BT-Drucksache 16/5108

Für Humanität und Menschenrechte statt wirtschaftlicher "Nützlichkeit" als Grundprinzipien der Migrationspolitik

Vom 25. April 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5108
16. Wahlperiode 25. 04. 2007

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dag˘delen, Petra Pau, Jan Korte, Wolfgang
Neskovic, Kersten Naumann, Dr. Hakki Keskin und der Fraktion DIE LINKE.

Für Humanität und Menschenrechte statt wirtschaftlicher „Nützlichkeit“
als Grundprinzipien der Migrationspolitik

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Deutsche Bundestag verurteilt den Versuch der Bundesregierung, mit
dem am 28. März 2007 vom Bundeskabinett beschlossenen Gesetzentwurf
die notwendige Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der
Europäischen Union dafür zu nutzen, umfangreiche Verschärfungen des
Aufenthalts-, Asyl-, Einbürgerungs-, Asylbewerberleistungsrechts und
anderer Gesetze vorzunehmen, die von den EU-Richtlinien gerade nicht
erfordert werden. Der Deutsche Bundestag weist darauf hin, dass mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf verbindliche Mindestanforderungen, etwa der
Qualifikations- und Aufenthaltsrichtlinie (2004/83/EG vom 29. April 2003
und 2003/9/EG vom 27. Januar 2003), nur ungenügend oder gar nicht in
deutsches Recht umgesetzt werden. So soll nach dem Gesetzentwurf z. B.
Flüchtlingen aus Kriegs- und Bürgerkriegsländern der ihnen nach Artikel 15c
der Qualifikationsrichtlinie zustehende subsidiäre Schutzstatus bei drohen-
der willkürlicher Gewalt unzulässigerweise verwehrt werden. Vorgaben der
Aufnahmerichtlinie, wonach Personen mit besonderen Bedürfnissen (Min-
derjährige, Opfer von Folter und Gewalt, Ältere, Schwangere, allein Erzie-
hende usw.) die nach Artikel 15 Abs. 2 bzw. 17 bis 20 vorgesehenen Rechte
und insbesondere erforderliche medizinische Behandlungen erhalten müssen,
werden ebenfalls nicht umgesetzt.

2. Der Deutsche Bundestag kritisiert die Verschärfung des Familiennachzugs,
die den Nachzug von Ehe- bzw. Lebenspartnerinnen/-partnern massiv ein-
schränken wird. Um diese neuen Hürden bei der Einwanderung zu legitimie-
ren, werden Menschen- und Frauenrechte instrumentalisiert. Die geplanten
Maßnahmen sind weder zielgerichtet noch geeignet, Zwangsverheiratungen
zu verhindern. Das Erfordernis, einfache deutsche Sprachkenntnisse bereits
vor der Einreise zu beherrschen, kommt einer sozialen Selektion gleich.
Dies gilt ebenfalls für die Neuregelung, wonach eingebürgerte Deutsche mit
doppelter Staatsangehörigkeit ihre Ehegatten nur noch nachholen dürfen,

wenn sie nicht auf Sozialleistungen angewiesen sind. Damit werden Deut-
sche zweiter Klasse geschaffen, bei denen ein fundamentales Grundrecht nur
unter wirtschaftlichem Vorbehalt gelten soll. Das Fehlen dringend notwen-
diger aufenthaltsrechtlicher Schutzregelungen für Opfer von Zwangsverhei-
ratungen zeigt umso deutlicher, dass es den Verfasserinnen/Verfassern des
Gesetzentwurfs nicht, wie behauptet, um Menschen- oder Frauenrechte
geht.

Drucksache 16/5108 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

3. Der Deutsche Bundestag betont, dass die vorgesehene einmalige „Altfall-
regelung“ nach den §§ 104a und 104b des Aufenthaltsgesetz-Entwurfs
(AufenthG-E) völlig unzureichend ist und nur einem kleinen Teil der seit
vielen Jahren in Deutschland geduldeten Menschen zu einem Bleiberecht
verhelfen wird. Da der vorliegende Gesetzentwurf auch keine Erleichterung
des Zugangs zu einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG ent-
hält, wird es in Zukunft – entgegen einem mit dem Zuwanderungsgesetz
verbundenen Versprechen – absehbar weiterhin zu „Kettenduldungen“ in
großer Zahl kommen. Die „Altfallregelung“, die ungeachtet ihrer Mängel
eine relative Verbesserung der geltenden Rechtslage darstellt, kann die zahl-
reichen Verschlechterungen des Gesetzesentwurfs bei weitem nicht auf-
wiegen. Vielmehr handelt es sich um eine Regelung nach wirtschaftlichem
Kosten-Nutzen-Kalkül: Nur Diejenigen, die dauerhaft beschäftigt sind bzw.
der deutschen Gesellschaft einen Nutzen versprechen, sollen ein Bleiberecht
erhalten; die sozial Schwachen bzw. als „unnütz“ Klassifizierten sollen hin-
gegen abgeschoben bzw. – weil dies zumeist ja gar nicht möglich ist – wei-
terhin dauerhaft entrechtet und ausgegrenzt werden.

