BT-Drucksache 16/5109

Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft für eine grundlegende Wende der europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik nutzen

Vom 25. April 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5109
16. Wahlperiode 25. 04. 2007

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau, Sevim Dag˘delen, Heike Hänsel,
Dr. Hakki Keskin, Jan Korte, Kersten Naumann, Wolfgang Neskovic
und der Fraktion DIE LINKE.

Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft für eine grundlegende Wende
der europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik nutzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Deutsche Bundestag teilt die Besorgnis des Hohen Flüchtlingskommis-
sars der Vereinten Nationen (UNHCR) und des Europäischen Parlaments,
wonach die EU-Verfahrensrichtlinie (2005/85/EG) strukturell dazu beiträgt,
dass sich Europa seiner Verantwortung im internationalen Flüchtlingsregime
entzieht. Dies betrifft insbesondere das europäische Konzept der „sicheren“
Dritt- bzw. Herkunftsstaaten, das in Deutschland schon seit 1993 dafür sorgt,
dass zahlreiche Flüchtlinge ohne Prüfung ihrer Asylanträge abgewiesen
werden. Durch diese Politik wird das Gebot der Nichtzurückweisung (non-
refoulement) von schutzsuchenden Flüchtlingen in der Genfer Flüchtlings-
konvention (GFK) systematisch unterlaufen.

2. Der Deutsche Bundestag unterstreicht seine Auffassung, dass Bemühungen
der Europäischen Union, für eine verbesserte Aufnahme und einen verbes-
serten Schutz von Flüchtlingen in herkunftsnahen Regionen zu sorgen, kein
Grund für eine Einschränkung des Flüchtlingsschutzes in der EU sein kön-
nen. Im Gegenteil sollten die Mitgliedstaaten der EU großzügig von der
Möglichkeit Gebrauch machen, überforderte Erstaufnahmestaaten durch die
dauerhafte Übernahme von Flüchtlingen zu unterstützen („resettlement“).

3. Der Deutsche Bundestag kritisiert, dass in Verhandlungen über die „Ent-
wicklungszusammenarbeit“ u. a. mit afrikanischen Staaten formell oder in-
formell der Abschluss von Rückübernahmeabkommen für eigene und
fremde Staatsangehörige zur Voraussetzung für eine weitere Kooperation
bzw. für das Angebot erleichterter Visumsbestimmungen oder legaler Ein-
reise- und Arbeitsmöglichkeiten gemacht wird. Der Deutsche Bundestag
verurteilt die Zusammenarbeit der EU und einzelner Mitgliedstaaten mit den
nordafrikanischen Transitstaaten im Rahmen der Migrationskontrolle. In
diesen kommt es – in unterschiedlichem Maße – zu erheblichen Menschen-

rechtsverletzungen und massiven Verstößen gegen rechtsstaatliche Grund-
sätze. Flüchtlinge sind auf einen wirksamen Rechtsschutz aber in besonderer
Weise angewiesen, denn sie stellen eine Bevölkerungsgruppe mit sehr
schwacher rechtlicher, politischer und sozialer Position dar.

4. Der Deutsche Bundestag nimmt mit Bedauern zur Kenntnis, dass die
„deutsch-französische Initiative für eine neue europäische Migrations-

Drucksache 16/5109 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

politik“ keinen Neuansatz darstellt. Im Gegenteil: Die Schaffung legaler
Einwanderungsmöglichkeiten orientiert sich demnach allein am Arbeits-
kräftebedarf der einzelnen Nationalstaaten. Und das Angebot befristeter
legaler Einreise- und Arbeitsmöglichkeiten soll zugleich als „Faustpfand“
für Verhandlungen der Kommission bzw. der Mitgliedstaaten mit Herkunfts-
und Transitstaaten zum Abschluss von Rückübernahmeabkommen und zur
Erreichung einer uneingeschränkten Kooperation im Rahmen der ansonsten
unverändert restriktiven Migrations- und Asylpolitik dienen. Eine solche
Politik ignoriert zugleich die Interessen der Betroffenen.

