BT-Drucksache 16/3807

Chancen und Herausforderungen der Osterweiterung der Europäischen Union (EU) für die Entwicklungszusammenarbeit der EU

Vom 13. Dezember 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3807
16. Wahlperiode 13. 12. 2006

Antrag
der Abgeordneten Dr. Georg Nüßlein, Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer,
Hartwig Fischer (Göttingen), Anette Hübinger, Jürgen Klimke, Hartmut Koschyk,
Bernward Müller (Gera), Sibylle Pfeiffer, Dr. Norbert Röttgen, Volker Kauder,
Dr. Peter Ramsauer und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Gabriele Groneberg,
Christel Riemann-Hanewinckel, Walter Riester, Dr. Ditmar Staffelt, Andreas Weigel,
Dr. Wolfgang Wodarg, Elvira Drobinski-Weiß, Detlef Dzembritzki, Iris Hoffmann
(Wismar), Walter Kolbow, Lothar Mark, Olaf Scholz, Frank Schwabe, Hans-Jürgen
Uhl, Jörg Vogelsänger, Hedi Wegener, Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD

Chancen und Herausforderungen der Osterweiterung der Europäischen Union (EU)
für die Entwicklungszusammenarbeit der EU

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union (EU-EZ) steht auch
nach der EU-Osterweiterung vor großen Herausforderungen. Im Mai 2004 sind
die Länder Polen, Tschechische Republik, Slowakische Republik, Ungarn, Slo-
wenien, Estland, Lettland, Litauen, Malta und Zypern der EU beigetreten. Die
Osterweiterung der EU ist als eine der größten Chancen in diesem Jahrhundert
für Frieden und Zusammenarbeit in Europa zu sehen. Mit ihr wurde die histo-
rische Spaltung des europäischen Kontinents überwunden. Die EU hat fortan
neben Russland neue Nachbarschaft mit Weißrussland, der Ukraine, Serbien
und Kroatien sowie 2007 nach dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens mit der
Türkei, Mazedonien und der Republik Moldau. Mit Kroatien und der Türkei
laufen seit Oktober 2005 Beitrittsverhandlungen. Mit diesen neuen Grenznach-
barn strebt die EU, im Rahmen ihrer neuen Nachbarschaftspolitik, eine stärkere
Annäherung und eine Ausweitung der bereits bestehenden partnerschaftlichen
Zusammenarbeit an.

Aus der Perspektive der EU-EZ bietet die Erweiterung eine Chance, Konflikt-
prävention nicht nur in angrenzenden Krisenregionen sondern weltweit zu ver-
bessern. Wesentliche Fortschritte sind auf diese Weise bei der Lösung von
Grenzdisputen, Nationalitätenkonflikten und Minderheitenproblemen erreicht
worden. Der Deutsche Bundestag begrüßt eine stärkere Beteiligung der EU am

Krisenmanagement als Reaktion auf spezifische regionale Bedrohungen. Damit
stellt die EU ihre Bereitschaft unter Beweis, einen größeren Teil der Last der
Konfliktbeilegung in den Nachbarstaaten und anderen Regionen zu überneh-
men.

Die Osterweiterung der EU beinhaltet jedoch auch Herausforderungen für die
EU-Entwicklungszusammenarbeit. Zurzeit sind wichtige Reformprozesse in

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der EU im Gange. Im Vertrag über eine Verfassung für Europa wird die Ent-
wicklungszusammenarbeit der EU geregelt. Armutsbekämpfung, Menschen-
rechte und nachhaltige Entwicklung werden als Ziele der gesamten Handlun-
gen der Gemeinschaft verankert. Am 22. November 2005 wurde die
gemeinsame Erklärung „Europäischer Konsens über die Entwicklungspolitik“
des Rates verabschiedet.

Die Orientierung an den UN-Millenniums-Entwicklungszielen (u. a. die welt-
weite Halbierung der Armut bis 2015, die Verminderung der Kinder- und
Müttersterblichkeit, die Bereitstellung elementarer Bildung, eine nachhaltige
Entwicklung), Monterrey-Konsens und Paris-Agenda (Verbesserung der Geber-
koordinierung, der Geberharmonisierung und Komplementarität), Zusammen-
arbeit mit multilateralen Organisationen sowie die Steigerung der Kohärenz
wurden mit dem Europäischen Konsens zur Entwicklungspolitik vom 22. No-
vember 2005 bekräftigt. Die neuen EU-Länder haben damit den gemeinschaft-
lichen Besitzstand (acquis communautaire) der EU übernommen und treten
ferner in die zahlreichen Kooperations- und Partnerschaftsabkommen mit den
Entwicklungsländern ein. Insbesondere ist hier das Abkommen von Cotonou zu
nennen. Des Weiteren werden die neuen Mitgliedstaaten zu dem Europäischen
Entwicklungsfonds finanziell beitragen.