4. Der Deutsche Bundestag weist die geplante zeitliche Ausweitung der
Schlechterbehandlung von Asyl suchenden und geduldeten Menschen bei
der Sicherstellung des sozialen Existenzminimums von drei auf vier
Jahre zurück (vgl. Änderung zu § 2 des Asylbewerberleistungsgesetz-Ent-
wurfs – AsylbLG-E). Unabhängig von den grundsätzlichen verfassungs-
rechtlichen Bedenken gegen diese Ungleichbehandlung, die von dem
Gedanken der Abschreckung getragen ist, führen das Asylbewerberleis-
tungsgesetz und Arbeitsverbote zur systematischen Desintegration von
Menschen mit (noch) unsicherem Aufenthaltsstatus und erschweren damit
deren spätere Integration im Falle eines Bleiberechts.

5. Der Deutsche Bundestag lehnt eine Politik der „Integration“ unter Andro-
hung von Zwangsmitteln ab. Erleichterungen bei der Inanspruchnahme
grundlegender Rechte an den „erfolgreichen“ Abschluss von Sprach- oder
Wissenstests zu knüpfen bedeutet, grundlegende Rechte vom Bildungs-
niveau, der Sprachbegabtheit, von sprachlichen Vorkenntnissen, dem sozia-
len Status und letztlich auch von finanziellen Möglichkeiten der Betroffenen
abhängig zu machen. Integration beinhaltet komplexe individuelle und
gesellschaftliche Lernprozesse, die nicht als ordnungspolitische Aufgabe
begriffen werden dürfen. Es ist bezeichnend, wenn im Gesetzentwurf um der
populistischen Formel des „Förderns und Forderns“ Willen die bisherige
Zielvorgabe einer „Förderung der Integration“ aufgegeben wird. Die Folgen
des Fehlens einer staatlichen Einwanderungs-, Integrations- und Antidiskri-
minierungspolitik in den vergangenen Jahrzehnten und auch die Mängel der
jetzigen Integrationspolitik und -kurse können aber nicht den Betroffenen
individuell angelastet werden. Die gesetzliche Normierung eines Auswei-
sungstatbestandes bei einem „besonders integrationsfeindlichen Charakter“
(vgl. Begründung zu § 55 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG-E) ist purer Populismus,
da sich unerwünschte gesellschaftliche Entwicklungen nicht einfach verbie-
ten lassen.

6. Integrations- und gesellschaftspolitisch besonders fatal ist aus Sicht des
Bundestages die geplante gesetzliche Verpflichtung öffentlicher Stellen,
(vermeintlich) bestehende „Integrationsdefizite“ (etwa: fehlende sprachliche
Kompetenzen, Sozialhilfebezug) den jeweiligen Ausländerbehörden zu mel-
den (vgl. § 87 Abs. 2 AufenthG-E). Dies kommt einer totalitären Verhaltens-
überwachung von Migrantinnen/Migranten gleich, die mit den Grundrech-
ten auf Freiheit, Menschenwürde und dem Recht auf informationelle
Selbstbestimmung unvereinbar ist. Eine solche Vereinnahmung von Behör-

den und öffentlich Bediensteten (Lehrerinnen/Lehrer, Ärztinnen/Ärzte etc.)

usw. am neuen Zuwanderungsgesetz und entsprechende Forderungen zur
Verbesserung der rechtlichen und tatsächlichen Lage im Sinne der Betrof-
fenen weitgehend unberücksichtigt geblieben sind.

Der Deutsche Bundestag schließt sich den Bewertungen von nichtstaat-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/5108

für ordnungspolitische Zwecke wird sich auch kontraproduktiv auf die Er-
füllung ihrer eigentlichen Aufgaben auswirken.