5. Der Deutsche Bundestag weist auf das Schärfste den mit dem „Schäuble-
Sarkozy-Papier“ erweckten Eindruck zurück, ohne die Steuerung und
Begrenzung der Zuwanderung drohe „der soziale Zusammenhalt unserer
Gesellschaften“ verloren zu gehen. Diese Äußerung gerät in die Nähe
rechtsextremer Sozialdemagogie. Der soziale Zusammenhalt der euro-
päischen Gesellschaften wird in allererster Linie durch Arbeitslosigkeit,
Lohnraub und Zerstörung des Sozialstaats gefährdet sowie durch rechts-
extreme Ideologien, Parteien und Bewegungen, die durch solche Äußerun-
gen und Bedrohungsszenarien gestärkt werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

sich im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft für eine grundlegende Neuaus-
richtung der europäischen Migrations-, Flüchtlings- und Integrationspolitik an-
hand der folgenden Leitlinien einzusetzen:

1. Die Europäische Union setzt sich dafür ein, dass die Mitgliedstaaten sich im
Rahmen einer gemeinsamen Europäischen Integrationsagenda zur recht-
lichen, politischen und sozialen Gleichstellung aller Migrantinnen/Migran-
ten (selbstverständlich auch der Flüchtlinge) verpflichten. Ziel ist es, alle
Benachteiligungen und Diskriminierungen zu beseitigen.

Die Europäische Union verweigert sich einer Migrationspolitik, die Migran-
tinnen und Migranten unter dem Stichwort „zirkuläre Migration“ lediglich
als „Instrumente“ behandelt, mit denen Defizite beim Arbeitskräftebedarf in
einzelnen EU-Staaten ausgeglichen werden sollen.

2. Die Europäische Union wird im Rahmen ihrer Entwicklungszusammen-
arbeit das Interesse der Menschen in Afrika, Asien und Südamerika an ihrer
ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung in den Mittelpunkt der
Bemühungen stellen. Sie verzichtet darauf, weitere Handelsliberalisierungen
in Verhandlungen mit den Ländern Afrikas, der Karibik und des Pazifiks
(AKP-Staaten) sowie den Staaten und Staatengruppen Lateinamerikas und
Südostasiens durchzusetzen, und verhandelt solidarische und entwicklungs-
politisch kohärente Assoziierungsabkommen. Neben den europäischen Par-
lamenten werden auch Gewerkschaften, Umwelt- und Menschenrechtsorga-
nisationen aus allen beteiligten Ländern in die Verhandlungen einbezogen.

3. Der Schutz von Flüchtlingen wird zum Primat der europäischen Flüchtlings-
politik gemacht. Die in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und der
Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankerten Grundsätze,
insbesondere des Non-refoulement-Gebots, werden umfassend angewandt.
Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union werden aufgefordert, zur Ent-
lastung von Erstaufnahmestaaten, die mit deren Versorgung überfordert
sind, Flüchtlinge aufzunehmen („resettlement“).

Die Dublin-II-Verordnung wird so geändert, dass Flüchtlinge die eigenstän-
dige Wahl ihres Aufnahmelandes ermöglicht wird.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/5109

Es wird keiner Liste sicherer Dritt- und Herkunftsstaaten auf europäischer
Ebene zugestimmt und eine Rücknahme der Regelungen zu sicheren Dritt-
bzw. Herkunftsstaaten auf europäischer Ebene wird angestrebt.

4. Die Europäische Union setzt sich im Europarat für EU-weit abgestimmte
Legalisierungsmöglichkeiten ein, die Betroffene aus ihrer rechtlosen Situa-
tion befreien. Kein Mitgliedstaat darf wegen der Durchführung solcher Pro-
gramme unter politischen Druck gesetzt werden.

