BT-Drucksache 16/3045

Verschreibung von Medikamenten an Kinder und Jugendliche bei Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen

Vom 19. Oktober 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3045
16. Wahlperiode 19. 10. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Kai Boris Gehring, Birgitt Bender, Ekin
Deligöz, Dr. Thea Dückert, Markus Kurth, Elisabeth Scharfenberg, Margareta Wolf
(Frankfurt) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Verschreibung von Medikamenten an Kinder und Jugendliche
bei Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung

Die Verschreibung von Methylphenidat in der Bundesrepublik Deutschland ist
in den letzten Jahren rapide angestiegen: 1990 lag die Zahl der damit behandel-
ten Kinder noch bei 1 500, heute beläuft sie sich nach Schätzungen der deut-
schen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin auf 50 000 bis
100 000. Methylphenidat ist eine Psychostimulans aus der Gruppe der Amphe-
tamine, die vorrangig zur Behandlung einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyper-
aktivitätsstörung (ADHS) eingesetzt wird. ADHS ist heute die am häufigsten
diagnostizierte psychische Störung bei Kindern. Der Berufsverband der Kinder-
und Jugendärzte schätzt, dass ca. 500 000 Kinder davon betroffen sind. Die Ur-
sache für ADHS ist noch nicht wissenschaftlich geklärt: Angeblich beruht sie
auf einer genetisch bedingten Stoffwechselstörung im vorderen Gehirn. Kritiker
zweifeln jedoch an den biologischen Ursachen und weisen darauf hin, dass die
medizinische Wissenschaft grundsätzlich vermehrt zu multikausalen und psy-
chosomatischen Erklärungsansätzen bei Krankheiten tendiert, deren Ausprä-
gung aufgrund von Umweltbedingungen und Erziehung unterschiedlich ver-
läuft. Bislang gibt es keinerlei klinischen Beweis dafür, ob Veränderungen des
Hirnstoffwechsels Ursache oder lediglich Begleiterscheinung von ADHS sind.
Die Symptome für ADHS sind relativ unspezifisch, d. h. sie treten auch bei gän-
gigen Verhaltensstörungen im Kindesalter auf, die andere Ursachen haben.
Ebenso können körperliche Erkrankungen oder auch normales kindliches Ver-
halten diese Verhaltensweisen hervorrufen. Es gibt bislang kein objektives Dia-
gnostikverfahren, mit dem eine ADHS-Stoffwechselstörung im Hirn von nor-
maler Verhaltensauffälligkeit unterschieden werden kann.

Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte sowie die frühere Drogenbeauf-
tragte der Bundesregierung, Marion Caspers-Merk, gingen in früheren Erklärun-
gen davon aus, dass viele Ärzte mit der richtigen Diagnose überfordert sind. Ent-
sprechende Berichte von Klinikern über vorschnelle Medikation bei Kindern
ohne ADHS unterstützen diese Vermutung. Aufgrund einer vom Bundesminis-
terium für Gesundheit und Soziale Sicherung unterstützen Studie zur Arzneimit-

telversorgung von Kindern mit hyperkinetischen Störungen anhand von Leis-
tungsdaten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) wurde zudem ein Zu-
sammenhang zwischen Verordnungshäufigkeit und einer großen Dichte von
Elterngruppen, die eine medikamentöse Therapie bevorzugen, offensichtlich.

Methylphenidat mindert die Unaufmerksamkeit und Aggressivität der Betroffe-
nen und steigert die Konzentration. Als Nebenwirkungen können allerdings
Appetits- und Gewichtsverlust, Störungen des Magen-Darm-Traktes, Blut-

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drucksteigerungen und erhöhte Herzfrequenz sowie Schlafstörungen auftreten.
Zudem kann das Präparat bei den behandelten Kindern zu einem verminderten
Längenwachstum, depressiven Verstimmungen, Lustlosigkeit, Benommenheit
und Persönlichkeitsveränderungen führen. Es gibt Meldungen aus den USA,
dass vermehrt Todesfälle bei Kindern aufgetreten seien, die mit Methylphenidat
behandelt worden waren. In der Wissenschaft wird zudem diskutiert, ob der
Wirkstoff Halluzinationen verursachen und Parkinson auslösen kann. Die Lang-
zeitwirkungen von Methylphenidat sind bislang nicht erforscht.