7. Der Deutsche Bundestag zeigt sich besorgt darüber, dass neue und höhere
Hürden im Einbürgerungsrecht zu einem weiteren Rückgang der Einbürge-
rungszahlen und damit zur Verfestigung der politischen und rechtlichen Un-
gleichbehandlung von nichtdeutschen Migrantinnen/Migranten in Deutsch-
land führen werden. Die bislang positive Regelung einer Einbürgerung
unabhängig von Lebensunterhaltsnachweisen für Jugendliche bis zum Alter
von 23 Jahren soll zurückgenommen werden, während zugleich in der
Wirkung abschreckende neue Anforderungen und Staatsbürgerschaftstests
neu eingeführt werden.

8. Der Deutsche Bundestag beklagt, dass sich seit langem angemahnte
Regelungen zur effektiven Durchsetzung der Rechte auf Bildung und
gesundheitliche Versorgung für Menschen ohne regulären Aufenthalts-
status in dem Gesetzentwurf nicht finden lassen.

9. Ebenso lehnt der Deutsche Bundestag ab, dass Opfer des Menschenhan-
dels (nicht aber z. B. Opfer rassistischer Gewalttaten) nur dann bzw.
solange eine Aufenthaltserlaubnis bekommen können sollen, wie sie als
Zeuginnen/Zeugen im Rahmen eines Strafverfahrens benötigt werden.
Dies kommt einer Instrumentalisierung der Opfer schwerer Gewalttaten
gleich und wird deren Lebenssituation und Bedürfnissen nach wirksamem
Schutz nicht gerecht.

10. Die Ausweitung von Inhaftierungsmöglichkeiten gegenüber Schutz-
suchenden lehnt der Deutsche Bundestag ab. Flüchtlinge, bei denen die
bloße Vermutung besteht, über einen anderen EU-Staat eingereist zu sein,
sollen in Zurückweisungshaft genommen und ohne wirksamen Rechts-
schutz zurück- bzw. abgeschoben werden können. Die Ausländerbehörden
sollen die Befugnis erhalten, ohne richterlichen Beschluss Menschen in
Abschiebehaft nehmen zu lassen (vgl. § 62 Abs. 4 Satz 1 AufenthG-E).
Dies bürgt für einen unverhältnismäßigen Umgang mit Menschen, die um
Schutz nachsuchen und stattdessen kriminalisiert, inhaftiert und abgescho-
ben werden. Das Gleiche gilt für die Neuregelung, Menschen nach über
einjährig geduldetem Aufenthalt ohne erneute Ankündigung abschieben zu
können („Überraschungsabschiebung“).

11. Die Bundesregierung weigert sich weiterhin, gemäß der von der Bundes-
republik Deutschland unterzeichneten und ratifizierten UN-Kinderrechts-
konvention das Kindeswohl zum maßgeblichen Kriterium auch im Auslän-
der- und Asylrecht zu machen, und sie setzt damit auch die entsprechenden
Bestimmungen der asylrechtlichen EU-Richtlinien zum Kindeswohl nicht
um. Stattdessen wird die Rechtsgrundlage für einen Eingriff in die körper-
liche Unversehrtheit für wissenschaftlich, medizinisch und ethisch höchst
zweifelhafte Altersfeststellungsverfahren geschaffen. Die Nichtbeweisbar-
keit von Altersangaben soll zu Lasten der Kinder und jugendlichen Flücht-
linge ausgelegt werden (vgl. § 49 Abs. 6 Satz 1 und 2 AufenthG-E).

12. Der Deutsche Bundestag moniert, dass bereits im Evaluationsbericht des
Bundesministeriums des Inneren vom Juli 2006, der von einem grund-
legenden Abwehrdenken und Misstrauen gegenüber Nichtdeutschen ge-
prägt ist, die Kritik von Nichtregierungsorganisationen, Verbänden, dem
Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), Kirchen
lichen Organisationen und Verbänden an, die den vorgelegten Gesetz-
entwurf unter anderem bezeichnet haben als „Verschärfungen“, die „in

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krassem Gegensatz zu den Intentionen des von Ihnen initiierten Integra-
tionsgipfels“ stehen und den „Sinn und Zweck des Integrationsgipfels in
Frage“ stellen (Offener Brief an die Bundeskanzlerin, Dr. Angela Merkel,
vom 27. März 2007 von 21 am Integrationsgipfel bzw. seinen Arbeitsgrup-
pen beteiligten Organisationen), sowie als „rückwärtsgewandt, integra-
tionshemmend und flüchtlingsunfreundlich“ (gemeinsame Stellungnahme
vom März 2007 von Amnesty International, Arbeiterwohlfahrt, Arbeits-
gemeinschaft Ausländer- und Asylrecht im Deutschen Anwaltverein,
Deutscher Caritasverband, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband,
Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD),
Rechtsberaterkonferenz, Neue Richtervereinigung, Pro Asyl).

