BT-Drucksache 16/5248

Irakische Flüchtlinge in die EU aufnehmen - In Deutschland lebende Irakerinnen und Iraker vor Abschiebung schützen

Vom 9. Mai 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5248
16. Wahlperiode 09. 05. 2007

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau, Sevim Dag˘delen, Jan Korte, Wolfgang
Neskovic, Kersten Naumann und der Fraktion DIE LINKE.

Irakische Flüchtlinge in die EU aufnehmen – In Deutschland lebende
Irakerinnen und Iraker vor Abschiebung schützen

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich gegenüber den Bundesländern für eine Aussetzung aller Abschiebungen
von Flüchtlingen aus Irak gemäß § 60a Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (Auf-
enthG) einzusetzen und auf die Rücknahme von Abschiebungsandrohungen
gegen irakische Staatsangehörige und Staatenlose aus dem Irak zu drängen;

2. den Bundesminister des Innern zu beauftragen, sein Einverständnis gegen-
über den Bundesländern für eine Aufenthaltsgewährung aus humanitären
Gründen nach § 23 Abs. 1 AufenthG für Flüchtlinge aus dem Irak zu erklären
und sich für entsprechende Regelungen einzusetzen;

3. durch entsprechende Auslegungshinweise klarzustellen, dass Artikel 15c der
„EU-Qualifikationsrichtline“ (2004/83/EG) auch bei allgemeinen Gefahren
gilt, wenn Zivilpersonen eine ernsthafte individuelle Bedrohung infolge will-
kürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen
Konflikts droht, wie es derzeit im Irak regelmäßig der Fall ist;

4. den Bundesminister des Innern zu beauftragen, dafür zu sorgen, dass das
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Einklang mit den Bestimmun-
gen der Genfer Flüchtlingskonvention und den Empfehlungen des UNHCR
bis zur effektiven und dauerhaften Stabilisierung der allgemeinen Verhält-
nisse im Irak keine Widerrufe von Asyl- und Flüchtlingsanerkennungen von
Personen aus dem Irak aufgrund geänderter Verhältnisse im Herkunftsland
vornimmt;

5. sich im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft und auch darüber hinaus auf
europäischer Ebene im Sinne der Entschließung des Europäischen Parla-
ments P6_TA-PROV(2007)0056 für die Aufnahme besonders schutzbedürf-
tiger irakischer Flüchtlinge einzusetzen, insbesondere der dort genannten
staatenlosen Palästinenserinnen und Palästinenser aus dem Irak und Mitglie-
der der besonderes bedrohten religiösen und ethnischen Minderheiten;
6. sich im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft gegenüber den anderen EU-
Mitgliedstaaten dafür einzusetzen, irakischen Flüchtlingen an den EU-Außen-
grenzen Zugang zu Schutz zu gewähren und sie nicht abzuweisen;

7. sich im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft gegenüber den anderen EU-
Mitgliedstaaten für ein gemeinsames „Resettlement“-Programm einzusetzen,
wie es bereits in der Kommissionsmitteilung KOM (2004) 410 endg. (Nr. 8)

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vorgeschlagen und vom UNHCR in seiner Stellungnahme vom 30. April
2004 zu dieser Mitteilung begrüßt wurde;

8. solange keine zügige Aufnahmeregelung auf europäischer Ebene realisierbar
ist sich ebenso wie Schweden, Dänemark, Finnland, die Niederlande, Groß-
britannien und Irland auf nationalstaatlicher Ebene an den Resettlement-Pro-
grammen des UNHCR zu beteiligen und großzügige Aufnahmequoten für
besonders schutzbedürftige irakische Flüchtlinge zur Entlastung der überfor-
derten direkten Nachbarstaaten des Irak zu benennen.

Berlin, den 8. Mai 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Seit dem offiziell proklamierten Ende des Irakkrieges vor vier Jahren wurden
insgesamt vier Millionen Irakerinnen und Iraker in die Flucht gezwungen.
1,9 Millionen befinden sich noch im Irak selbst und haben in einem anderen Teil
des Landes Zuflucht gesucht, allein im Jahr 2006 erhöhte sich die Zahl der intern
Vertriebenen um 700 000 Menschen. Weitere zwei Millionen irakische Staats-
angehörige haben vor allem in der Region Zuflucht gefunden, eine Millionen in
Syrien, 750 000 in Jordanien. Die Flüchtlinge leben dort unter miserablen Be-
dingungen, die vom UN-Flüchtlingshilfswerk und anderen karitativen Organi-
sationen aufgrund ihrer Mittelknappheit nur ungenügend verbessert werden
können. Der UNHCR hat daher am 17. und 18. April 2007 zu einer internatio-
nalen Konferenz eingeladen, um die internationale Hilfe zu koordinieren und
insbesondere die EU-Staaten und die USA zu mehr Hilfen zu bewegen. Die oben
genannten Zahlen sind ein Beleg für die Scheinheiligkeit eines Standard-Argu-
ments zur Begründung der europäischen Abschottungspolitik, dass nämlich
Flüchtlinge zunächst im Land selbst und dann in der unmittelbaren Herkunfts-
region um Schutz nachsuchen sollen. Dies geschieht ohnehin seit jeher, und
zwar mit erheblichen Folgen für die ökonomisch und politisch bereits durch den
Krieg destabilisierten Nachbarländer.