Verschrieben werden kann Methylphenidat durch jeden Arzt. Eine Spezialisie-
rung im Bereich der Kindermedizin oder Kinder- und Jugendpsychiatrie ist nicht
erforderlich. Auch Art und Umfang der Therapie werden vom Arzt frei entschie-
den. Ein hoher Anteil der Verschreibungen (ca. 35 bis 45 Prozent) erfolgt durch
Fachärzte, die keiner dieser beiden Fachrichtungen angehören. Zudem werden
nach einer Studie über 70 Prozent aller Verordnungen nicht durch eine Kinder-
und Jugendpsychiaterin bzw. einen Kinder- und Jugendpsychiater vorgenom-
men, so dass unklar bleibt, ob diese überhaupt in die Diagnostik und Behandlung
mit einbezogen wurden. Die Verschreibung von Methylphenidat erfolgt oft
schon bei Kleinkindern unter sechs Jahren, für die der Wirkstoff gar nicht zuge-
lassen ist (sog. off-label-use). Die frühere Drogenbeauftragte der Bundesregie-
rung, Marion Caspers-Merk, sowie die Bundesärztekammer forderten daher
eine verbesserte Qualifikation der behandelnden Ärzte.

Bislang gibt es noch keine Untersuchungen über die therapeutische Versorgung
von Kindern und Jugendlichen, denen Methylphenidat verschrieben wurde. Kri-
tische Stimmen befürchten, dass entsprechende Präparate oft leichtfertig als
Mittel benutzt werden, um damit Kinder ruhigzustellen oder unerwünschtes
Verhalten zu unterdrücken. Sowohl für Erziehungsberechtigte wie auch für das
Gesundheitswesen insgesamt ist diese Behandlung leichter und kostengünstiger
als die Suche nach möglicherweise aufwendigen, individuellen Therapiemög-
lichkeiten für eine zunehmende Zahl von verhaltensauffälligen Kindern.

Die frühere Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marion Caspers-Merk,
äußerte 2002 den Verdacht, dass aufgrund des rapiden Anstiegs der Verschrei-
bungen von Methylphenidat eine fehlerhafte Verordnungspraxis vorliegen
könne. Sie forderte die Einhaltung der wissenschaftlichen Standards und kün-
digte an, die Verschreibungspraxis von Methylphenidat einschränken zu wollen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. a) Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Frage, ob ADHS
eine eigenständige Erkrankung ist, die sich auf eine biologische Ursache
zurückführen lässt?

Sieht die Bundesregierung hier weiteren Forschungsbedarf?

Wenn ja, in welcher Form unterstützt sie wissenschaftliche Untersuchun-
gen zu diesem Thema?

b) Liegen der Bundesregierung aktuelle Zahlen darüber vor, bei wie vielen
Kindern und Jugendlichen bundesweit AHDS diagnostiziert wurde?

Wenn keine solchen aktuellen Zahlen vorliegen, wieso nicht?

c) Was hat die Bundesregierung in den vergangenen Jahren getan, um auf
gleichmäßige Standards für die Diagnose von ADHS hinzuwirken?

Welche weiteren Initiativen plant die Bundesregierung in dieser Hinsicht?

d) Was hat die Bundesregierung in den vergangenen Jahren unternommen,
um auf eine Verbesserung der Qualifikation von Fachärzten im Bereich
der Kindermedizin sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Bereich

der Diagnose und Behandlung einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyper-
aktivitätsstörung hinzuwirken?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/3045

e) Was hat die Bundesregierung in den vergangenen Jahren getan, um auf
eine Verbesserung der Versorgungsstruktur im Hinblick auf umfassende
Diagnostikmöglichkeiten bei Verdacht auf ADHS hinzuwirken?

In welcher Form ist dies erfolgt?

Welchen weiteren Handlungsbedarf – auch auf Seiten der Ärztekam-
mern – sieht die Bundesregierung in diesem Zusammenhang?

f) Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über eine unterschiedliche
Ausformung und Symptomatik von ADHS bei Jungen und Mädchen?

Wie verhält sich die Bundesregierung zur Vorgabe besonderer Diagnostik-
kriterien für Patientinnen?

2. a) Liegen der Bundesregierung aktuelle Zahlen darüber vor, wie viele Kinder
und Jugendliche Methylphenidat einnehmen?

Wenn keine solchen aktuellen Zahlen vorliegen, plant die Bundesregie-
rung eine solche Erhebung?

b) Sieht die Bundesregierung aufgrund der Ergebnisse der Studie zur Arznei-
mittelversorgung von Kindern mit hyperkinetischen Störungen anhand
von Leistungsdaten der GKV Bedarf für eine umfassende bundesweite
Analyse der Verordnungsdaten von Methylphenidat?

Wenn nicht, wieso nicht?

c) Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, in welcher Form sich die
Zulassung von Atomoxetin auf die Verschreibungshäufigkeit von Methyl-
phenidat ausgewirkt hat?

3. a) Liegen der Bundesregierung Angaben darüber vor, über welchen Zeit-
raum die Einnahme von Methylphenidat im Durchschnitt erfolgt?

Wenn keine solchen aktuellen Zahlen vorliegen, plant die Bundesregie-
rung eine solche Erhebung?

b) Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Folgen einer lang-
fristigen Einnahme von Methylphenidat durch Kinder und Jugendliche,
insbesondere über eine mögliche Abhängigkeit?

c) Plant oder unterstützt die Bundesregierung Forschungsvorhaben, die sich
mit den Langzeitfolgen der Einnahme von Methylphenidat befassen?