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, den vorliegen-
den Gesetzentwurf zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien
der Europäischen Union zurückzuziehen und nach folgenden Maßgaben zu
überarbeiten:
1. Die EU-Richtlinien müssen zügig in einem eigenständigen Gesetz um-

gesetzt werden. Da diese Richtlinien häufig Mindeststandards darstellen,
ist bei der Umsetzung darauf zu achten, dass den familiären, persönlichen,
individuellen Interessen der Betroffenen weitestgehend Rechnung getra-
gen wird und bestehende Ermessensspielräume zu ihren Gunsten genutzt
werden. An restriktiven nationalen Sonderregelungen sollte auch dann
nicht festgehalten werden, wenn die Richtlinien dies abweichend vom
Regelfall als Möglichkeit zulassen.

1.1. Das Flüchtlingsrecht muss nach Maßgabe der Genfer Flüchtlingskonven-
tion, der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), der UN-Kin-
derrechtskonvention und der Qualifikationsrichtlinie grundlegend neu, in
sich konsistent und als eigenständiges Flüchtlingsgesetz ausgestaltet werden.
Dabei müssen die Auslegungshinweise des UNHCR, die Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und der Grundsatz
eines möglichst effektiven Flüchtlingsschutzes maßgeblich sein.

1.2. Die Umsetzung der EU-Aufnahmerichtlinie erfordert eine Überarbeitung
aufenthalts- und asylrechtlicher Bestimmungen und des Asylbewerberleis-
tungsgesetzes, soweit dem Wohl des Kindes kein grundsätzlicher Vorrang
eingeräumt und den speziellen (Behandlungs-)Bedürfnissen besonders
schutzbedürftiger Personen nicht Rechnung getragen wird.

1.3. Es darf keine neuen oder Ausweitungen bestehender Inhaftierungs-
möglichkeiten gegenüber Schutzsuchenden und auch keine Festnahme-
kompetenz für Sachbearbeiterinnen/Sachbearbeiter der Ausländerbehörden
unter Umgehung des Richtervorbehalts geben. Die Möglichkeit eines
effektiven, zumindest einstweiligen Rechtsschutzes bei Dublin-II-Ent-
scheidungen muss gewährleistet sein.

1.4. Die Regelung zu Kettenduldungen nach § 25 Abs. 5 AufenthG ist so aus-
zugestalten, dass sie tatsächlich zur Vermeidung von Kettenduldungen
führt, wenn Abschiebungen kurzfristig nicht möglich sind; die Regelung
für vorübergehende Aufenthalte nach § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG muss
(weiterhin) auch vollziehbar ausreisepflichtigen Personen offenstehen.

1.5. Es darf keine gesetzliche Legitimierung von rechtsstaatswidrigen Über-
raschungsabschiebungen nach längerfristig geduldetem Aufenthalt geben
(vgl. Änderung zu § 60a Abs. 5 Satz 4 AufenthG-E).

1.6. Statt einer einmaligen Altfallregelung nach Nützlichkeitskriterien bedarf
es einer permanenten, großzügigen gesetzlichen Bleiberechtsregelung (vgl.
Bundestagsdrucksache 16/3912). Die Bleiberechtsregelung darf keinen
generellen Ausschlussgrund vorsehen, insbesondere ist ein Ausschluss

ganzer Personengruppen aufgrund ihrer Herkunft, wie im § 104a Abs. 7
AufenthG-E vorgesehen, aus verfassungsrechtlicher Sicht strikt abzulehnen.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/5108

1.7. Das Asylbewerberleistungsgesetz und die Residenzpflicht als diskriminie-
rende und stigmatisierende Sonderregelungen sind abzuschaffen.

