BT-Drucksache 16/5184

Vielfalt der Lebensweisen anerkennen und rechtliche Gleichbehandlung homosexueller Paare sicherstellen

Vom 27. April 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5184
16. Wahlperiode 27. 04. 2007

Antrag
der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Martina Bunge, Sevim Dag˘delen,
Diana Golze, Ulla Jelpke, Katja Kipping, Jan Korte, Kersten Naumann, Petra Pau,
Elke Reinke, Dr. Kirsten Tackmann, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Vielfalt der Lebensweisen anerkennen und rechtliche Gleichbehandlung
homosexueller Paare sicherstellen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die gesellschaftliche Realität unterliegt im Hinblick auf das Zusammen-
leben, die Familienformen und Lebensweisen einem stetigen Wandel. Die
Ehe ist in der sozialen Wirklichkeit nicht die hegemoniale Lebensform. Sie
hat einen allgemeinen Bedeutungsrückgang erfahren; stattdessen steigt die
Zahl der Paare ohne „Trauschein“, der „Patchworkfamilien“ und Allein-
erziehenden seit Jahrzehnten an. Gleichzeitig belegen die Scheidungszahlen,
dass die lebenslange Ehe heute nicht mehr der Regelfall ist. Die Vielfalt der
Lebensweisen, auch im Lebensverlauf der einzelnen Individuen, ist inzwi-
schen zum Alltag geworden. Die derzeitige rechtliche Privilegierung der
Ehe gegenüber allen anderen Lebensweisen in den verschiedensten Rechts-
gebieten ist angesichts der gelebten Vielfalt immer weniger zu rechtfertigen.
Gleichzeitig werden Paarbeziehungen und Familien, besonders im Bereich
des Sozialrechts, immer stärker als Ressource zur Entlastung des Sozial-
staats wahrgenommen, die Vielfalt der Lebensweisen in „Bedarfsgemein-
schaften“ zusammengefasst und die Rechtspositionen der Betroffenen ein-
geschränkt. Erforderlich sind verbesserte Rechte für Paare ohne „Trau-
schein“ und Wohngemeinschaften und die Ermöglichung von rechtlichen
Gestaltungsoptionen privater Beziehungen nach den Vorstellungen der Men-
schen – unabhängig von Rechtsinstituten wie Ehe und Lebenspartnerschaft
und/oder biologischen Verwandtschaftsbeziehungen.

2. Die Schaffung des Instituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft ermög-
lichte homosexuellen Menschen zwar erstmals das Eingehen einer rechts-
verbindlichen Partnerschaft. Gleichzeitig wurden die Unterscheidung ge-
genüber der Ehe weiter aufrechterhalten und die notwendige Modernisie-
rung des Familienrechts durch Entprivilegierung der Ehe und Anerkennung
und rechtliche Gleichbehandlung und individuelle rechtliche Gestaltbarkeit

der Lebensweisen nicht eingeleitet. Aus diesem Grund traf die Einführung
der eingetragenen Lebenspartnerschaft nicht nur auf Zustimmung: denn
durch die Einführung eines zweiten, der Ehe weitgehend nachgebildeten
Rechtsinstituts, wird kein Beitrag zur Entprivilegierung der Ehe geleistet,
sondern ihre Hegemonie weiter zementiert. Zwar wurden durch das Institut
der eingetragenen Lebenspartnerschaft ein Stück mehr Rechtssicherheit und
Gestaltungsmöglichkeiten für homosexuelle Paare geschaffen. Dies geschah

