BT-Drucksache 16/3912

Bleiberecht als Menschenrecht

Vom 18. Dezember 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3912
16. Wahlperiode 18. 12. 2006

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau, Sevim Dag˘ delen, Kersten Naumann,
Jan Korte, Wolfgang Neskovic und der Fraktion DIE LINKE.

Bleiberecht als Menschenrecht

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Mit dem Beschluss der Innenministerkonferenz (IMK) vom 16./17. Novem-
ber 2006 in Nürnberg haben es die Innenminister und -senatoren der Länder
nach Jahren der Auseinandersetzung versäumt, eine großzügige und wirk-
same Bleiberechtsregelung für langjährig geduldete und Asyl suchende
Menschen ohne Aufenthaltsrecht in Deutschland zu schaffen. Eine Mehrheit
der Betroffenen wird die strengen Kriterien und Anforderungen dieses Be-
schlusses vermutlich nicht erfüllen können. Die damit verbundene Situation
der Entrechtung wird deshalb für viele Menschen weiter andauern. Dies ist
auch die Kritik von Flüchtlingsräten, Pro Asyl, der Caritas und anderen
Nicht-Regierungsorganisationen.

2. Der Deutsche Bundestag befürwortet deshalb eine gesetzliche Bleiberechts-
regelung, die in ihrer Wirksamkeit weit über den Beschluss der Innenminis-
ter und -senatoren der Länder hinausgeht. In diese Richtung weisende Ge-
setzentwürfe unterschiedlicher Ausprägung der Fraktionen DIE LINKE. und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Bundestagsdrucksache 16/369 und 16/218)
wurden auf der 63. Sitzung des Deutschen Bundestages am 9. November
zwar mit den Stimmen der Regierungsfraktionen abgelehnt, doch einigten
sich diese dann wenige Tage später am 14. November 2006 laut Presse-
berichten grundsätzlich auf Eckpunkte einer zu beschließenden bundes-
gesetzlichen Bleiberechtsregelung. Um auch für die Zukunft Abschiebungen
langjährig im Lande lebender Flüchtlinge ausschließen zu können, bedarf es
einer großzügigen gesetzlichen Bleiberechtsregelung, die auf Stichtage ver-
zichtet und den Betroffenen Rechtsansprüche gewährt (wie in Bundestags-
drucksache 16/369 vorgeschlagen).

3. Der Deutsche Bundestag betont mit Nachdruck, dass die Frage einer gesetz-
lichen Bleiberechtsregelung nicht willkürlich mit anderen aufenthalts- oder
leistungsrechtlichen Fragen verknüpft werden darf. Das Problem der
„Kettenduldungen“ bzw. die Nöte langjährig geduldeter Menschen sind

eine Folge gesetzgeberischer Versäumnisse im Zusammenhang der Ver-
abschiedung des Zuwanderungsgesetzes. Damit steht der Gesetzgeber den
Betroffenen gegenüber in der Pflicht. Die längst überfälligen gesetzlichen
Korrekturen können nicht von Verschlechterungen der Rechtslage in ande-
ren Bereichen abhängig gemacht werden, etwa, wie gefordert, von Be- bzw.
Verhinderungen des Ehegattennachzugs (durch die Einführung von Sprach-
kenntnissen als Einreisebedingung) oder von weiteren Eingriffen in das

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Existenzminimum von De-facto-Flüchtlingen und Asylsuchenden (Aus-
weitung der sozialrechtlichen Ungleichbehandlung nach dem Asylbewerber-
leistungsgesetz auf mindestens vier Jahre). Beide Forderungen dürften einer
verfassungsrechtlichen Prüfung ohnehin nicht standhalten.

4. Der Deutsche Bundestag verurteilt die Praxis vieler Bundesländer bzw. Aus-
länderbehörden in den letzten Monaten, Menschen, die nach den Kriterien
des jetzigen IMK-Beschlusses bzw. einer weitergehenden bundesgesetz-
lichen Regelung absehbar ein Bleiberecht erhalten hätten, dennoch abzu-
schieben. Diese Abschiebungen waren unverhältnismäßig und rechtsstaats-
widrig und wurden von den Betroffenen und von vielen Beobachterinnen
und Beobachtern als eine besondere und „unnötige“ Brutalität und Härte
empfunden. Nicht zuletzt das UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) ap-
pellierte vor diesem Hintergrund an die Länderinnenminister, von Abschie-
bungen potenziell „Begünstigter“ einer künftigen bundesgesetzlichen Blei-
berechtsregelung abzusehen (dpa vom 16. November 2006).

