BT-Drucksache 16/492

Auffanglager für Flüchtlinge in Afrika und Osteuropa

Vom 27. Januar 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/492
16. Wahlperiode 27. 01. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Heike Hänsel, Ulla Jelpke, Dr. Hakki Keskin, Sevim Dagdelen,
Hüseyin-Kenan Aydin, Michael Leutert und der Fraktion DIE LINKE.

Auffanglager für Flüchtlinge in Afrika und Osteuropa

Die Innen- und Justizminister der EU-Mitgliedstaaten verständigten sich auf
ihrem Treffen Mitte Januar 2006 in Wien darüber, dass die EU möglichst bald
damit beginnen solle, in Zusammenarbeit mit der UN so genannte Regionale
Schutzzentren in den Heimatregionen von Flüchtlingen zu errichten. Bereits für
Juni wurde der Start erster Pilotprojekte angekündigt. Die Vorbereitungen dazu
sind in Tansania, in der Ukraine und in Moldawien bereits in vollem Gange. In
diesen „Schutzzentren“ wolle man Flüchtlinge „über ihre Situation aufklären
und sie davon abbringen, sich auf den gefährlichen Weg nach Europa zu
machen“ (tagesschau.de, 13. Januar 2005). Grundlage der Planungen ist die Mit-
teilung der Europäischen Kommission vom 1. September 2005 (KOM(2005)
388), in der sie die Einrichtung so genannter Regionaler Schutzprogramme (Re-
gional Protection Programmes; RPP) ankündigt. Diese „Regionalen Schutzpro-
gramme“ sollen, so die Kommission, die „Schutzkapazität von Drittländern“
stärken und zugleich „dem Gastland Nutzen bringen“. Die RPP werden damit zu
einem europäischen Beitrag zur Entwicklung der betroffenen Staaten erklärt.
Ihre Finanzierung soll aus Mitteln bereits bestehender flüchtlings- und struktur-
politischer Programme (AENEAS, TACIS) erfolgen. In der Mitteilung heißt es
weiter: „Ziel sollte sein, die Voraussetzungen für eine der drei dauerhaften
Lösungen zu schaffen, d. h. Rückkehr, lokale Integration oder Neuansiedlung.“

Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen lehnen die „Schutzzentren“ als
weitere Abschottung des EU-Raums ab. Der Schwerpunkt der RPP liegt offen-
sichtlich weniger auf dem Schutz der Flüchtlinge und der Wahrung und Geltend-
machung ihrer Rechte, als vielmehr darauf, sie möglichst davon abzuhalten,
nach Europa weiterzureisen. Die EU-Staaten schieben ihre Verantwortung,
Flüchtlingen Schutz zu gewähren, von sich weg in Länder, die dieser Verantwor-
tung aufgrund ihrer strukturellen Probleme nicht gerecht werden können, argu-
mentiert beispielsweise Amnesty International. In der Konsequenz würden in-
ternationale Standards im Umgang mit Flüchtlingen und grundlegende Rechte
von Flüchtlingen in Frage gestellt. Pro Asyl stellt die Einrichtung der Schutz-
zentren in den Zusammenhang einer zunehmend restriktiveren EU-Flüchtlings-
politik, wie sie sich unter anderem im Umgang mit Flüchtlingen in Ceuta und
Melilla sowie in Lampedusa manifestiert, und resümiert: „Im Zuge der Debatte

über diese vermeintlichen ‚Schutzkonzepte‘ hat sich nur die Gewichtung ver-
schoben: Europa baut Menschenrechts- und Schutzstandards ab und verlagert
die Verantwortung für den Flüchtlingsschutz in Transitstaaten und noch mehr als
bisher in die Herkunftsregionen.“

Im selben Zusammenhang weisen Kritiker darauf hin, dass bereits durch beste-
hende Regelungen zu den so genannten Drittstaaten und „sicheren Herkunfts-

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staaten“ und die darauf beruhende Asylpraxis Artikel 33 der Genfer Flüchtlings-
konvention (Verbot der Ausweisung und Zurückweisung, so genanntes
Refoulement-Verbot) in Frage gestellt ist. Von der jetzt angestrebten Harmoni-
sierung der Europäischen Flüchtlingspolitik, wie sie auf dem Innen- und Justiz-
ministertreffen in Wien anvisiert wurde, befürchten sie einen weiteren Abbau
von Rechten von Flüchtlingen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Pilotvorhaben zu den „Regionalen Schutzprogrammen“ in 2006 sind
von der Europäischen Kommission beim informellen Treffen der Innen- und
Justizminister der Europäischen Union in Wien am 13./14. Januar 2006 ge-
nannt worden, die mit den Mitteln der AENEAS-Verordnung verwirklicht
werden sollen?

2. In welchen Staaten außer in Libyen gibt es bereits Einrichtungen, die als Vor-
bild für die genannten „Schutzzentren“ dienen könnten (bitte möglichst ge-
naue Angaben), und wo werden weitere geplant?

3. Welche Rolle nehmen innerhalb der Planung und Durchführung der „Regio-
nalen Schutzprogramme“ Nichtregierungsorganisationen wie die Internatio-
nal Organization for Migration (IOM) und internationale Organisationen wie
das UNHCR genau ein?