Wenn ja, welche sind dies?

Wenn nicht, wieso nicht?

4. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über eine möglicherweise er-
höhte Zahl von Todesfällen bei Kindern und Jugendlichen, die mit Methyl-
phenidat therapiert werden?

Sieht die Bundesregierung Bedarf, weitere Untersuchungen über eine solche
mögliche Gefahr in Auftrag zu geben oder zu unterstützen?

5. a) Auf welche Art und Weise hat die Bundesregierung in der Vergangenheit
darauf hingewirkt, dass Methylphenidat nicht ohne hinreichende Diagnose
und therapeutische Indikation verschrieben wurde?

b) Welche Initiativen plant die Bundesregierung, um auf eine sachgerechte
Verschreibung und Dosierung von Methylphenidat durch Ärzte und Erzie-
hungsberechtigte hinzuwirken und Fehlverordnungen zu vermeiden?

Wenn keine Maßnahmen geplant sind, wieso nicht?

Drucksache 16/3045 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

c) Sieht die Bundesregierung aufgrund der steigenden Verordnungszahlen
Bedarf für eine besondere Aufklärung betroffener Erziehungsberechtigter
und anderer Beteiligter über die Folgen einer (vorschnellen) Verordnung
von Methylphenidat?

Wenn nicht, wieso nicht?

Wenn ja, in welcher Form soll diese Aufklärung erfolgen?

d) Hält die Bundesregierung die Forderung nach einer Pflichtberatung für Er-
ziehungsberechtigte von Kindern und Jugendlichen, denen Methylpheni-
dat verordnet werden soll, für sinnvoll (vgl. Ärztezeitung vom 17. Februar
2005)?

Wenn ja, warum?

Wenn nein, warum nicht?

6. Was tut die Bundesregierung, um eine Verschreibung von Methylphenidat an
Kinder unter sechs Jahren im Rahmen eines so genannten off-label-use zu
verhindern?

7. a) Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung in den letzten Jahren ergrif-
fen, um auf eine Verbesserung der von ihr bemängelten unzureichenden
Versorgungsstrukturen hinsichtlich umfassender Therapiemöglichkeiten
von ADHS hinzuwirken?

b) Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über eine gleichzeitige
psychotherapeutische Behandlung von Kindern und Jugendlichen, denen
Methylphenidat verordnet wurde?

c) Wie hat die Bundesregierung – wie 2002 von ihr gefordert – in den ver-
gangenen Jahren sichergestellt, dass die Verschreibung von Methylpheni-
dat nur dann erfolgen kann, wenn gleichzeitig ein Therapieangebot zur
Verfügung gestellt wird?

Warum hat die Bundesregierung in diesem Zusammenhang nicht ver-
sucht, dies auf gesetzgeberischem Weg zu unterstützen?

d) Sieht die Bundesregierung weiteren Handlungsbedarf zur Verbesserung
begleitender therapeutischer Maßnahmen?

Wenn nein, wieso nicht?

8. a) Wie verhält sich die Bundesregierung zu der Forderung, Methylphenidat
nur durch besonders qualifizierte Ärzte verschreiben zu lassen?

Wieso hat sie nicht darauf hingewirkt, die entsprechende, von ihr ange-
kündigte, Einschränkung der Verschreibung umzusetzen?

b) Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung hinsichtlich der Ausbil-
dung und Qualifikation der Methylphenidat verschreibenden Ärzte?

Plant die Bundesregierung die Initiierung oder Unterstützung einer wis-
senschaftlichen Studie zu dieser Frage?

Wenn nicht, wieso nicht?

c) Was hat die Bundesregierung in den vergangenen Jahren unternommen,
um die Qualifikation der behandelnden Ärzte im Umgang mit Methyl-
phenidat zu verbessern?

d) Wie beabsichtigt die Bundesregierung darauf hinzuwirken, dass die Aus-
und Fortbildung der ADHS behandelnden bzw. Methylphenidat verord-
nenden Ärzte verbessert wird?

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e) Auf welche Weise will die Bundesregierung auf eine ausreichende und
flächendeckende Versorgung mit Kinder- und Jugendpsychiatern hinwir-
ken?

Welche Initiativen hat sie in den vergangenen Jahren bereits ergriffen, um
auf das Problem der Unterversorgung hinzuweisen?

9. a) Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Zusammenarbeit
von pharmazeutischen Unternehmen und Fachärzteverbänden bzw. Eltern-
verbänden, die Beratungen zur (medikamentösen) Behandlung von ADHS
anbieten?

b) Sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit, dass diese Verbände und
Gruppen eine finanzielle Unterstützung durch pharmazeutische Unterneh-
men offenlegen?

Wenn ja, warum?

Wenn nein, warum nicht?

Berlin, den 19. Oktober 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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