2007 darauf hin, dass das Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge in mehreren Fällen Abschiebungen von traumati-
sierten Flüchtlingen nach Afghanistan damit begründet habe, die deutsche Cari-
tas würde in Afghanistan Projekte für traumatisierte Menschen unterhalten.
Dr. Peter Neher, Präsident des Deutschen Caritasverbandes, sagte dazu: „Ab-
schiebungen mit der Begründung einer Versorgung in diesem Bereich vorzuneh-
men ist zynisch. Es gibt keine ausreichende Versorgung. Hier verkehrt sich unser
Engagement und wird missbraucht für eine Praxis, die wir ablehnen“. Caritas
international fordert den sofortigen Stopp von Abschiebungen afghanischer
Flüchtlinge (Presseerklärung der Caritas international vom 7. Mai 2007).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele ausreisepflichtige afghanische Staatsangehörige hielten sich zu den
Stichtagen 31. Dezember 2005, 31. Dezember 2006 und 30. Juni 2007 in der
Bundesrepublik Deutschland auf (bitte nach Bundesland und Geschlecht ge-
trennt angeben)?

2. Wie viele ausreisepflichtige afghanische Staatsangehörige haben zum Stich-
tag 30. Juni 2007 nach dem Bleiberechtsbeschluss der IMK vom 17. No-
vember 2006 eine Aufenthaltserlaubnis erhalten (bitte nach Bundesland und
Geschlecht getrennt angeben)?

Wie viele Anträge von afghanischen Staatsangehörigen wurden dagegen ab-
gelehnt?

Wie viele Personen afghanischer Staatsangehörigkeit erhielten eine Duldung
zur Arbeitsplatzsuche mit einer Gültigkeit bis zum 30. September 2007?

3. Wie viele ausreisepflichtige afghanische Staatsangehörige wurden seit Mai
2005 abgeschoben (bitte nach Bundesländern getrennt angeben)?

Wie viele davon waren

a) allein stehende Frauen,

b) nicht allein stehende Frauen,

c) allein erziehende Mütter oder Väter minderjähriger Kinder,

b) Familien,

c) traumatisierte Personen,

d) unbegleitete, minderjährige Jugendliche,

e) Personen über 60 Jahre?

4. Wie viele der seit Mai 2005 abgeschobenen Personen waren

a) afghanische Staatsangehörige, die wegen einer Straftat zu mehr als 50 Ta-
gessätzen verurteilt worden sind,

b) afghanische Staatsangehörige, gegen die Ausweisungsgründe vorlagen,

c) so genannte Gefährder, also Personen, bei denen Hinweise für eine die
Innere Sicherheit gefährdende Betätigung bestehen,

d) volljährige, allein stehende, männliche afghanische Staatsangehörige, die
sich bis November 2004 zum Zeitpunkt der Beschlussfassung der IMK
über die „Grundsätze zur Rückführung und weiteren Behandlung der
afghanische Flüchtlinge“ noch keine sechs Jahr in der Bundesrepublik
Deutschland aufgehalten haben (bitte nach Bundesland und Geschlecht

getrennt angeben)?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/6196

5. Wie viele Personen erhielten aufgrund der Bleiberechtsregelung der IMK
für Personen afghanischer Staatsangehörigkeit vom 19. November 2004
eine Aufenthaltserlaubnis auf der Grundlage des § 23 Abs. 1 AufenthG
(bitte nach Bundesland und Geschlecht getrennt angeben)?

6. Wie viele afghanische Staatsangehörige sind jeweils im Jahr 2005, 2006 und
2007 freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (bitte nach Jahren getrennt
angeben)?

7. Bei wie vielen Personen afghanischer Staatsangehörigkeit hat das Bundes-
amt für Migration und Flüchtlinge seit 2005 die Anerkennung als Asyl-
berechtigte/Asylberechtigter im Sinne von Artikel 16a GG bzw. die An-
erkennung als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention
widerrufen bzw. den subsidiären Schutzstatus zurückgenommen (bitte nach
Jahren und Geschlecht getrennt angeben)?

In wie vielen Fällen hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge von
einem Widerruf bzw. einer Rücknahme abgesehen?

8. Wie viele Personen afghanischer Staatsangehörigkeit hat das Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge als Asylberechtigte/Asylberechtigter im Sinne
von Artikel 16a GG bzw. als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlings-
konvention anerkannt?

Bei wie vielen Personen afghanischer Staatsangehörigkeit wurde von den
zuständigen Behörden ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 2 bis 7
AufenthG festgestellt (bitte nach Jahren und Geschlecht getrennt angeben)?

9. Wie vielen afghanischen Flüchtlingen wurde seit dem 10. Oktober 2006
eine Aufenthaltserlaubnis nach Artikel 15c i. V. m. Artikel 18 der Quali-
fikationsrichtlinie der Europäischen Union (Richtlinie 2004/83/EG des
Rates vom 29. April 2004) gewährt (bitte nach Geschlecht getrennt an-
geben)?

10. Inwiefern beabsichtigt das Bundesministerium des Innern dafür zu sorgen,
dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bei traumatisierten Per-
sonen eine Verlängerung des Aufenthaltes nicht mehr mit der Begründung
ablehnt, die medizinisch-psychologische Betreuung sei in Afghanistan
durch Hilfsprojekte gesichert?

11. Inwiefern beabsichtigt die Bundesregierung dafür zu sorgen, dass die Bun-
desländer keine Personen mehr abschieben, die zu den besonders schutz-
bedürftigen Gruppen gehören (vgl. Stellungnahme des UNHCR vom Mai
2006 „Humanitäre Erwägungen im Zusammenhang mit der Rückkehr nach
Afghanistan“)?

12. Inwiefern beabsichtigt die Bundesregierung dafür zu sorgen, dass die Bun-
desländer keine Familien mit Kindern mehr nach Afghanistan abschieben?

Berlin, den 2. August 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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