2. Verschärfungen der Rechtslage für Migrantinnen/Migranten, die von den
EU-Richtlinien nicht zwingend erfordert und die maßgeblich mit dem Eva-
luationsbericht des Bundesinnenministeriums zum Zuwanderungsgesetz
begründet werden, sind zurückzunehmen. Dies betrifft insbesondere:

2.1. die Einschränkung des Ehegatten- und Lebenspartnerinnen/Lebenspartner-
nachzugs (Sprachkenntnisse, Einkommensnachweise, Mindestalter usw.),

2.2. die Anwendung von Zwangsmitteln zur Durchsetzung einer Integrations-
kursteilnahme und (verschärfte) Sanktionen im Falle einer Nichtteilnahme,

2.3. die gesetzliche Verpflichtung öffentlicher Stellen (Schulen, Kitas, Kran-
kenhäuser usw.) zur Unterrichtung der Ausländerbehörden in Fällen einer
„besonderen Integrationsbedürftigkeit“ (z. B. bei Sprachdefiziten, Sozial-
hilfebedürftigkeit),

2.4. den Umbau der Ausländerbehörde zu einer „Fremdenpolizei“ mit umfang-
reichen Überwachungs- und Kontrollbefugnissen. Stattdessen müssen
strukturelle Gründe für „Integrationsprobleme“ beseitigt werden: Benach-
teiligungen in (Vor-)Schule, Bildung und Beruf, Rassismus und Fremden-
feindlichkeit, mindere Rechte und Ausschluss von politischen Betei-
ligungsformen, Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen usw.

3. Dem entgegen sind umfangreiche Änderungen vorzunehmen zum Schutz
und zur Stärkung der Rechte

3.1. zwangsverheirateter bzw. von Zwangsverheiratungen bedrohter Frauen
(und Männer), unabhängig von deren Aufenthaltsstatus (insbesondere die
Schaffung eines Wiederkehrrechts verschleppter Frauen bzw. Regelungen
zum Nichterlöschen der Aufenthaltsrechte in diesen Fällen),

3.2. von Menschen ohne Aufenthaltstatus: effektive Sicherstellung des Schul-
besuchs von Kindern ohne Aufenthaltsstatus, einer medizinischen Versor-
gung, der Durchsetzbarkeit von Lohnansprüchen usw.; Schaffung von
Legalisierungsmöglichkeiten (vgl. Bundestagsdrucksache 16/1202),

3.3. bereits länger in Deutschland lebender Migrantinnen/Migranten durch die
Gewährung eines Rechtsanspruchs auf Teilnahme an qualitativ deutlich
verbesserten Integrations- bzw. Sprachkursen.

4. Das Staatsangehörigkeitsrecht ist nicht mit weiteren Hürden und
Regelungen des pauschalen Misstrauens und Verdachts gegenüber den
Einbürgerungswilligen zu versehen, sondern im Gegenteil mit dem Ziel
schnellerer und umfassenderer Einbürgerungen, der Einführung des ius
soli als grundlegendes Staatszugehörigkeitsprinzip und der Ermöglichung
von Mehrfachstaatsangehörigkeiten umzugestalten (vgl. Bundestagsdruck-
sache 16/1770).

Berlin, den 25. April 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Der vorgelegte Entwurf eines „Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asyl-
rechtlicher Richtlinien der Europäischen Union“ stellt einen Besorgnis erregen-

den qualitativen Rückschritt in der Debatte um die Einwanderungsgesellschaft
Bundesrepublik Deutschland bzw. um die Notwendigkeit ihrer angemessenen

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rechtlichen Ausgestaltung dar. Unter dem Deckmantel des Begriffs der „Inte-
gration“ und im Schatten des „Kampfes gegen den Terrorismus“ werden altbe-
kannte und neue Vorurteilsstrukturen bedient, aber auch neue Ausgrenzungs-
muster durchgesetzt.

Der an sich positive Begriff der „Integration“ erfährt eine repressive Um-
deutung und wird nunmehr als Drohkulisse sowie als Überwachungs- und
Selektionskriterium verwandt. „Integration“ soll notfalls mit Mitteln des Ver-
waltungszwangs durchgesetzt werden – oder aber in der totalen Desintegration,
der Abschiebung der Betroffenen enden. Die Debatte um (angeblich) notwen-
dige schärfere Sanktionen nährt den Pauschalverdacht und Vorurteile, Migran-
tinnen/Migranten wollten sich gar nicht integrieren, und deshalb seien ein ent-
sprechender Zwang und Druck notwendig. Entgegen der allgegenwärtigen
Rede von Integration als Herausforderung an „beide Seiten“ werden faktisch
die gesellschaftlichen Ursachen für „Integrationsprobleme“ – die in erster Linie
soziale Probleme sind – permanent unterschlagen: rechtliche Benachteiligun-
gen und politische Ausgrenzung von Migrantinnen/Migranten und Flücht-
lingen, Rassismus und Diskriminierungen, eine fehlende Offenheit in der deut-
schen Gesellschaft und Politik, fehlende berufliche Fördermaßnahmen und ein
Bildungssystem, das vorhandene soziale Benachteiligungen verstärkt und
damit gerade vielen Migrantinnen/Migranten-Kindern die Chance einer gleich-
berechtigten gesellschaftlichen Teilhabe verwehrt.