Drucksache 16/5184 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

aber nur halbherzig, denn der weitgehenden Angleichung der gegenseitigen
Pflichten von eingetragenen Lebenspartnern und Lebenspartnerinnen und
Eheleuten ist bis heute nicht die rechtliche Gleichbehandlung gefolgt. Im-
mer noch bleiben eingetragene Lebenspartner und Lebenspartnerinnen von
Rechten der Eheleute in den verschiedensten Rechtsbereichen ausgeschlos-
sen. Dies gilt zum Beispiel für das Verfahren bei Eheschließung sowie im
Einkommensteuer-, Schenkung- und Erbschaftsteuerrecht. Anders als Ehe-
leute können eingetragene Lebenspartner und Lebenspartnerinnen nicht ge-
meinsam Kinder adoptieren. Die Bundesregierung ist im Zusammenhang
mit der unterschiedlichen Behandlung homosexueller Lebenspartner gegen-
über heterosexuellen Ehepartnern bei der Beamtenbeihilfe sogar der Auf-
fassung, dass der Unterschied zwischen dem Familienstand „verheiratet“
und dem Familienstand „Eingetragene Lebenspartnerschaft“ unterschied-
liche Rechtsfolgen rechtfertige (siehe Bundestagsdrucksache 16/3259, S. 3).
Diese Ungleichbehandlung ist nicht länger hinzunehmen und bedeutet eine
weitere ungerechtfertigte Privilegierung der Ehe. Mit Hilfe des Rechts wird
so ein Bild heterosexueller Familien und Partnerschaften aufrechterhalten,
welches mit der Lebensrealität der Menschen immer weniger zu tun hat.
Eine Gleichbehandlung hetero- und homosexueller Paare in den Pflichten
hat zudem längst stattgefunden. Eine Aufrechterhaltung der rechtlich ver-
ankerten Benachteiligung gegenüber der Ehe ist vor diesem Hintergrund
umgehend zu beseitigen.

Die Gleichberechtigung der Lebensweisen ist aber mit einer Gleichbehand-
lung von Ehe und Lebenspartnerschaft noch nicht erreicht. Denn es existie-
ren eine Vielzahl von Lebensweisen und Familienformen, für die die Ehe-
schließung oder die Eingehung einer Eingetragenen Lebenspartnerschaft
nicht in Frage kommt: Einelternfamilien, Singles, zusammenlebende
Freunde, Verwandte, Patchworkfamilien oder Paare, die sich gegen Ehe und
Lebenspartnerschaft entschieden haben. Deshalb kann die Gleichbehand-
lung von Ehe und Lebenspartnerschaft nur ein erster Schritt auf dem Weg zu
einer umfassenden Lebensweisenpolitik sein, in der die Gleichbehandlung
aller Lebensweisen leitendes Prinzip ist.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. unverzüglich ein Gesetz vorzulegen, welches Ehe und Eingetragene Lebens-
partnerschaft in allen Bereichen des Rechts gleichstellt. Diese umfassen das
Einkommen-, Schenkung- und Erbschaftsteuerrecht, das Beamtenrecht, das
Sozialrecht und das Adoptionsrecht. Ehe und Lebenspartnerschaft sollen
künftig beim Standesamt geschlossen werden;

2. ein Konzept zu entwickeln, wie der Vielfalt der Lebensweisen durch eine
Entprivilegierung der Ehe und der Begründung neuer Gestaltungsmöglich-
keiten für alle Lebensweisen Rechnung getragen werden kann. In diesem
Zusammenhang sollen die Möglichkeiten einer Umgestaltung von Artikel 6
Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) erneut geprüft und debattiert werden.

Berlin, den 26. April 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/5184

Begründung

I.

1. Die Zahl der „nichtehelichen“ Lebensgemeinschaften ist seit 1996 um
29,6 Prozent angestiegen (WSI-FrauenDatenReport 2005, S. 46). Vor allem
im Osten Deutschlands ist die Zahl der Ehepaare mit Kindern deutlich
rückläufig (ebd., S. 46). Auch die Lebensform von Paaren mit getrennten
Haushalten („living apart together“) gewinnt an Bedeutung. Eine sehr häu-
fige Lebensform, besonders von Frauen und in Ostdeutschland, ist die Ein-
elternfamilie. 2003 lebten 2,5 Millionen Alleinerziehende in Deutschland,
84,1 Prozent davon Frauen (ebd., S. 48). Im Jahr 2004 betrug der Anteil der
Alleinerziehenden an allen Familien bundesweit 20 Prozent, in Ostdeutsch-
land lag er mit 25 Prozent sogar noch deutlich höher (Leben und Arbeiten in
Deutschland, Sonderheft 1: Familien und Lebensformen – Ergebnisse des
Mikrozensus 1996 bis 2004, S. 26). Die Scheidungszahlen sind seit Jahren
nahezu kontinuierlich gestiegen und liegen derzeit bei 2,59 Scheidungen je
1 000 Einwohnerinnen und Einwohner (Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend, Gender-Datenreport 2005, S. 255). Trotz
dieses Befundes wird die Ehe rechtlich gesehen weiterhin privilegiert.