Der EU-Beitritt birgt für die neuen Mitgliedstaaten die entwicklungspolitische
Verantwortung für ärmere Länder und Regionen und die Mitgestaltung der glo-
balen Ordnungspolitik. Fast alle der neuen EU-Mitgliedstaaten haben im Zuge
ihres Beitritts bereits neue entwicklungspolitische Konzeptionen erarbeitet und
werden somit die europäische Entwicklungszusammenarbeit aktiv prägen und
konstruktiv mitgestalten. Öffentliche Entwicklungszusammenarbeit wird von
allen neuen Mitgliedstaaten geleistet, auf bilateraler und multilateraler Ebene.
Die meisten Länder leisten zudem humanitäre Hilfe. Insgesamt wurden 290
Millionen Euro an öffentlicher Entwicklungszusammenarbeit (ODA = official
development assistance) für das Jahr 2004 von den neuen Mitgliedstaaten be-
reitgestellt. Die ODA/BSP-Quoten variieren von Land zu Land zwischen 0,01
und 0,1 Prozent. Die neuen Mitgliedsländer werden somit aller Voraussicht
nach in absehbarer Zukunft den Monterrey-Konsens (0,39- bzw. 0,33-Prozent-
Ziel) nicht erreichen können. Positiv muss jedoch hervorgehoben werden, dass
die Länder planen, ihre öffentliche Entwicklungszusammenarbeit weiter anzu-
heben und enorme Anstrengungen in diese Richtung unternehmen. Der „Euro-
päische Konsens über die Entwicklungspolitik“ legt fest: Die neuen Mitglied-
staaten der EU werden sich bemühen, ihre ODA/BSP-Quote bis 2010 im
Rahmen ihrer jeweiligen Haushaltsaufstellungsverfahren auf den Wert 0,17
Prozent anzuheben, sie werden sich bemühen, ihre Quote bis 2015 auf 0,33
Prozent zu erhöhen. Der Deutsche Bundestag erkennt die großen Anstrengun-
gen der neuen Mitgliedstaaten an, ihrer Geberrolle gerecht zu werden.

Bisherige Schwerpunkte in der Entwicklungszusammenarbeit der neuen Mit-
gliedstaaten waren überwiegend regional orientiert und lagen somit im Kau-
kasus, in Zentralasien, in Südost-Europa aber auch in ausgewählten Ländern
Asiens und Afrikas. Die zukünftige Entwicklungszusammenarbeit der neuen
Mitgliedstaaten wird sich voraussichtlich weiterhin auf die Nachbarregionen
der Staaten konzentrieren, was eine positive Wirkung auf die neuen Grenzen
der EU erwarten lässt. Im Zuge der Anpassung an die europäische Entwick-
lungspolitik wird sich jedoch ihr entwicklungspolitisches Engagement auch auf
die Länder des Südens ausweiten. Aus thematischer Sicht konzentrierten sich
die entwicklungspolitischen Bemühungen vor allem auf die Weitergabe eigener
Transformationserfahrungen sowie die Armutsbekämpfung. Damit leisten die
neuen Mitgliedstaaten einen wichtigen Beitrag zur europäischen Entwicklungs-
zusammenarbeit.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/3807

Die Bundesrepublik Deutschland fördert durch konkrete Maßnahmen aktiv die
Integration der EU-Beitrittsländer in die Entwicklungszusammenarbeit der EU.
So wurden bereits mehrere Konferenzen und Seminare zur Expertenfortbildung
zu dem Thema Erweiterung und Entwicklungszusammenarbeit vom Bundes-
ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ)
durchgeführt. Das BMZ pflegt einen intensiven Dialog mit den Ministerien der
neuen Mitgliedstaaten und unterstützt engagiert den Austausch von Fach-
personal. Die Schwerpunkte des BMZ liegen bei der Hilfestellung bei der
Erarbeitung entwicklungspolitischer Strategien, auf den Instrumenten der Ent-
wicklungszusammenarbeit sowie Armutsbekämpfungsstrategien und Schul-
denerlass. Hier ist vor allem die Initiative von Köln zum Schuldenerlass zu
nennen. Auch die Einbeziehung und Förderung von Frauen bleibt unverzichtbar.
Die Veranstaltungen des BMZ und seinen Partnern GTZ (Deutsche Gesellschaft
für Technische Zusammenarbeit) und InWEnt (Internationale Weiterbildung und
Entwicklung gGmbH) stießen bisher bei den Vertretern der Außen- und
Finanzministerien sowie bei den NRO-Vertretern (NRO: Nichtregierungs-
organisationen) der neuen Mitgliedstaaten auf großes Interesse. Das BMZ wird
an der EU-Arbeitsgruppe „Erweiterung“ teilnehmen, in der bisherige und neue
Mitgliedstaaten Unterstützungsmaßnahmen unter Leitung der Kommission
koordinieren. Auch die Humboldt-Universität zu Berlin bietet entwicklungs-
politische Ausbildungsprogramme für Personen aus den neuen EU-Ländern an.

