BT-Drucksache 16/4864

Vorschläge des Sachverständigenrates aufgreifen - Tarifrecht flexibilisieren, auf Mindestlöhne verzichten, Bürgergeld einführen

Vom 28. März 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4864
16. Wahlperiode 28. 03. 2007

Antrag
der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, Birgit Homburger,
Jens Ackermann, Christian Ahrendt, Daniel Bahr (Münster), Uwe Barth,
Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, Patrick Döring,
Mechthild Dyckmans, Jörg van Essen, Ulrike Flach, Horst Friedrich (Bayreuth),
Dr. Edmund Peter Geisen, Hans-Michael Goldmann, Miriam Gruß, Joachim
Günther (Plauen), Dr. Christel Happach-Kasan, Heinz-Peter Haustein, Elke Hoff,
Dr. Werner Hoyer, Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin, Heinz Lanfermann,
Sibylle Laurischk, Ina Lenke, Michael Link (Heilbronn), Horst Meierhofer,
Jan Mücke, Burkhardt Müller-Sönksen, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Detlef Parr,
Cornelia Pieper, Gisela Piltz, Jörg Rohde, Frank Schäffler, Dr. Rainer Stinner,
Carl-Ludwig Thiele, Florian Toncar, Christoph Waitz, Dr. Claudia Winterstein,
Dr. Volker Wissing, Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Martin Zeil, Dr. Guido Westerwelle
und der Fraktion der FDP

Vorschläge des Sachverständigenrates aufgreifen – Tarifrecht flexibilisieren,
auf Mindestlöhne verzichten, Bürgergeld einführen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Als Reaktion auf die Herausforderungen einer europäischen Erweiterung wird
innerhalb der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, der Bundesregierung und der
Gewerkschaften die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne diskutiert. Mit der
Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf andere Branchen sollen
deutsche Arbeitnehmer vor einem zunehmenden Wettbewerbsdruck aufgrund
deutlich niedrigerer Löhne vor allem aus den EU-Beitrittsländern geschützt
werden.

Ein Mindestlohn verhindert jedoch die dringend erforderliche weitere Lohn-
spreizung. Mindestlöhne zur Verhinderung der Konkurrenz durch ausländische
Arbeitnehmer und eine Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, darauf
weist der Sachverständigenrat ausdrücklich hin, stellen protektionistische Maß-
nahmen dar: „Im übertragenen Sinne handele es sich dabei um Einfuhrzölle auf
den ausländischen Faktor Arbeit.“ Konsequenz einer Eindämmung des Wett-
bewerbs durch Mindestlöhne sind nach Beurteilung des Sachverständigenrates

erhebliche Wohlfahrtseinbußen, auch für Arbeitnehmer als Konsumenten.

Allein eine Abschottung einzelner Branchen in Deutschland wird dauerhaft das
Problem des Abbaus von Arbeitsplätzen in lohnintensiven Sektoren sowie vor
allem im Niedriglohnbereich nicht lösen. Jeder Mindestlohn, ob kollektiv oder
staatlich vorgeschrieben, grenzt einen unteren Produktivitätsbereich aus dem
Arbeitsmarkt aus. Schon jetzt wirken die staatlichen Transfers der sozialen

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Sicherung in Deutschland faktisch wie ein Mindestlohn. Überproportionale
Lohnerhöhungen oder Sockellohnanhebungen haben schon in der Vergangen-
heit dazu geführt, dass gering qualifizierte Beschäftigung verdrängt wurde.
Konsequenz ist die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland und die Abwan-
derung in die Schwarzarbeit. Opfer von gesetzlichen Mindestlöhnen sind in ers-
ter Linie Langzeitarbeitslose, die kaum mehr eine Aussicht auf neue Beschäfti-
gung auf dem ersten Arbeitsmarkt haben.

Der Einführung von Mindestlöhnen ist daher eine deutliche Absage zu erteilen.
Statt Mindestlöhne einzuführen, ist durch das liberale Bürgergeld ein Min-
desteinkommen zu gewährleisten.

Deutschland braucht einen funktionsfähigen Niedriglohnsektor. Es müssen die
Voraussetzungen geschaffen werden, die die Aufnahme einer auch nur gering
entlohnten Beschäftigung gegenüber der alleinigen Inanspruchnahme staatlicher
Transferleistungen attraktiver machen. Die bestehenden Regelungen zur sozia-
len Absicherung müssen vereinfacht und unbürokratischer ausgestaltet werden.

Der richtige Weg ist die Einführung des liberalen Bürgergeldes, das den Prinzi-
pien der sozialen Marktwirtschaft Rechnung trägt. Nach dem Prinzip der Hilfe
zur Selbsthilfe soll der Sozialstaat jedem Bürger die Chance sichern, so weit wie
möglich aus eigener Kraft ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.

