BT-Drucksache 16/6086

Bundesdeutscher Umgang mit "erased people" aus Slowenien

Vom 17. Juli 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/6086
16. Wahlperiode 17. 07. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Petra Pau, Sevim Dag˘delen, Ulla Jelpke, Dr. Hakki Keskin,
Jan Korte, Dr. Norman Paech und der Fraktion DIE LINKE.

Bundesdeutscher Umgang mit „erased people“ aus Slowenien

Mit einer „urgent action“ setzte sich amnesty international am 11. November
2005 dafür ein, die drohende Abschiebung der Familie B. von Slowenien nach
Deutschland und von dort weiter nach Kosovo zu verhindern (UA-Nr: UA-287/
2005, AI-Index: EUR 68/003/2005). Am 1. Februar 2007 wurden Herr A. B.,
seine Frau und deren vier minderjährige Kinder dessen ungeachtet zwangsweise
von Slowenien nach Deutschland verbracht. Im Kosovo drohen den Betroffe-
nen, die Minderheitenangehörige sind (Roma bzw. Ashkali/„Ägypter“), erheb-
liche Gefahren.

A. B. wurde im früheren Jugoslawien geboren, im Kosovo. Zwischen 1987 und
1992 verfügte er über ein Dauerwohnrecht im heutigen Slowenien. Im Jahr 1992
gehörte er zu einer Gruppe von etwa 18 305 Personen, deren Namen aus dem
Einwohnerregister gestrichen wurden („erased people“) und denen dadurch das
Dauerwohnrecht und der Zugang zum Arbeitsmarkt und zur Gesundheitsversor-
gung in Slowenien entzogen wurde. 1993 wurde Herr B. ohne Angabe von
Gründen von Slowenien nach Albanien abgeschoben. Die albanischen Behör-
den schickten ihn zurück. Daraufhin zog A. B. nach Deutschland und stellte
einen Asylantrag. Hier lernte er seine spätere Ehefrau kennen, die gemeinsamen
vier Kinder sind alle nach 1997 in Deutschland geboren. Der Asylantrag wurde
abgelehnt, 2005 erhielt Herr B. den Bescheid, er werde in den Kosovo abgescho-
ben. Daraufhin kehrte er 2005 „freiwillig“ mit seiner Familie nach Slowenien
zurück, um der Abschiebung in den Kosovo zu entgehen.

Viele der aus dem slowenischen Melderegister Gestrichenen leben „illegal“ als
„Ausländer“ oder Staatenlose in Slowenien, andere verließen das Land. Im Jahr
1999 und erneut im April 2003 entschied das Verfassungsgericht Sloweniens,
dass die Streichung von Bürgern und Bürgerinnen aus dem Einwohnerregister
rechtswidrig sei und wies die slowenischen Behörden an, den Betroffenen wie-
der ein Dauerwohnrecht zu gewähren. 2003 erließ der slowenische Innenminis-
ter rund 4 100 Bescheide, mit denen rückwirkend das Dauerwohnrecht erteilt
wurde. Im Juli 2004 stellten die Behörden die Ausstellung dieser Bescheide
jedoch ein.

Auch dem Antrag von A. B. auf Feststellung seines Dauerwohnrechts wurde

nach seiner Rückkehr aus Deutschland nicht entsprochen. Stattdessen ordnete
der Innenminister im Herbst 2005 die „Rückführung“ nach Deutschland an, was
jedoch vom Verwaltungsgericht in Ljubljana als rechtswidrig erachtet wurde. Im
November 2006 wurde die Familie in ein Internierungslager (Postojna) ver-
bracht und in zweiter Gerichtsinstanz wurde die Abschiebung nach Deutschland
von einem slowenischen Gericht dann doch noch genehmigt – eine Verfassungs-
beschwerde gegen diese Entscheidung wurde eingelegt.

Drucksache 16/6086 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Seit dem 4. Juli 2006 ist unter dem Az. 26828/06 „Makuc & 10 others v. Slo-
venia“ (Herr B. ist einer der Kläger) eine Klage beim Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte anhängig, die als eilbedürftig angenommen wurde.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Ist der Bundesregierung die in der Vorbemerkung dargelegte Problematik
der „erased people“ (aus Slowenien bzw. aus anderen Republiken des ehe-
maligen Jugoslawien) bekannt, und wenn ja, was kann sie über das in der
Vorbemerkung Ausgeführte hinaus berichten?