5. Der Deutsche Bundestag stellt fest und verurteilt, dass sowohl die massiv ver-
schärfte Widerrufspraxis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge als
auch die weiterhin völlig ungenügende Gesetzeslage zu „Kettenduldungen“
(insbesondere § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes) kontinuierlich Menschen
in den Zustand der „Kettenduldung“ verstößt. Die mit einer bloßen Duldung
verbundene Entrechtung (Beschränkungen der Bewegungsfreiheit, der Er-
werbstätigkeit, der sozialen und medizinischen Versorgung, des Rechts auf
eine angemessene Unterbringung usw.) und existenzielle Unsicherheit muss
nach Jahren des Aufenthalts als menschenrechtlich untragbar bezeichnet
werden.

6. Der Deutsche Bundestag kritisiert, dass sich der IMK-Bleiberechtsbeschluss
vom 17. November 2006 einseitig nach Maßstäben des nationalen Interesses
und nach ökonomischen Nützlichkeitskriterien richtet, statt die berechtigen
Interessen der Betroffenen und die allgemeinen Menschenrechte in den Vor-
dergrund zu stellen. Die Caritas in Nordrhein-Westfalen hatte im Vorfeld der
IMK an die Innenminister appelliert, sich nicht an „vordergründigen Nütz-
lichkeitserwägungen“, sondern am christlichen Menschenbild zu orientieren
(kna vom 9. November 2006). Der Beschuss der IMK erhebt dementgegen
die bereits erfolgte faktische wirtschaftliche und soziale Integration zum
maßgeblichen Bleiberechtskriterium (vgl. TOP 6, II.1.) und fordert im
Gegenzug die „konsequente“ Abschiebung der „nicht integrierten Ausreise-
pflichtigen“ (ebd., II.2.). Das Thema der „Integration“ wird somit zu Aus-
grenzungszwecken instrumentalisiert, zugleich werden sozialdarwinistische
Vorstellungen in Teilen der Bevölkerung hierdurch verstärkt. In Anbetracht
der bewussten gesetzlichen Ausgrenzung und Des-Integration geduldeter
Menschen ist eine solche „Auslese“ nach Nützlichkeitskriterien auch
zynisch. Die diesbezüglichen Ausnahmeregelungen des IMK-Beschlusses
(ebd., II., 3.2.2.) sind viel zu eng gefasst, insbesondere bei erwerbsunfähigen
und älteren Personen.

7. Der Deutsche Bundestag verurteilt die Redewendung einer „Zuwanderung
in die Sozialsysteme“, die von politisch interessierter Seite in die Debatte
eingeführt wurde und die sich auch in dem Beschluss der IMK vom
17. November 2006 wieder findet (TOP 6, I.). Diese Formulierung bewertet
Menschen vorrangig danach, was sie die Gesellschaft „kosten“, und sie wird
damit dem Grundsatz der Menschenwürde nicht gerecht. Zugleich wird zu-
mindest unterschwellig – und wahrheitswidrig – unterstellt, die Betroffenen
seien wegen des Bezugs von Sozialleistungen nach Deutschland gekommen.
Dabei sind es die gesetzlichen Arbeitsverbote und Einschränkungen für ge-

duldete Menschen und Asylsuchende in Deutschland, die es den Betroffenen
unmöglich machen, für ihren Lebensunterhalt selbst aufzukommen. Indem

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der IMK-Beschluss die Arbeitssuche derjenigen, die über kein eigenes
Erwerbseinkommen verfügen können, unnötig erschwert (Arbeitssuche mit
diskriminierender Duldung bei andauernder Residenzpflicht), werden im
Ergebnis Vorurteile weiter befördert. Zudem soll die Abschiebung von
Menschen, die bei der Arbeitssuche erfolglos bleiben, als gerechtfertigt er-
scheinen. Angesichts einer in der Bevölkerung weit verbreiten Ausländer-
feindlichkeit – gemäß der Studie der Friedrich Ebert Stiftung „Vom Rand
zur Mitte“ (S. 37) stimmten 37 Prozent der Befragten dem Satz zu, „Aus-
länder kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen“ – kommt
der Politik in diesem Zusammenhang eine besondere Verpflichtung zur
Sachlichkeit und Redlichkeit zu.