5. Bei der Schaffung legaler Einwanderungs- und Arbeitsmöglichkeiten ist da-
für Sorge zu tragen, dass kein Niedriglohnsektor entsteht und hohe soziale
Standards für alle Menschen in der EU geschaffen werden. Bei den gemein-
samen Anstrengungen zur Bekämpfung illegaler Beschäftigung wird sicher-
gestellt, dass illegal beschäftigten Migrantinnen/Migranten nicht die Ab-
schiebung oder andere Bestrafung droht, wenn sie sich gegen ausbeuterische
Arbeitsverhältnisse zur Wehr setzen.

6. Die Unterstützung für die Europäische Grenzschutzagentur Frontex wird
eingestellt. An ihrer Stelle wird eine Europäische Koordinierungsstelle zur
menschenwürdigen und rechtsstaatlichen Aufnahme von Flüchtlingen ein-
gesetzt.

7. Bei der Entwicklung eines gemeinsamen Visakodex werden die Reisefrei-
heit und die individuellen Bedürfnisse der Individuen als vorrangige Prin-
zipien festgeschrieben.

8. Die elektronische Totalerfassung von Drittstaatsangehörigen, die in das
Territorium der Europäischen Union einreisen, wird abgelehnt.

Berlin, den 24. April 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

An erster Stelle der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik muss die
Aufnahme schutzbedürftiger Menschen stehen. Staatspolitische Interessen kön-
nen nicht gegen Menschenrechte abgewogen werden. Dies folgt aus dem uni-
versalen Charakter der Menschenrechte und ist eine Lehre der deutschen Ge-
schichte. Ebenso wie zahlreiche Menschen der Verfolgung durch den NS-Staat
nur entkamen, weil sie Aufnahme in anderen Staaten fanden, wurden andere
Opfer dieser Verfolgung, weil die Zielstaaten ihrer Flucht sie aus Gründen der
Kontrolle und Steuerung von Zuwanderung nicht aufnahmen. Die Genfer
Flüchtlingskonvention (GFK) als Konsequenz dieser Erfahrungen ist für die
Bundesrepublik Deutschland und die Mitgliedstaaten der Europäischen Union
ebenso bindend wie entsprechende Regelungen der Europäischen Menschen-
rechtskonvention, in diesem Fall vor allem die des Artikels 3 EMRK.

Die menschenrechtlichen Probleme der EU-Migrationspolitik werden anhand
des in der „Mitteilung der Kommission über politische Prioritäten bei der
Bekämpfung der illegalen Einwanderung von Drittstaatsangehörigen“ (KOM
(2006) 402 endg.) aufgeworfenen Problems der „gemischten Migrations-
ströme“ deutlich. Während konstatiert wird, dass internationalen Verpflichtun-
gen zum Flüchtlingsschutz genüge getan werden müsse, richten sich die vor-
geschlagenen oder ergriffenen Maßnahmen zur Abschottung unterschiedslos

gegen alle unerlaubt Einreisenden (die „illegale Migration“). Zwar sind inzwi-
schen Richtlinien zur Aufnahme von Flüchtlingen und zum Umgang mit ihnen

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in Kraft getreten. Doch gleichzeitig sollen Flüchtlinge aktiv an einer Einreise in
die EU gehindert werden, wie aus der „Verordnung (EG) 2007/2004 des Rates
vom 26. Oktober 2004 zur Errichtung einer Europäischen Agentur für die
operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Euro-
päischen Union“ und aus der Mitteilung der Kommission an den Rat zum
„Ausbau von Grenzschutz und -verwaltung an den südlichen Seegrenzen der
Europäischen Union“ (KOM(2006) 733 endg.) hervorgeht.