Entgegen den Aufrufen von Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl oder
Amnesty International, mehr Flüchtlinge aus dem Irak aufzunehmen, betreibt die
Bundesrepublik Deutschland eine Politik des massiven Widerrufs bereits
gewährten Schutzes und der Abschiebung irakischer Flüchtlinge. Über 11 000
Irakerinnen und Iraker, deren Flüchtlingsstatus widerrufen worden ist, lebten im
Juni 2006 mit einer Abschiebungsandrohung in Deutschland. Seit dem Jahr
2000 wurden fast 20 000 Asyl- oder Flüchtlingsanerkennungen irakischer
Staatsangehöriger widerrufen. Da eine Abschiebung aus tatsächlichen oder
rechtlichen Gründen meist nicht möglich ist, fallen die meisten der Betroffenen
in den weitgehend rechtlosen Status der Duldung. Demgegenüber erhielten im
Jahr 2006 lediglich 189 Irakerinnen und Iraker einen Schutzstatus in Deutsch-
land, rund 2 100 irakische Staatsangehörige hatten nach Angaben von Pro Asyl
einen entsprechenden Antrag gestellt.

Von einigen Ausnahmen abgesehen haben sich EU-Mitgliedstaaten bisher kaum
an Aufnahmeprogrammen irakischer Flüchtlinge zur Entlastung der überforder-
ten Anrainerstaaten beteiligt. Insgesamt haben 2006 nur 20 000 Irakerinnen und
Iraker das Territorium der EU erreicht, Schweden hat allein 9 000 dieser Flücht-

linge aufgenommen und auf der Tagung der EU-Innen- und Justizminister im
Dezember 2006 eine solidarische Unterstützung der EU-Mitgliedstaaten einge-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/5248

fordert. „Solidarität“ wird in der EU in Migrationsfragen bislang jedoch ledig-
lich bei der Unterstützung im Rahmen der Grenzabwehr von Flüchtlingen und
irregulären Migrantinnen und Migranten eingefordert. Den Aufrufen etwa des
UNHCR zu einer Beteiligung an Programmen zur Neuansiedlung von Flüchtlin-
gen aus überforderten Erstaufnahmeländern als dauerhafte Lösung und als
Beitrag zur Lastenteilung im internationalen Flüchtlingsschutz hat sich die EU
entgegen anders lautender programmatischer Erklärungen bislang verweigert,
obwohl die Zahl der Schutzgesuche in der EU seit Jahren massiv zurückgegan-
gen ist.

Zu den besonders von Flucht und Verfolgung betroffenen Personen im Irak ge-
hören ca. 15 000 staatenlose Palästinenserinnen und Palästinenser, die unter dem
Regime Saddam Husseins besonderen Schutz genossen. Sie können nicht in die
angrenzenden Staaten fliehen, da sie keine Passpapiere besitzen. Viele Palästi-
nenserinnen und Palästinenser aus dem Irak halten sich im irakisch-syrischen
Grenzgebiet auf. Eine Einreise nach Syrien ist für sie nicht möglich, und im Irak
steht ihnen keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung, da sie von vielen
politischen und religiösen Gruppen als „Kollaborateure“ und „Profiteure“ des
früheren Regimes angesehen werden. Weitere Minderheiten wie die Christen im
Norden des Irak müssen ebenfalls verstärkt mit Angriffen rechnen, bei einer
weiteren Ausweitung von Anschlägen und Pogromen gegen religiöse bzw.
ethnische Minderheiten im Nordirak steht ihnen ebenfalls keine inländische
Fluchtalternative zur Verfügung. Artikel 15c der EU-Qualifikationsrichtlinie
zum subsidiären Schutz bei drohender willkürlicher Gewalt aufgrund von Krieg
und Bürgerkrieg ist ohne unzulässige Einschränkungen wegen der allgemeinen
Gefahrenlage (so aber die Hinweise des Bundesinnenministeriums zur Umset-
zung der Richtlinie vom 13. Oktober 2006) auf Schutzsuchende aus dem Irak in-
dividuell anzuwenden.

Gerade vor dem Hintergrund der direkten und indirekten Beteiligung vieler EU-
Staaten am Irakkrieg und dem daraus folgenden Zusammenbruch jeglicher
durchsetzungsfähiger staatlicher Strukturen im Irak steht die EU bei der Auf-
nahme von Flüchtlingen aus diesem Land in einer besonderen Verantwortung
und Verpflichtung.

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