8. Der Deutsche Bundestag macht darauf aufmerksam, dass es Menschen
nicht vorgehalten werden sollte, wenn sie – aus subjektiver Sicht meist gut
begründeter bzw. zumindest nachvollziehbarer Angst, aus Sicht der Be-
hörden jedoch vorwerfbar – nicht oder unzureichend an ihrer eigenen Ab-
schiebung „mitgewirkt“ oder die Behörden vermeintlich oder tatsächlich
über ihre „wahre Identität getäuscht“ haben. In jedem Fall aber führt eine
solche Ausschlussklausel, wie nach dem Beschluss der IMK vorgesehen
(TOP 6, 6.1. und 6.2.), dazu, dass den Ausländerbehörden ein großes Er-
messen eingeräumt wird, das sie zu einer möglichst restriktiven Umsetzung
des Beschlusses nutzen werden, wie übereinstimmend Erfahrungsberichte
von Flüchtlingsorganisationen über die Praxis der Ausländerbehörden nahe
legen. Dies bedeutet für die Betroffenen eine erhebliche Rechtsunsicher-
heit.

9. Der Deutsche Bundestag stellt fest, dass ein Bleiberecht für langjährig in
Deutschland lebende Menschen nicht nur humanitär begründet ist, sondern
dass es unter bestimmten Bedingungen und insbesondere für hier geborene
und aufgewachsene Kinder und Jugendliche ein Menschenrecht auf Bleibe-
recht geben kann, das nicht im Belieben der Exekutive, Legislative oder
Judikative in Deutschland steht. Der Europäische Gerichtshof für Men-
schenrechte (EGMR) hat mit Urteil vom 16. Juni 2005 (60654/00, Sisojeva
gg. Lettland, in: InfAuslR 9/2005, 349 f.) entschieden, dass eine Auf-
enthaltsbeendigung einen unerlaubten Eingriff in das Privatleben nach
Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) darstellt,
wenn die Betroffenen über „starke persönliche, soziale und wirtschaftliche
Kontakte“ zum Aufnahmestaat verfügen, d. h. dort einen „Großteil ihres
Lebens“ verbracht haben, „gesellschaftlich integriert“ sind und nicht wegen
„schwerer Straftaten“ ausgewiesen wurden. Ihnen (und damit auch ihren
Eltern) muss ein Aufenthaltsrecht als Ausprägung der Menschenrechte er-
teilt werden.

10. Der Deutsche Bundestag macht die Innenminister und -senatoren der
Länder darauf aufmerksam, dass die Regelung des IMK-Beschlusses (vgl.
TOP 6, II. 6.6.: „Bei Ausschluss eines Familienmitglieds wegen Straftaten
erfolgt grundsätzlich der Ausschluss der gesamten Familie“) mit rechts-
staatlichen Grundsätzen unvereinbar ist.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. im Aufenthaltsgesetz schnellstmöglich eine großzügige gesetzliche Bleibe-
rechtsregelung zu verankern, die nachfolgenden Grundsätzen folgt:

a) Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mit Arbeitsmarktzugang im Regel-
fall nach fünf Jahren geduldetem oder gestattetem Aufenthalt, bei Fami-
lien nach drei Jahren, in Härtefällen auch früher (z. B. bei minderjährig
unbegleitet eingereisten Flüchtlingen, traumatisierten Kriegs- und Ge-

waltopfern, Opfern rassistischer Gewalt in Deutschland, Opfern von
Zwangsheiraten und Menschenhandel oder hiervon Bedrohten),

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b) der Nachweis einer Erwerbstätigkeit, von Sprachkenntnissen, besonderen
„Integrationsleistungen“, Schulzeugnissen usw. ist keine Bedingung für
die Aufenthaltserteilung; die Aufnahme einer Erwerbsarbeit, Ausbildung,
Weiterqualifikation usw. und das Erlernen der deutschen Sprache werden
jedoch gefördert,

c) kein Ausschluss einzelner Flüchtlingsgruppen, etwa aus bestimmten Her-
kunftsländern,

d) kein Ausschluss wegen (angeblich) verletzter „Mitwirkungspflichten“/
„Täuschungen“,

e) keine ausschließende Stichtagsregelung;

2. sich gegenüber den Bundesländern für einen sofortigen Abschiebestopp ein-
zusetzen, der potenziell Begünstigte der oben näher bezeichneten Regelung
vor Abschiebungen schützt;

3. die Verankerung einer gesetzlichen Bleiberechtsregelung nicht mit aufent-
haltsrechtlichen Verschärfungen in anderen Bereichen zu verbinden;

4. gesetzliche Regelungen zu schaffen, die die Praxis der Kettenduldungen
wirksam beenden und das Recht auf Bleiberecht im Sinne von Artikel 8 der
Europäischen Menschenrechtskonvention in die Praxis umsetzt.

Berlin, den 15. Dezember 2006

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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