2. Wie ist der behördliche und rechtliche Umgang in Deutschland mit „erased
people“ (aus Slowenien bzw. aus anderen Republiken des ehemaligen
Jugoslawien), gab es ausländerrechtliche oder politische Sonderregelungen,
Absprachen mit den jeweiligen Herkunftsländern, Gerichtsentscheidungen
zum Thema, und wenn ja, welche?

3. Welche Zahlen oder Schätzungen zur Zahl der Betroffenen, die in Deutsch-
land um Schutz nachgesucht haben oder geduldet wurden, gibt es?

4. Unter welchen Bedingungen müssen die Betroffenen nach Auffassung der
Bundesregierung als staatenlos angesehen werden, und welche Rechte stün-
den ihnen infolgedessen in Deutschland bzw. in Slowenien oder in anderen
Herkunftsländern zu?

5. Ist der Bundesregierung der in der Vorbemerkung benannte Einzelfall des
A. B. und seiner Familie bekannt, und wenn ja, wie bewertet sie diesen?

6. Kann die zweifache Abschiebung des Betroffenen aus Slowenien eine Asyl-
Anerkennung, eine Anerkennung nach der GFK, die Gewährung subsidi-
ären Schutzes oder die Erteilung einer Duldung oder einer Aufenthalts-
erlaubnis aus anderen Gründen in Deutschland rechtfertigen (bitte begrün-
den)?

7. Ist eine Abschiebung der Familie in den Kosovo beabsichtigt, und wenn ja,
wie wird dies angesichts der Einzelfallumstände begründet?

8. Ist es zutreffend, dass die deutsche Botschaft in Ljubljana Ende 2005 durch
(italienische) Abgeordnete des Europäischen Parlaments auf den Fall des
A. B. aufmerksam gemacht und auf seine drohende Abschiebung nach
Deutschland hingewiesen wurde?

Wenn ja, was veranlasste die Deutsche Botschaft bzw. was taten andere
deutsche Behörden aufgrund dieser Information?

9. Mit welcher Begründung wurde von einem slowenischen Gericht letztlich
entschieden, dass die Abschiebung von A. B. nach Deutschland rechtens
sei – und wie ist diese Entscheidung vereinbar mit

a) den Entscheidungen des slowenischen Verfassungsgerichts,

b) der EMRK,

c) völkerrechtlichen Vereinbarungen zum Umgang mit Staatenlosen,

d) der Dublin-II-Verordnung?

10. Ist es zutreffend, dass die deutsche Übernahmeerklärung im Fall B. unter
dem Vorbehalt stand, dass der Asylantrag des Betroffenen in Slowenien
nicht schriftlich zurückgezogen worden sei, und wenn ja, wie werden sich
die deutschen Behörden verhalten, wenn sich die Angabe von Herrn B., dass
er seinen Asylantrag am 6. November 2006 und ein zweites Mal direkt vor
seiner Abschiebung nach Deutschland zurückgenommen habe, als zutref-

fend herausstellt?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/6086

11. Wird die Bundesregierung, gegebenenfalls auch im Rahmen ihrer EU-
Ratspräsidentschaft, mit Slowenien in Kontakt treten, um auf eine Lösung
für die Familie B. bzw. eine Lösung der Gesamtproblematik der „erased
people“ zu drängen?

Wenn ja, welche Lösung wird die Bundesregierung anstreben, wenn nein,
warum nicht?

12. Werden die deutschen Behörden insbesondere von aufenthaltsbeendenden
Maßnahmen absehen, bis der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
über den Fall des Herrn B. bzw. über die Gesamtproblematik entschieden
hat, wenn nein, warum nicht?

13. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die aktuelle Situation,
sowohl in Bezug auf „erased people“ im Allgemeinen als auch auf Herrn B.
und seine Familie im Besonderen?

Berlin, den 17. Juli 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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