Von Flüchtlingsorganisationen wie Pro Asyl und UNHCR wurde zu Beginn der
deutschen EU-Ratspräsidentschaft kritisiert, dass die Bundesrepublik Deutsch-
land und die Europäische Union das Non-refoulment-Gebot unterlaufen, z. B.
indem Asylanträge als „unbeachtlich“ behandelt werden, wenn die Antragstel-
lerinnen/Antragsteller über einen „sicheren Drittstaat“ eingereist sind. Regelun-
gen der so genannten Verfahrensrichtlinie der EU – 2005/85/EG vom 1. Dezem-
ber 2005 –, vor allem das Konzept „sicherer“ Dritt- und Herkunftsstaaten
außerhalb der EU, sorgen strukturell dafür, dass sich Europa seiner Verantwor-
tung im internationalen Flüchtlingsregime entzieht, indem den Transitstaaten
und Ländern der Herkunftsregionen, die ohnehin schon die meisten Flüchtlinge
aufnehmen, sukzessive die Gesamtverantwortung für den Flüchtlingsschutz
übertragen werden soll. Selbst in dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD „Stärkung der Menschenrechtspolitik der Europäischen Union“ (Bun-
destagsdrucksache 16/3607) wird eine Überprüfung des Konzepts der sicheren
Drittstaaten angemahnt (Punkt 10: „Flüchtlings- und Asylpolitik“).

Verschärft wird diese Politik der Externalisierung des „Flüchtlingsschutzes“
dadurch, dass in den zur Rücknahme zu verpflichtenden Transitstaaten men-
schenrechtliche Standards häufig nicht gelten. Wiederholt sind Fälle bekannt
geworden, in denen Transitstaaten wie Libyen und Marokko Migrantinnen/
Migranten an den Grenzen in der Wüste ausgesetzt haben. Mit solchen Staaten
Rückübernahmeabkommen zu schließen, bedeutet „Kumpanei bei Menschen-
rechtsverletzungen“ (Presseerklärung von Pro Asyl vom 15. Januar 2007).

Die EU-Innen- und -Justizminister wollen Entwicklungszusammenarbeit und
Hilfen für Transit- und Herkunftsstaaten von deren Kooperation bei der europä-
ischen Abschiebepolitik abhängig machen (Abschluss von Rückübernahmeab-
kommen, Verhinderung der Flucht nach Europa durch schärfere Grenzkontrol-
len usw.). Auch die Kommission hat derartige Vorschläge unterbreitet (KOM
(2006) 402 endg.). Bilaterale Vereinbarungen bestehen z. B. bereits zwischen
Italien und Libyen. Zu befürchten ist, dass als „Entwicklungshilfe“ deklarierte
Mittel unmittelbar in den Ausbau der Grenzsicherung fließen. Eine ähnliche
Politik verfolgte die Bundesrepublik Deutschland ab Beginn der 90er Jahre ge-
genüber Osteuropa, indem finanzielle Hilfen mit dem Kauf von Technologien
zur Grenzsicherung verknüpft wurden. Die derzeitige Politik der Abschottung
der EU findet ihr Modell in der Asylpolitik der Bundesrepublik Deutschland
aus den 90er Jahren. Hier wurde über Rückübernahmeabkommen erreicht, dass
die von Flüchtlingen zu überwindende Grenze immer weiter ostwärts verlagert
wurde. Die von der Bundesrepublik Deutschland betriebene „Grenzsicherung“
kostete an der Grenze zu Polen und der Tschechischen Republik von 1993 bis
2005 121 Menschen das Leben; 259 wurden verletzt (vgl. „Bundesdeutsche
Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen“, Dokumentationsstelle der Anti-
rassistischen Initiative Berlin, Berlin 2006). Aufgrund der Flucht über das Meer
liegen die Zahlen an den Südgrenzen der EU weit darüber. Es muss mit einer
erschreckenden Zahl von mindestens 20 000 bis 30 000 Todesopfern an den
EU-Außengrenzen seit Anfang der 90er Jahre gerechnet werden: Nach Anga-
ben der Regionalregierung der Kanaren gab es allein im Jahr 2006 auf dem
Weg zu den Kanarischen Inseln ca. 6 000 Tote (www.heise.de/tp/r4/artikel/24/
24336/1.html). Unter Einbezug einer Dunkelziffer kommt Helmut Dietrich von

der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM) auf die geschätzte
Zahl von 12 000 bis 14 000 Toten von 1991 bis 2004 in der Meerenge von

