BT-Drucksache 16/3030

zu der zweiten und dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung -16/1368, 16/2940- Entwurf eines Gesetzes zur Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss

Vom 18. Oktober 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3030
16. Wahlperiode 18. 10. 2006

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Sevim Dagdelen, Petra Pau, Ulla Jelpke, Kersten Naumann,
Jan Korte, Wolfgang Neskovic, Diana Golze, Jörn Wunderlich und der Fraktion
DIE LINKE.

zu der zweiten und dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
– Drucksachen 16/1368, 16/2940 –

Entwurf eines Gesetzes zur Anspruchsberechtigung von Ausländern
wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Das Bundesverfassungsgericht stellte mit zwei Entscheidungen vom 6. Juli
2004 – 1 BvL 4/97 und 1 BvR 2515/95 – fest, dass über viele Jahre in
Deutschland lebende Familien mit Migrationshintergrund verfassungswidrig
vom Bezug von Kindergeld, Erziehungsgeld und vom Unterhaltsvorschuss
ausgeschlossen wurden. Vor allem Eltern mit einer Aufenthaltsbefugnis nach
dem Ausländergesetz wurden nach Auffassung des Bundesverfassungs-
gerichts einer sachlich nicht zu begründenden Ungleichbehandlung unter-
zogen. Diese verfassungswidrige Ungleichbehandlung dauert bis heute an.

2. Der ursprüngliche Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Bundestags-
drucksache 16/1368 berücksichtigt bei der Frage der Gewährung von Fami-
lienleistungen für Ausländer und Ausländerinnen weitgehend die Vorgaben
des Bundesverfassungsgerichts. Allerdings wurden langjährig geduldete
Menschen und Asylsuchende, bei denen ebenfalls von einem Daueraufent-
halt ausgegangen werden kann, pauschal vom Leistungsbezug ausgeschlos-
sen. Im allgemeinen Begründungsteil (S. 8) wird hierzu sinngemäß ausge-
führt, dass es einer Neuregelung in Bezug auf diesen Personenkreis (Ketten-
duldungen) nicht bedürfe, da CDU, CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag
den Willen erklärt hätten, hierfür eine „befriedigende Lösung nach dem
Aufenthaltsgesetz“ zu finden. Dies überzeugt nicht, da eine zu erwartende
einmalige Bleiberechtsregelung durch die Innenministerkonferenz künftige
Fälle der Ungleichbehandlung langjährig Geduldeter nicht verhindern würde,

und eine Änderung der gesetzlichen Regelungen zur Praxis der Ketten-
duldung ebenfalls nicht absehbar ist (der Evaluationsbericht des Bundes-
ministeriums des Innern zum Zuwanderungsgesetz vom 24. Juli 2006 sieht
hier keinen Gesetzesänderungsbedarf, vgl. ebd., S. 77).

3. Der Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Ausschuss-
drucksache 16(13)140 enthält weitere Ausschlüsse vom Kindergeld, dem Er-

Drucksache 16/3030 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

ziehungsgeld und dem Unterhaltsvorschuss, die verfassungsrechtlich be-
denklich sind. Dies gilt vor allem deshalb, weil mit dem Ausschluss von nicht
freizügigkeitsberechtigten Ausländern mit einer Aufenthaltserlaubnis nach
den §§ 23a, 24, 25 Abs. 3 bis 5 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) gerade
solche Aufenthaltsgründe betroffen sind, die auf einen voraussichtlichen
Daueraufenthalt schließen lassen: Insbesondere bei Menschen, die infolge
einer Härtefallkommissionsentscheidung (§ 23a AufenthG), nach Feststel-
lung menschenrechtlicher Abschiebungshindernisse (§ 25 Abs. 3 AufenthG)
oder außergewöhnlicher Härtefallgründe, die nicht nur vorübergehend gegen
eine Ausreise sprechen (§ 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG), sowie bei langjährig
Geduldeten, bei denen auf absehbare Zeit eine Ausreise aus tatsächlichen
oder rechtlichen Gründen nicht möglich ist (§ 25 Abs. 5 AufenthG), sind die
Voraussetzungen für eine Gleichbehandlung bei familienrechtlichen Leistun-
gen nach Maßgabe des Bundesverfassungsgerichts aufgrund der gegebenen
Bleiberechtsperspektive offensichtlich erfüllt.