Der vorliegende Gesetzentwurf ist getragen von einem Nützlichkeits- und Ver-
wertungsdenken gegenüber Nichtdeutschen, das mit grundlegenden Werten des
Grundgesetzes und der Menschenrechte unvereinbar ist. Nicht selten ist, wenn
von „Integration“ die Rede ist, soziale Auslese unter Migrantinnen und Migran-
ten gemeint. Die Rede davon, „wir“ bräuchten mehr Migrantinnen/Migranten,
die uns nützen, und nicht solche, die uns ausnützen, oder auch der Begriff einer
„erlittenen Einwanderung“ bringen dieses Denken auf den Punkt. Der Bundes-
minister des Innern, Dr. Wolfgang Schäuble, machte bei der Eröffnung eines
Integrationskongresses des Caritasverbandes deutlich, dass er die gesellschaft-
lichen Realitäten der deutschen Einwanderungsgesellschaft nach wie vor nicht
vorbehaltlos anerkennt: „Wir waren nie ein Einwanderungsland und wir sind’s
bis heute nicht“ (vgl. DER TAGESSPIEGEL vom 7. Dezember 2006). Deutsch-
land habe sich, anders als andere Einwanderungsländer, Migrantinnen/Migran-
ten nie gezielt ausgesucht. Angesichts des Bedarfs der deutschen Wirtschaft in
der Nachkriegszeit vor allem an unqualifizierten Arbeitskräften ist diese Ein-
schätzung allerdings zumindest fragwürdig. Deutschland „leidet“ nach Ansicht
Dr. Wolfgang Schäubles zudem immer noch unter den hohen Zuwanderungs-
zahlen der 90er Jahre (dpa, 31. Januar 2007). Die erfolgte Zuwanderung soll
offenkundig nach Nützlichkeitskriterien zumindest in Teilen wieder rückgängig
gemacht werden; erwünscht ist tendenziell nur noch die Einwanderung Höchst-
qualifizierter oder aber die zeitlich befristete Beschäftigung unqualifizierter
Arbeitskräfte. Aus der Stellungnahme des Interkulturellen Rates, des DGB-Bun-
desvorstands – Bereich Migrations- und Antirassismuspolitik – und von Pro
Asyl von Ende Februar 2007: „Nicht Weltoffenheit und Toleranz prägen diese
Politik, sondern grundsätzliches Misstrauen und der Geist der weiteren Abschot-
tung. Die Verschärfungen in dem Gesetzentwurf reihen sich ein in beabsichtigte
oder bereits realisierte Maßnahmen, die vorgeblich der Integration dienen sol-
len, tatsächlich aber Migranten und Flüchtlinge ausgrenzen.“

Die gesetzlichen Verschärfungen treffen in erster Linie die sozial Benachtei-
ligten unter den Nichtdeutschen. Schon immer droht Migrantinnen/Migranten
die Ausweisung bzw. wird ihren Ehegatten die Einreise nach Deutschland ver-
sagt, wenn sie arbeitslos oder auf staatliche Hilfsleistungen angewiesen sind.
Diese Regelungen entsprechen nicht nur einem neoliberalen Politikverständnis,

das Menschen individuell für ihre ökonomische Notlage verantwortlich macht
und gesellschaftliche Ursachen hierfür bzw. die staatliche Verpflichtung zur

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/5108

Herstellung gerechter Lebensverhältnisse und zur Sicherung menschenwürdi-
ger Lebensbedingungen für alle Bewohnerinnen/Bewohner des Landes leugnet.
Sie sind im Kern auch rassistisch, denn sie treffen nur „Ausländerinnen/Aus-
länder“. Der Kern des Rassismus liegt allerdings offen zu Tage, wenn künftig
auch deutschen Staatsangehörigen das Recht verwehrt werden können soll, mit
ihren Ehe- bzw. Lebenspartnerinnen/Lebenspartnern in Deutschland zusammen-
zuleben – allerdings nur, wenn es sich um Eingebürgerte mit noch einer ande-
ren Staatsangehörigkeit handelt. Laut Gesetzbegründung zu § 28 AufenthG-E
soll der Zwang, Deutschland zu verlassen, wenn Eingebürgerte in Zeiten ihrer
Arbeitslosigkeit oder prekären Beschäftigung mit ihren ausländischen Lebens-
partnerinnen/Lebenspartnern zusammenleben wollen, ein „Anreiz zur Integra-
tion“ sein, was in anderen Worten Zweierlei bedeutet: 1. Nicht einmal nach
ihrer Einbürgerung gelten Deutsche mit Migrationshintergrund als „integriert“.
2. „Integration“ wird mit „eigenständiger Lebensunterhaltssicherung“ gleichge-
setzt.