Um diese Prinzipien wieder in Kraft zu setzen, muss das gesamte Sozialsystem
modernisiert werden: Möglichst alle steuerfinanzierten sozialen Hilfen des Staa-
tes müssen auf die Bedürftigkeit der Bürger ausgerichtet, pauschaliert und in
einem Universaltransfer, dem Bürgergeld, zusammengeführt werden. Darüber
hinaus wird das Bürgergeld mit der Einkommensteuer zu einem Steuer-Trans-
fer-System aus einem Guss verbunden. Steuern und soziale Hilfen werden im
Finanzamt miteinander verrechnet. Bürger mit höherem Einkommen zahlen
Steuern an das Finanzamt, Bürger mit niedrigem oder gar keinem Einkommen
bekommen das Bürgergeld als eine negative Einkommensteuer ausbezahlt.

Durch die Zusammenfassung der verschiedenen steuerfinanzierten Sozialleis-
tungen und durch Pauschalierungen wird das Sozialsystem für die Bürger über-
schaubar und transparent. Zudem wird ausgeschlossen, dass staatliche Hilfen zu
Unrecht mehrfach in Anspruch genommen werden können.

Das Bürgergeld setzt das Leistungsprinzip auch im Niedriglohnbereich wieder
in Kraft: Derjenige, der arbeitet, bekommt spürbar mehr als derjenige, der nicht
arbeitet. Dafür bedarf es fairer und zugleich durchschaubarer Hinzuverdienst-
möglichkeiten. Diese müssen so ausgestaltet werden, dass sie Arbeitslose zur
Aufnahme einer Beschäftigung aktivieren.

Durch das Bürgergeld wird die Nachfrage Arbeitsloser und das Angebot der Un-
ternehmen an Arbeitsplätzen im Niedriglohnbereich gesteigert. Aus Sicht des
Arbeitnehmers wird ein für ihn nicht existenzsichernder Lohn durch das Bürger-
geld ergänzt und somit attraktiv. Arbeitgeber werden – die notwendige Lohn-
öffnung der Tarife vorausgesetzt – vermehrt Arbeit für nicht oder gering quali-
fizierte Bürgergeldempfänger anbieten, deren Arbeitskraft eine nicht existenz-
sichernde Wertschöpfung hat.

Die in Deutschland anhaltend hohe Arbeitslosigkeit wird durch das geltende
Tarifvertragsystem mit verursacht. Angesichts der Globalisierung und der be-
trieblichen wie regionalen Unterschiede müssen wir auf die veränderte Arbeits-
welt reagieren und zukunftsfähige Lösungen für die strukturellen Probleme des
Arbeitsmarktes finden.

Die angesichts des Umbruchs der politischen und sozialökonomischen Rahmen-
bedingungen berechtigte Kritik an Überregulierung, mangelnder Flexibilität und

unzureichender Differenzierung der Tarifverträge zwingt zu einem Umdenken.
Wir müssen weg von der herkömmlichen Form des starren Flächentarifver-

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trages, hin zu mehr Entscheidungskompetenz auf betrieblicher Ebene. Wir brau-
chen mehr Flexibilität und nicht mehr Regulierung, um Arbeitsplätze in
Deutschland zu schaffen und erhalten zu können. Dazu gehören Vereinbarungen
zur Lohn- und Arbeitszeitflexibilisierung, die sich an den betrieblichen Notwen-
digkeiten orientieren.

Den Tarifvertragsparteien kommt dabei eine besondere Verantwortung zu. Sie
haben es in der Hand, die Tarifverträge so auszugestalten, dass sie wieder lesbar,
transparent und vor allem flexibler werden. Der Sachverständigenrat zur Begut-
achtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat in seinem Jahresgutachten
2006/2007 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich die Verantwortung der
Tarifvertragsparteien auch auf eine hinreichende Spreizung der qualifikatori-
schen Lohnstruktur, vor allem im Niedriglohnbereich, erstreckt: „Bemühungen,
die Anreize zur Aufnahme einer Arbeit im Niedriglohnbereich zu stärken, blei-
ben erfolglos, wenn die Lohnkosten die dort erwirtschaftbaren Produktivitäten
übersteigen und es daher an den dringend erforderlichen Arbeitsplätzen
mangelt… Ein Arbeitsplatz selbst mit einer sehr geringen Entlohnung bei
gleichzeitiger Aufstockung zu einem Mindesteinkommen ist besser als eine auf-
grund zu hoher Arbeitskosten erzwungene Untätigkeit.“