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/5109

Gibraltar (vgl.: „AusgeLAGERt. Exterritoriale Lager und der EU-Aufmarsch
an den Mittelmeergrenzen“, Hrsg.: Niedersächsischer Flüchtlingsrat/FFM/Ko-
mitee für Grundrechte und Demokratie, Bockenem 2005, S. 37).

Wer die Skrupellosigkeit von „Schlepperbanden“, also Fluchthelfern, für die
hohe Zahl der Toten verantwortlich macht, verdreht Ursache und Wirkung.
Denn das europäische Grenzregime stellt gewissermaßen die „Geschäftsgrund-
lage“ für „Schlepperorganisationen“ dar, deren „Dienste“ angesichts der
hermetischen Abschottung „unentbehrlich“ werden. Da für Migrantinnen und
Migranten kein legaler Weg in die EU führt, sind sie auf Wege verwiesen, die
mit einem hohen Risiko behaftet sind oder sie in die Arme skrupelloser
Geschäftemacher treiben – sei es, dass sie mit morschen, ungeeigneten Booten
versuchen (müssen), das Meer zu durchfahren, sei es, dass sie in LKW oder
Containern auf dem Landwege dem Risiko ausgesetzt sind, zu erfrieren oder zu
ersticken.

Die Bekämpfung tatsächlicher Fluchtursachen ist aufwendiger und braucht
mehr Zeit als die technologische Aufrüstung der „Grenzsicherung“ und die
Zusammenführung polizeilicher, militärischer und nachrichtendienstlicher
Ressourcen und Kompetenzen, wie in der Europäischen Grenzschutzagentur
Frontex. Dennoch muss die Bundesregierung für eine solidarische Entwick-
lungszusammenarbeit und Außenwirtschaftspolitik der EU statt einseitiger
Freihandelsabkommen und neoliberaler Dogmen eintreten. Genauso sind eine
Außen- und Friedenspolitik erforderlich, die auf militärische Mittel grundsätz-
lich verzichten, Kriege verhindern und Konflikte schlichten können, indem sie
sich den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Gründen für Krieg, Vertrei-
bung und instabilen politischen Verhältnissen widmen.

Da die EU keinerlei Kompetenzen hat, über Zuwanderungsquoten zu entschei-
den, bedeutet die Zustimmung der Entwicklungsländer zur „zirkulären Migra-
tion“ die Akzeptierung eines „ungedeckten Wechsels“, bei dem ungewiss
bleibt, wie viele ihrer Bürgerinnen und Bürger letztlich davon profitieren. Das
Konzept einer „zirkulären Migration“ erinnert unverkennbar an das Konzept
der „Gastarbeiterbeschäftigung“ in Deutschland, in dem irrtümlich ebenfalls
von einer „Arbeitsrotation“ ausgegangen worden war. Zugleich enthält das in
Stratford-upon-Avon veröffentlichte Schäuble-Sarkozy-Papier altbekannte
Forderungen nach „konsequenten Rückführungen“, einer „effektiveren Über-
wachung der EU-Außengrenzen“, dem vermehrten Abschluss von „Rücküber-
nahmeabkommen“, „ernsthaften Sanktionsmaßnahmen“ gegenüber „in Fragen
der Rückführung nicht kooperationsbereiten Drittstaaten“ usw. Die Möglich-
keit legaler Zuwanderung soll eine umso rücksichtslosere „Grenzsicherung“
legitimieren. Das Angebot von Einwanderungskontingenten soll zudem von
der Kommission dafür genutzt werden, um Drittstaaten unter Druck zu setzen,
„ihrer Pflicht zur Rücknahme derjenigen Migranten nach[zu]kommen, die nicht
freiwillig zurückkehren wollen“. Die Mitteilung der Kommission über
„Schritte zur Entwicklung eines umfassenden europäischen Migrationskonzep-
tes“ (KOM(2006) 735 endgültig) unterscheidet sich nicht grundsätzlich von
dem Ansatz des deutschen und französischen Innenministers.