Auch die „Altfallregelung“ der §§ 104a und 104b AufenthG-E ist von einer
sozialen Selektionslogik getragen: Ein Bleiberecht soll nicht nach humanitären
oder menschenrechtlichen Gesichtspunkten, sondern ausschließlich nach
„Nützlichkeitskriterien“ gewährt werden, d. h. nur, wenn es sich „rechnet“. Ge-
nauso wird schließlich die Einreisevoraussetzung von Sprachkenntnissen beim
Ehegattennachzug vor allem sozial Benachteiligte treffen, nämlich Diejenigen,
die sich einen Deutschkurs nicht leisten oder im Ausland angebotene Sprach-
kurse nicht erreichen können, weil sie nicht in den Städten leben, in denen diese
angeboten werden.

Mit dem Gesetzentwurf werden politischer Populismus und Stammtisch-
parolen in bedenklicher Weise in eine Gesetzesform gegossen, wenn etwa in
der Begründung von einer „direkten Zuwanderung in die sozialen Sicherungs-
systeme“ die Rede ist, womit abermals Menschen zu reinen „Kostenfaktoren“
herabgewürdigt werden.

Der vorliegende Gesetzentwurf stellt – dies haben die 21 am Integrationsgipfel
bzw. den Arbeitsgruppen zum nationalen Integrationsprogramm beteiligten
Organisationen in ihrem Offenen Brief an Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
deutlich zum Ausdruck gebracht – die Ernsthaftigkeit des offiziellen Bekennt-
nisses zur „Integration“ der in Deutschland lebenden Migrantinnen/Migranten
massiv in Frage. Umso bedrohlicher ist es, wenn nun sogar der Kampfbegriff der
„deutschen Leitkultur“, der für ein Dominanzdenken in völkischer Tradition
steht, wieder hoch-offiziell in die Debatte eingebracht wird: In einem ersten
Thesenpapier des Bundesministeriums des Innern im Rahmen der Arbeits-
gruppe (AG) der Islamkonferenz „Deutsche Gesellschaftsordnung und Werte-
konsens“ (vgl. die tageszeitung vom 7. April 2007) wird die Forderung nach
einer Anpassung an die „kulturelle Leitorientierung der Mehrheitsgesellschaft“
erhoben. Der in der AG mitarbeitende Islamwissenschaftler Jamal Malik beklagt
in diesem Zusammenhang zu Recht ein ausgrenzendes Muster der Integrations-
bzw. Islamdebatte, in der die stete Betonung von Selbstverständlichkeiten – dass
sich z. B. alle an das Grundgesetz halten müssen – ein „negatives Signal an die
breite Öffentlichkeit“ aussendet und damit unterstellt wird, „dass sich Muslime
nicht an das Grundgesetz halten“ (zit. nach ebd.).

Die so genannte Evaluation des neuen Zuwanderungsgesetzes, bei der sich fak-
tisch ein Ministerium selbst „prüfte“, war eine Farce. Nahezu allen Forderun-
gen der Verwaltung nach Gesetzesverschärfungen wurde beinahe blind gefolgt,
während qualifiziert vorgetragene Warnungen und Forderungen von nichtstaat-
lichen Organisationen, Kirchen, dem UNHCR usw. umfassend ignoriert wurden.
Eine unabhängige, fachlich-wissenschaftlich und menschenrechtlich fundierte
Evaluation des Zuwanderungsgesetzes hätte zu diametral entgegengesetzten

Ergebnissen kommen müssen. Bezeichnend für den Charakter des Evaluations-
berichts ist etwa die Handlungsempfehlung, die Regelung über eine Aufent-

Drucksache 16/5108 – 8 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
haltsgewährung bei vorübergehendem Aufenthalt nach § 25 Abs. 4 Satz 1
AufenthG auf nicht vollziehbar ausreisepflichtige Personen einzuschränken mit
der Begründung, dass sich in der oberverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung
die (gegenteilige) Tendenz abzeichne, diese Regelung auch auf vollziehbar Aus-
reisepflichtige anzuwenden (vgl. Evaluationsbericht, S. 70). Der Rechtspre-
chung soll also nur dann gefolgt werden, wenn sie der eigenen, vorgefertigten
Auffassung entspricht und weitere Restriktionen zu begründen vermag. Die
nunmehr geplante Neufassung des § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG-E ist nahezu
unanwendbar, was den Autorinnen/Autoren des Evaluationsberichts bewusst
war (vgl. ebd., 68).