Die nach dem Änderungsantrag jeweils in Unterpunkt 3 enthaltene Auffang-
klausel sichert nicht für jede Fallkonstellation eine verfassungskonforme
Gewährung der Familienleistungen. Die geforderten Anspruchsvorausset-
zungen eines dreijährigen Mindestaufenthaltes sowie einer Erwerbstätigkeit,
eines ALG-I-Bezugs oder einer gewährten Elternzeit schließen Familienleis-
tungen für zahlreiche Familien mit einer humanitär oder menschenrechtlich
begründeten Aufenthaltserlaubnis aus. Betroffen sind Ausländer und Aus-
länderinnen, die wegen Schulbesuchs, einer schulischen Berufsausbildung,
eines Hochschulstudiums oder wegen Erwerbsunfähigkeit, Krankheit, Be-
hinderung oder längerfristiger Arbeitslosigkeit derzeit nicht erwerbstätig
sind. Ausgeschlossen werden auch Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen),
die z. B. aufgrund der vielfach üblichen nur befristeten Beschäftigungs-
verhältnisse oder mangels Bereitschaft von Unternehmen in der Praxis keine
Elternzeit in Anspruch nehmen können. Auch wenn ein Partner/eine Part-
nerin in Vollzeit und der/die andere gar nicht arbeitet, besteht für Letztere
demnach kein Leistungsanspruch.

Nicht erwerbstätige Alleinerziehende mit einer Aufenthaltserlaubnis aus
humanitären oder menschenrechtlichen Gründen werden von allen drei in
Frage kommenden Familienleistungen ausgeschlossen. Weitere Konstella-
tionen sind denkbar. Allen gemeinsam ist, dass nicht das vom Bundesver-
fassungsgericht vorgegebene maßgebliche Kriterium der voraussichtlichen
Aufenthaltsperspektive in Deutschland die Ungleichbehandlung bei der Ge-
währung von Familienleistungen begründet.

Dass diese wesentlichen und verfassungsrechtlich relevanten Änderungen im
Begründungsteil des Änderungsantrages mit keinem Wort erläutert werden,
ist eine Missachtung des Parlaments und lässt die spätere Rechtsprechung
über die Intention des Gesetzgebers für diese Regelung im Unklaren.

4. Die im Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Aus-
schussdrucksache 16(13)140 unter Nr. 1b vorgenommene Änderung des § 6a
des Bundeskindergeldgesetzes markiert für alle nichtdeutschen und deutschen
Leistungsberechtigten eine restriktivere Ausgestaltung des Leistungsbezugs.
Die Fristverkürzung für die rückwirkende Beantragung des vorrangigen Kin-
derzuschlags im Fall der Verweigerung einer nachrangigen Sozialleistung
steht im direkten Widerspruch zum Koalitionsvertrag, der eine Ausweitung
des Berechtigtenkreises zum Ziel einer Weiterentwicklung des Kinderzu-
schlags erklärt hatte.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/3030

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

den Gesetzentwurf auf Bundestagsdrucksache 16/1368 zu überarbeiten und
dabei folgende Vorgaben zu beachten:

1. Entsprechend den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom
6. Juli 2004 muss die voraussichtliche Bleiberechtsperspektive das maßgeb-
liche Entscheidungskriterium für die Gewährung von Familienleistungen
sein. Es erfolgt kein Ausschluss von Personen mit einer humanitären oder
menschenrechtlichen Aufenthaltserlaubnis. Bei der genaueren Bestimmung
der Anspruchsberechtigung wird zusätzlich eine Öffnungsklausel auch für
Geduldete und solche Asylsuchenden geschaffen, bei denen von einer dauer-
haften Aufenthaltsperspektive ausgegangen werden kann.

2. Die Änderungen zu § 6a des Bundeskindergeldgesetzes werden aus dem
Gesetzentwurf gestrichen.

Berlin, den 17. Oktober 2006

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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