BT-Drucksache 16/4646

Situation der Anlegerinnen und Anleger in so genannte islamische Holdings

Vom 8. März 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4646
16. Wahlperiode 08. 03. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Hüseyin-Kenan Aydin und der Fraktion
DIE LINKE.

Situation der Anlegerinnen und Anleger in so genannte islamische Holdings

Durch Anlagen in die so genannten islamischen Holdings verloren hundert-
tausende türkischstämmige Migrantinnen und Migranten seit Mitte der 90er
Jahre mehrere Milliarden Euro. Nach Schätzungen des Essener Zentrums für
Türkeistudien (ZfT) beläuft sich die Schadenssumme auf rund 5 Mrd. Euro. Die
Zahl der geschädigten Personen schätzt das Zentrum auf rund 200 000. Die
Türkische Aufsichtsbehörde für den Kapitalmarkt (SPK) geht von 300 000 Ge-
schädigten aus. Bei den „islamischen Holdings“ handelt es sich um in der Türkei
gegründete Teilhabergesellschaften, die sich seit den 90er Jahren im Ausland,
darunter mehrheitlich in Deutschland lebende Anleger suchten. In erster Linie
wurde dabei über Koordinatoren in Moschee-Vereinen Kontakt mit Mig-
rant(inn)en der ersten Generation aufgenommen. Mit zweistelligen Renditever-
sprechen und dem Hinweis, dabei handele es sich um eine alternative Anlage-
form, die mit dem vom Koran geforderten Zinsverbot übereinstimme, wurden
mehrere Hunderttausend Menschen geködert. Mit dem Geld der Anleger(innen)
sollten Investitionen in Unternehmen getätigt, Fabrikanlagen gekauft und
Arbeitsplätze geschaffen werden. Nachdem die ersten Holdings bereits Ende der
90er Jahre Konkurs anmeldeten, fragten die Anleger(innen) bei den Gesellschaf-
ten nach ihren Anlagen und wurden vertröstet. Das ZfT ermittelte 52 Teilhaber-
gesellschaften. Der vom Türkischen Parlament eingerichtete Untersuchungs-
ausschuss, der die Aktivitäten der so genannten islamischen Holdings unter die
Lupe nahm, beziffert ihre Zahl auf 78. Die meisten der kleineren Holdings exis-
tieren heute nicht mehr. Die größten Holdings wie die Kombassan- und die
Yimpas-Gruppe haben sich in die Türkei zurückgezogen und ihre Niederlassun-
gen in Deutschland geschlossen. Trotz mehrerer Gerichtsurteile wie beispiels-
weise das vom OLG Köln (vom 5. April 2005, Az.: 15U153/04), in denen der
Straftatbestand des Betrugs für erfüllt befunden wurde und die Holdings zur
Rückzahlung der Anlagen verpflichtet wurden, können die Anleger(innen) ihren
Anspruch nicht mehr geltend machen, weil die Holdings wie beispielsweise die
Yimpas Verwaltungs GmbH in Offenbach bzw. später in Frankfurt/Main teil-
weise Konkurs angemeldet haben. Auch wenn dieser Anlagenskandal von der
deutschen Öffentlichkeit unbemerkt seine Kreise zieht, wurden verschiedene
Bundes- bzw. Landesstellen auf den Sachverhalt aufmerksam. In der ARD-Sen-

dung „FAKT“ vom 31. März 2003 wurde ein Ermittlungsbericht des Bundes-
kriminalamtes zitiert, in dem der Kombassan Holding (etwa 35 000 Teilhaber in
Deutschland), „intensive Kontakte zu Milli Görüs“ bescheinigt werden. In der-
selben Sendung sagte Rüdiger Hesse vom Verfassungsschutz Niedersachsen
Folgendes: „Offiziell gibt es immer wieder Hinweise aus der Organisation Milli
Görüs, dass hier keine Verbindungen bestehen, tatsächlich wissen wir seit
langem von den engen Verbindungen dieser Holdings zu Milli Görüs.“ Ferner

Drucksache 16/4646 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

wurde in der Sendung der bayerische Innenminister Günter Beckstein inter-
viewt, der zu dem Sachverhalt folgendermaßen Stellung nahm: „Es ist so, dass
führende Leute von Milli Görüs für Kombassan Anteile verkauft haben, und um-
gekehrt hat Kombassan zur Finanzierung von Milli Görüs hier in Deutschland
aber auch in der Türkei massiv Beiträge geleistet, also es gibt finanzielle und
personelle Verflechtungen in erheblichster Art.“ Laut „Hürriyet“ vom 5. März
2006 erstellte das ZfT einen Bericht für das Innenministerium des Landes Nord-
rhein-Westfalen (NRW), in dem die Aktivitäten der Holdings als „organisiertes
Verbrechen“ tituliert werden. Diese Aussagen und Pressemeldungen lassen die
Schlussfolgerung zu, dass die Bundes- oder Landesregierungen bereits vor Jah-
ren über die Aktivitäten der so genannten islamischen Holdings Kenntnis hatten.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Seit wann und welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über diesen laut
der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ „größten Anlagenskandal, den Deutsch-
land je erlebt hat“ (DIE ZEIT, 9. November 2006, Nr. 46)?