Wichtiges Element dieser restriktiven Migrationspolitik sind die in den vergan-
genen Jahren sukzessive aufgebauten Datensysteme in der EU. Mit dem
„Schengener Informationssystem“ (SIS) ist mittels der Kategorie „zur Einreise-
verweigerung ausgeschriebene Drittstaatsangehörige“ eine Datenbank aufge-
baut worden, in der abgewiesene oder illegal eingereiste Flüchtlinge systema-
tisch erfasst werden. Unter den gespeicherten Personen machen diese die mit
Abstand größte Gruppe aus (siehe Antwort der Bundesregierung auf die Kleine
Anfrage der Fraktion DIE LINKE. „Datenschutz im Raum der Sicherheit, der

Freiheit und des Rechts – Schengener Informationssystem“ auf Bundestags-
drucksache 16/1044). Eine noch umfassendere Erfassung abgelehnter Asyl-An-

Drucksache 16/5109 – 6 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

tragsteller und illegal eingereister oder aufhältiger Drittstaatsangehöriger wird
durch das gemeinschaftsweite Informationstechnologiesystem für den Ver-
gleich der Fingerabdrücke von Asylbewerbern, EURODAC, hergestellt. Es soll
die Umsetzung des durch die Verordnung 343/2003 ersetzten „Dubliner Ab-
kommens“ sicherstellen, das Kriterien und Verfahren festlegt, um den für die
Prüfung eines innerhalb der EU gestellten Asylantrages zuständigen Mitglied-
staat festzustellen. Mit dem geplanten Visa-Informationssystem soll die Kom-
pletterfassung aller in die EU einreisenden Drittstaatsangehörigen einschließ-
lich ihrer biometrischen Daten abgeschlossen werden. Auch die einladenden
EU-Bürgerinnen/Bürger sollen zunehmend systematisch erfasst werden. Es soll
sogar möglich sein, in einem zentralen elektronischen Datensystem Ein- und
Ausreise zu erfassen (vgl. KOM(2006) 402 endg.). Drittstaatsangehörige wer-
den so zu Objekten umfassender datenmäßiger Erfassung und Kontrolle. Eine
Abwägung mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung findet erst gar
nicht statt.

Die Europäische Union kann trotz der Verfehlungen der Vergangenheit zum
positiven Akteur einer gemeinsamen Migrations- und Flüchtlingspolitik werden.
Dies betrifft insbesondere den Umgang mit statuslosen Drittstaatsangehörigen
(bzw. Staatenlosen). Ihre Menschenrechte auf körperliche und seelische Unver-
sehrtheit, Gesundheitsversorgung, Bildung usw. müssen sichergestellt werden.
Als ein wichtiges Mittel der Befreiung aus der Rechtlosigkeit muss ihre Lega-
lisierung angesehen werden. Nur so lässt sich die bis zur Sklaverei reichende
Ausbeutung von Statuslosen wirkungsvoll überwinden. Statuslose haben in
Europa keine andere Möglichkeit, als sich illegal beschäftigen zu lassen. Nicht
sie sind mit Strafe zu bedrohen, sondern ihre Ausbeuter und Sklavenhalter. Nur,
wenn die Betroffenen sich ohne Angst vor Strafe und Abschiebung gegen ihre
Ausbeutung zur Wehr setzen können, kann illegale, menschenrechtsverletz-
tende Beschäftigung aus der Welt geschafft werden.

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