Mutigen, innovativen Unternehmen und Arbeitnehmern, die ausgetretene Pfade
verlassen möchten, muss es möglich sein, auch durch betriebliche Vereinbarun-
gen rechtlich abgesichert den besonderen Bedingungen vor Ort Rechnung zu
tragen. Gerade sie benötigen mehr Freiheit bei Arbeitszeitbedingungen und
Löhnen, damit sich diese wieder an der Produktivität orientieren können. Wir
brauchen Öffnungsklauseln für betriebliche Bündnisse, damit maßgeschneiderte
Lösungen vor Ort zum Abbau der Arbeitslosigkeit beitragen können. In einem
flexibleren Arbeitsmarkt können Unternehmen schneller auf sich verändernde
Wettbewerbsverhältnisse reagieren und neue Arbeitsplätze schaffen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf,

– einen grundlegenden Systemwechsel im Sozialsystem hin zu einem transpa-
renten Steuer- und Transfersystem aus einem Guss vorzunehmen (liberales
Bürgergeld), das durch einen gleitenden und lohnenden Übergang in die Er-
werbstätigkeit aktivierend wirkt;

– Forderungen nach gesetzlichen Mindestlöhnen oder nach Ausdehnung des
Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf andere Branchen eine klare Absage zu
erteilen;

– das Tarifvertragsrecht wie folgt zu ändern:

● § 1 Abs. 1 des Tarifvertragsgesetzes wird um die Zielvorgabe ergänzt,
dass der Tarifvertrag die Beschäftigungserhaltung und -förderung zu be-
achten hat.

● In § 3 Abs. 3 des Tarifvertragsgesetzes wird die Bindungswirkung eines
Entgelttarifvertrags auf maximal ein halbes Jahr, eines Manteltarifvertrags
auf maximal ein Jahr nach Austritt eines Unternehmers aus dem
Arbeitgeberverband befristet.

Die bestehende Regelung bewirkt, dass Unternehmen insbesondere bei
Manteltarifverträgen über Jahre hinweg an die Regelungen des Tarifver-
trags gebunden bleiben, auch wenn die den Manteltarifverträgen zugrunde
liegenden Prognosen deutlich von den betrieblichen Entwicklungen ab-
weichen. Austritte aus dem Arbeitgeberverband sind ein Mittel, sich die-
ser Tarifbindung zu entziehen. In der Praxis gibt es häufig Unsicherheiten
darüber, wann der Zeitraum eines Tarifvertrags endet. Daher sollte die

Wirkung von § 3 Abs. 3 des Tarifvertragsgesetzes gesetzlich befristet wer-
den. Die betriebliche Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen wird hier-

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durch erleichtert, da Arbeitgeber und Betriebsrat nach Austritt des Arbeit-
gebers aus dem Arbeitgeberverband schneller vom Tarifvorrang des § 87
Abs. 1 des Betriebsverfassungsgesetzes befreit sind und die mitbestim-
mungspflichtigen Angelegenheiten eigenständig regeln können.

● In § 4 Abs. 3 des Tarifvertragsgesetzes wird das Günstigkeitsprinzip inso-
fern ergänzt, dass sich ein Lohnverzicht eines Arbeitnehmers oder eine
längere Arbeitszeit dann als günstiger darstellen, wenn dies den Erhalt des
Arbeitsplatzes sichert oder die Schaffung neuer Arbeitsplätze ermöglicht
und der Betriebsrat oder 75 Prozent der abstimmenden Mitarbeiter dem
zugestimmt haben.

Das Günstigkeitsprinzip nach § 4 Abs. 3 des Tarifvertragsgesetzes wird
bislang einseitig so ausgelegt, dass höhere Löhne und kürzere Arbeitszei-
ten als günstiger eingestuft werden. Je nach Arbeitsmarktsituation können
sich jedoch ein Lohnverzicht des Arbeitnehmers bzw. längere Arbeitszei-
ten, die zum Erhalt des Arbeitsplatzes bzw. zur Schaffung von Arbeitsplät-
zen führen, als günstiger darstellen.

● § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes wird insofern geändert, dass
vom Tarifvertrag abweichende Vereinbarungen auf betrieblicher Ebene
zwischen Unternehmen und Belegschaftsvertretung möglich sind, die
freiwillig geschlossen werden und denen der Betriebsrat oder 75 Prozent
der abstimmenden Mitarbeiter des Unternehmens zugestimmt haben.

● Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 des Tarifvertragsgesetzes
wird abgeschafft.

● Warnstreiks sind erst dann zulässig, wenn ihnen ein obligatorisches
Schlichtungsverfahren vorausgegangen ist (keine Zwangsschlichtung).

Berlin, den 28. März 2007

Dr. Guido Westerwelle und Fraktion

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