2. Die ungleiche Behandlung von Ehe und Lebenspartnerschaft findet in ver-
schiedenen Rechtsbereichen statt. Eingetragene Lebenspartner und Lebens-
partnerinnen können zum Beispiel im Einkommensteuerrecht nicht die Zu-
sammenveranlagung wählen, nicht gemeinsam Kinder adoptieren, erfahren
Benachteiligungen gegenüber Eheleuten im Beamtenrecht und profitieren
nicht von Freibeträgen im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht.

Die Gleichbehandlung in den Pflichten wurde auch in der 16. Legislatur-
periode durch die Bundesregierung weiter vorangetrieben – unabhängig da-
von, ob eine rechtlich verbindliche Partnerschaft überhaupt eingegangen
wurde. Denn homosexuelle Paare ohne „Trauschein“ werden seit dem
„Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende“ im
Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) „eheähnlichen“ heterosexuellen
Paaren gleichgestellt – sie gelten ebenfalls als „Bedarfsgemeinschaft“ im
Sinne des § 7 SGB II.

II.

1. Ehe und Lebenspartnerschaft rechtlich umfassend gleichzustellen, ist poli-
tisch geboten. Auch verfassungsrechtlich gebietet der allgemeine Gleich-
behandlungsgrundsatz (Artikel 3 Abs. 1 GG) eine Gleichstellung von Ehe
und Lebenspartnerschaft. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat zu-
dem entschieden, dass sich ein Gebot, andere Lebensformen zu benachteili-
gen, aus dem Schutz und Fördergebot der Ehe (Artikel 6 Abs. 1 GG) nicht
herleiten lässt. Besonders eine Pflicht, die Ehe stets mehr als andere Lebens-
gemeinschaften zu schützen, ergebe sich aus Artikel 6 Abs. 1 GG nicht. Das
Rechtsinstitut der Ehe werde durch die Schaffung der Eingetragenen Le-
benspartnerschaft nicht tangiert (BVerfGE 105, 342, 355).

2. Der gelebten Vielfalt der Lebensweisen steht ein statisches Familienrecht
gegenüber, welches seit der Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuchs
(BGB) im 19. Jahrhundert auf der Privilegierung der Ehe beruht. Angesichts
des sozialen Wandels ist eine beinahe ausschließliche Orientierung des
Rechts an der Ehe nicht mehr sinnvoll. Das an der Ehe orientierte Zusam-
menwirken von Familien-, Sozial- und Steuerrecht benachteiligt andere
Lebensweisen. So steht beispielsweise die Familienmitversicherung der
gesetzlichen Krankenversicherung selbst Paaren „ohne Trauschein“ nicht

zur Verfügung, die aufgrund der Regelungen zur Bedarfsgemeinschaft des
SGB II faktisch unterhaltspflichtig und daher der Ehe vergleichbar sind. Die

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Witwenrente bleibt selbst hinterbliebenen Partnern und Partnerinnen einer
eheähnlichen Gemeinschaft versagt, die die Kinder des verstorbenen Part-
ners betreuen (vgl. BSG, NJW 1995, 3270).

Das Wort „Ehe“ in Artikel 6 Abs. 1 GG hat an Relevanz verloren, weil Ehe
und Familie nicht mehr notwendigerweise eine Einheit bilden. Ein Beispiel
hierfür ist die Familienform des Zusammenlebens von Erwachsenen mit
Kindern – die Hälfte aller „nichtehelichen“ Lebensgemeinschaften in Ost-
deutschland lebt mit Kindern zusammen (WSI-FrauenDatenReport 2005,
S. 47). Deshalb ist eine erneute Debatte über eine Neuformulierung von
Artikel 6 Abs. 1 GG notwendig. Der besondere Schutz der Familie wäre
auch bei einer Streichung des Wortes „Ehe“ aus Artikel 6 Abs. 1 GG weiter
gewährleistet. Ein hiervon unabhängiger Schutz der Ehe ist möglicherweise
nicht mehr notwendig. Mit dem Schutz der Ehe werden außerdem Ein-
schränkungen der politischen Gestaltungsmöglichkeiten begründet, die
zunehmend parteiübergreifend in der Kritik stehen.

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