Ein erfolgreiches Beispiel für die Nutzung und Weiterentwicklung der Koope-
rationsstrukturen ist der Aufbau einer EZ-Agentur in Polen (Polish know how
Foundation) und in Ungarn (HUNIDA), durch die sich die Länder auf den Aus-
bau ihrer Rolle als Geberland weiter vorbereiten. Das BMZ hat seine Bera-
tungsaufgaben auf Rumänien und Bulgarien ausdehnt.

Wichtige Bausteine der Entwicklungszusammenarbeit sind Bildungs- und Ge-
sundheitsprogramme für Mädchen und Frauen. Rund 1,2 Milliarden Menschen
auf der Welt leben in extremer Armut, d. h. sie müssen mit weniger als einem
US-Dollar pro Tag auskommen. Mehr als 6 000 Kinder unter fünf Jahren ster-
ben täglich durch verunreinigtes Wasser und 113 Millionen Kinder im schul-
pflichtigen Alter können nicht zur Schule gehen. Fast eine Million Menschen
sterben jedes Jahr in bewaffneten Konflikten oder Kriegen.

Die EU-Osterweiterung kann und sollte eine noch effektivere Entwicklungs-
zusammenarbeit ermöglichen, um die Ziele und Verpflichtungen, die auf inter-
nationaler Ebene vereinbart wurden (besonders die Millenniumsziele) umzu-
setzen. Sie bietet die einmalige Chance, die Entwicklung von Frieden und
Wohlstand in Europa, aber auch in der gesamten Welt, durch ein spezifisch eu-
ropäisches Sozial- und Gesellschaftsmodell voranzutreiben. Aufgrund der sich
fortentwickelnden Vielfalt von Geschichte, Kultur und Wirtschaft im erweiter-
ten Europa erwartet der Deutsche Bundestag, dass auch die erweiterte europäi-
sche Entwicklungszusammenarbeit noch innovativere und folglich effektivere
Grundzüge annehmen wird.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. entsprechend dem europäischen Konsens zur Entwicklungspolitik, der Mil-
lenniums-Entwicklungsziele und des Aktionsplanes 2015 der Bundesregie-
rung, die Entwicklungszusammenarbeit der EU zusammen mit den neuen
Mitgliedstaaten weiter aktiv zu unterstützen, um auch in diesem Bereich ihre
Integration in die EU zu fördern;

2. dafür einzutreten, dass entsprechend dem Vertrag über eine Verfassung für
Europa die Entwicklungszusammenarbeit der EU auf Armutsbekämpfung,
Menschenrechte, Stärkung der Rolle der Frauen und nachhaltige Entwick-

lung als Ziele der gesamten Handlungen der Gemeinschaft ausgerichtet
wird, um eine spezifische europäische Dimension zu schaffen;

Drucksache 16/3807 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
3. die eingeleiteten Reformprozesse der EU hin zu Kohärenz, Koordinierung
und Komplementarität im Bereich der EU-EZ gemeinsam mit den neuen
Mitgliedstaaten zu verstärken und konstruktiv weiterzuentwickeln;

4. sich intensiv dafür einzusetzen, dass die für die EU-Länder im europäischen
Konsens zur Entwicklungspolitik festgelegten finanziellen Ziele erreicht
werden, und die neuen EU-Länder in deren Umsetzung zu bestärken;

5. die neuen EU-Mitgliedstaaten bei der Durchführung der vorhandenen sowie
bei der weiteren Erarbeitung von entwicklungspolitischen Konzeptionen
und beim Aufbau und der Förderung von entwicklungspolitischen Institutio-
nen durch Beratung und Fortbildungsangebote zu unterstützen;

6. den Beitritt der neuen Mitgliedstaaten, ihre entwicklungspolitische Konzen-
tration auf konfliktträchtige Regionen sowie ihre geographische und erfah-
rungsbedingte Nähe zu ihnen als Chance für eine Stärkung des Ansatzes einer
nachhaltigen Konfliktprävention für eine spezifisch europäische Entwick-
lungszusammenarbeit zu nutzen;

7. die Nutzung des Potentials der neuen Mitgliedstaaten bei eigenen Transfor-
mationserfahrungen in der EU-EZ zu verstärken;

8. dazu beizutragen, die Zusammenarbeit der EU-Institutionen und der Nicht-
regierungsorganisationen in den neuen Mitgliedsländern zu verstärken mit
dem Ziel, eine starke europäische Zivilgesellschaft aufzubauen und die Nut-
zung des Presidency Fund zur Förderung von NROs und NRO-Netzwerken
in den neuen EU-Ländern zu prüfen.

Berlin, den 13. Dezember 2006

Volker Kauder, Dr. Peter Ramsauer und Fraktion
Dr. Peter Struck und Fraktion

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