4. Plant die Bundesregierung, alle Staaten, in denen solche „Regionalen Schutz-
zonen“ eingerichtet werden, als „sichere Drittstaaten“ zu deklarieren, und
welche Kriterien sollen nach Meinung der Bundesregierung für die Auswahl
eines RPP-Standorts herangezogen werden?

5. Wie beurteilt die Bundesregierung den Einwand, dass die Flüchtlinge in den
„Schutzzentren“, die nicht weit entfernt von den Krisenregionen angesiedelt
sind, aus denen sie fliehen, möglicherweise nicht im selben Maße geschützt
sind, wie sie es in Europa wären – angesichts von Berichten des UNHCR,
dass beispielsweise im Pilotprojekt-Land Tansania Flüchtlinge mit physi-
scher Gewalt, akutem Versorgungsmangel (Betten, Kleidung, Medikamente,
Nahrung) und Unsicherheiten bezüglich ihres Status als Flüchtlinge konfron-
tiert sind?

6. Wie beurteilt die Bundesregierung den Einwand, eine große Anzahl an
Flüchtlingen, in strukturell bereits unterversorgten Regionen und in der Nähe
von Krisengebieten auf engem Raum untergebracht, könnte destabilisierend
auf die Gastregion wirken?

7. Wo und durch die Behörden welches Staates sollen die Antragsstellung und
Bearbeitung von Asylanträgen von Flüchtlingen, die in den so genannten
Schutzzentren untergebracht sind, stattfinden, und welche staatlichen Stellen
welches Landes sollen entscheidungsberechtigt sein?

8. Wie beurteilt die Bundesregierung das Risiko, mit einer Auslagerung des
Asylverfahrens in Drittländer könnten die Garantien und Grundrechte des In-
dividuums, wie sie in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
und in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und
Grundfreiheiten festgeschrieben sind und wozu unter anderem das Recht auf
Asyl und das Recht, an den Grenzen nicht zurückgewiesen zu werden, gehö-
ren, Schaden nehmen?

9. Welche Erfahrungen aus der diesbezüglichen Zusammenarbeit zwischen Ita-
lien und Libyen gibt es, und wie werden sie in der Haltung der Bundesregie-
rung zu den RPP berücksichtigt?

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10. Mit welchen Maßnahmen will die Bundesregierung die im Aktionsplan der
Europäischen Kommission vorgesehene „lokale Integration“ von Flüchtlin-
gen in den „Regionalen Schutzzonen“ unterstützen und inwiefern plant die
Bundesregierung, diese Maßnahmen zum Bestandteil der Entwicklungszu-
sammenarbeit in den betroffenen Ländern zu machen?

11. Welche Position nimmt die Bundesregierung gegenüber der auf dem oben
genannten informellen Treffen geäußerten Forderung des Hohen Flücht-
lingskommissars António Guterres ein, die EU-Staaten müssten einen glo-
balen Ansatz zur Bekämpfung der Ursachen von Migration erarbeiten und
auch legale Möglichkeiten der Einwanderung schaffen?

12. Wird es in diesem Zusammenhang gemeinsame Anstrengungen der EU-
Staaten geben, mehr Mittel im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit
zur Verfügung zu stellen, deren Abruf durch die Entwicklungsländer nicht
von der Errichtung von „Schutzregionen“ oder sonstiger Zusammenarbeit
im Bereich der Flüchtlingspolitik abhängig gemacht wird, wie dies im
Rahmen der AENEAS-Verordnung geschieht?

13. Welche Vorstellungen gibt es seitens der Bundesregierung bezüglich der im
Aktionsplan der Europäischen Kommission vorgesehenen Neuansiedlung
von Flüchtlingen aus den „Regionalen Schutzzonen“ in Mitgliedstaaten der
EU (vgl. KOM(2005)338, S. 4 f.) und der Kriterien, nach denen die in der
EU anzusiedelnden Flüchtlinge aus den Schutzzonen bestimmt werden
sollen?

14. Wie wird die Bundesregierung sicherstellen, dass auch Flüchtlinge, die
spontan (also nicht im Rahmen der Neuansiedlung) aus den als Schutzzonen
deklarierten oder diesen benachbarten Regionen stammen bzw. deren
Fluchtweg durch solche Gebiete führte, bei Ankunft in einem Mitgliedstaat
der EU keine Überstellung in das betreffende Herkunfts- bzw. Transitland
befürchten müssen, dass also in vollem Umfang das Refoulement-Verbot
der Genfer Flüchtlingskonvention greift?

15. Inwiefern trägt nach Meinung der Bundesregierung die Abschottung des
EU-Raums gegenüber Zuwanderung und Migration dazu bei, dass der Weg
in die EU-Mitgliedstaaten für Flüchtlinge zu einem gefährlichen Unterneh-
men wird, wenn die EU mit ihren RPP die Flüchtlinge von dem „gefähr-
lichen Weg nach Europa“ abhalten will (tagesschau.de vom 13. Januar
2005)?

Berlin, den 26. Januar 2006

Heike Hänsel
Ulla Jelpke
Dr. Hakki Keskin
Sevim Dagdelen
Hüseyin-Kenan Aydin
Michael Leutert
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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