2. Hat die Bundesregierung bisher konkrete Schritte unternommen, um den
Geschädigten zu helfen?

a) Wenn ja, welche?

b) Wenn nein, wie begründet sie es, in diesem Zusammenhang bisher nicht
tätig geworden zu sein?

3. Haben sich von Betroffenen gegründete Selbsthilfegruppen bzw. Geschä-
digtenvereine an die Bundesregierung gewandt und um Unterstützung
gebeten?

Wenn ja, wie hat sie darauf reagiert?

4. Welche Schritte plant die Bundesregierung zu unternehmen, um den Ge-
schädigten, die zu einem beträchtlichen Anteil deutsche Staatsangehörige
sind, zu helfen und die mehreren Milliarden Euro, die dem deutschen Wirt-
schafskreislauf entzogen worden sind, zurück zu den Geschädigten nach
Deutschland zu holen?

5. Wie hoch sind nach Kenntnissen der Bundesregierung

a) die Zahl der in der Bundesrepublik lebenden geschädigten Personen,

b) die Schadenssumme?

6. Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnis darüber, auf welchem Weg
und an wen die Erlöse aus dem Verkauf von Anteilsscheinen im Ausland
geflossen sind?

7. Inwieweit sind der Bundesregierung Pressemeldungen (beispielsweise
„Evrensel“ vom 18. November 2006) bekannt, dass mit dem Transfer der
Gelder politische Parteien und Organisationen im Ausland oder ihnen nahe
stehende Mediengruppen finanziert wurden?

Wenn ja, welche Kenntnisse besitzt die Bundesregierung darüber?

8. In wie vielen Fällen kam es zu Urteilen durch Gerichte in Deutschland, in
denen die Opfer das Recht auf Rückzahlung ihrer angelegten Ersparnisse
zugesprochen bekamen (bitte nach Bundesländern auflisten)?

9. Auf welcher gesetzlichen Grundlage führten die islamischen Holdings ihre
Aktivitäten in der Bundesrepublik Deutschland durch?

10. Welche rechtlichen Handhaben sieht die Bundesregierung, um zukünftig
ähnliche Anlagenskandale zu verhindern?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/4646

11. Teilt sie die Einschätzung,

a) dass die Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) bzw. ihr Vorgänger, das
Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen (BAKred) ihrer Aufsichts-
pflicht nicht nachgekommen und deshalb schadenersatzpflichtig ist?

Wenn nicht, warum?

b) dass mit dem Einlagensicherungsfonds den Opfern geholfen werden
kann?

Wenn nicht, warum?

12. Welche Kenntnisse besitzt sie über die Verbindungen bzw. Kontakte der so
genannten islamischen Holdings zu Organisationen wie Milli Görüs?

13. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus Ermittlungs-
berichten des Bundeskriminalamtes bzw. der Landesverfassungsschutzämter
in Niedersachsen und NRW, in denen diese Verbindungen und Kontakte
zwischen Holdings und der Islamischen Gemeinde Milli Görüs festgehalten
sind?

14. Inwieweit hat sich die Bundesregierung mit der türkischen Regierung in
Verbindung gesetzt, um die Auslieferung des türkischen Staatsbürgers
Dursun Uyar, der per internationalem Haftbefehl der Mannheimer Staats-
anwaltschaft gesucht wird, an Deutschland durchzusetzen?

15. Teilt sie die Einschätzung, dass ein bisher ausstehendes Vollstreckungs- und
Zustellungsabkommen mit der Türkei den Geschädigten helfen könnte?

Wenn ja, sind konkrete Schritte geplant, um die Probleme bei der Anerken-
nung und Vollstreckung von rechtskräftigen deutschen Urteilen in der
Türkei zu lösen?

16. Wie beurteilt die Bundesregierung den Vorwurf des Vorsitzenden des zur Un-
tersuchung des Anlagenbetrugs eingerichteten Ausschusses des Türkischen
Parlaments, Telat Karapinar, die deutschen Behörden hätten sich sehr unsen-
sibel verhalten und seien wenig interessiert gewesen (DIE WELT vom
21. Januar 2006)?

17. Welche Kenntnisse besitzt die Bundesregierung darüber, dass Personen in
führenden Positionen bei Holdings Kontakte zu türkischen Regierungskrei-
sen haben?

Wenn ja, ist geplant, dies bei Gesprächen mit türkischen Regierungsvertre-
tern im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft zu thematisieren?

Wenn nicht, warum?

Berlin, den 6. März 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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