Hinsichtlich der mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verweigerten Umsetzung
von Artikel 15 Abs. 2 bzw. 17 bis 20 der EU-Aufnahmerichtlinie in Bezug auf
die speziellen Rechte von Personen mit besonderen Bedürfnissen (Minderjäh-
rige, Opfer von Folter und Gewalt usw.) muss darauf verwiesen werden, dass
die Begründung des Evaluationsberichts des Bundesministeriums des Innern zu
diesem Punkt fehlerhaft ist (vgl. dort S. 243 f.). Zum einen wird verkannt, dass
erforderliche therapeutische Behandlungen etwa für traumatisierte Flüchtlinge
auf der Grundlage des jetzigen § 6 Abs. 1 AsylbLG in der sozialbehördlichen
Praxis nur sehr zögerlich, zurückhaltend und willkürlich gewährt (bzw. auch
versagt) werden und deshalb eine gesetzliche Klarstellung zur Richtlinien-
umsetzung dringend erforderlich ist, wie etwa vom UNHCR in seiner Stellung-
nahme vom November 2005 vorgeschlagen. Zum zweiten geht der im Evalua-
tionsbericht enthaltene Hinweis aber auch fehl, wonach die ausdrückliche
Benennung von Personen mit besonderen Bedürfnissen in § 6 Abs. 2 AsylbLG
eine Öffnungsklausel für die Behördenpraxis im Sinne der Erfordernisse der
Aufnahmerichtlinie darstelle und deshalb kein Handlungsbedarf bestehe
(a. a. O.). Denn die Regelung des § 6 Abs. 2 AsylbLG gilt ausdrücklich nur für
solche Personen, die einen vorübergehenden Schutzstatus nach der EU-Richt-
linie 2001/55/EG i. V. m. § 24 Abs. 1 AufenthG erhalten haben. Da diese euro-
päische Regelung bis heute aber niemals angewandt wurde, entfaltet § 6 Abs. 2
AsylbLG hinsichtlich der Anforderungen, die sich für den deutschen Gesetz-
geber aus der Aufnahmerichtlinie ergeben, keinerlei Wirkung.

Die Begründung zur Verlängerung der Mindestdauer gekürzter Leistungen nach
dem Asylbewerberleistungsgesetz von 36 auf 48 Monate (vgl. § 2 AsylbLG-E)
widerspricht sogar den Ergebnissen des ministeriellen Evaluationsberichts, in
dem es auf Seite 242 heißt, dass sich die 36-Monatsfrist bewährt habe und ab
diesem Zeitraum den Betroffenen die Mittel für sozialkulturelle Angebote un-
serer Gesellschaft gewährt werden müssten. Allerdings wurde dieser Zeitraum
seit Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes im Jahr 1993 kontinuierlich
und willkürlich von einem auf drei bzw. auf nunmehr vier Jahre erhöht. Dies
zeigt, dass nicht der behauptete Gesetzeszweck des Asylbewerberleistungsge-
setzes – die Sicherstellung des Existenzminimums hilfebedürftiger Menschen
mit ungesichertem Aufenthaltsrecht – die Dauer der sozialrechtlichen Un-
gleichbehandlung von Schutzsuchenden bestimmt, sondern vielmehr politische
Motive der Abschreckung und populistischen Profilierung.

Nach einer Meldung des „DER SPIEGEL“ vom 27. Januar 2007 hat das Bundes-
ministerium der Justiz „weite Teile“ des Gesetzentwurfs „unter anderem wegen
verfassungsrechtlicher Einwände zurück[gewiesen]“, etwa wegen der Sprachfor-
derungen beim Ehegattennachzug und der Bußgeldregelungen bei Integrations-
kursen. Der Eindruck drängt sich auf, dass die Bedenken des Bundesministe-
riums der Justiz vom Bundesministerium des Innern nicht ernst genommen
wurden. Denn eine fundierte Auseinandersetzung mit den verfassungsrecht-
lichen Bedenken bzw. den verfassungsgerichtlichen Vorgaben zum Ehegatten-
nachzug (auch zu Deutschen) findet in der Gesetzesbegründung nicht statt.

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