BT-Drucksache 16/2996

Weiterentwicklung der europäischen Berufsbildungspolitik

Vom 18. Oktober 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/2996
16. Wahlperiode 18. 10. 2006

Antrag
der Abgeordneten Uwe Schummer, Ilse Aigner, Michael Kretschmer, Katherina
Reiche (Potsdam), Dorothee Bär, Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land), Eberhard
Gienger, Monika Grütters, Anette Hübinger, Hartmut Koschyk, Johann-Henrich
Krummacher, Carsten Müller (Braunschweig), Dr. Norbert Röttgen, Marcus
Weinberg, Volker Kauder, Dr. Peter Ramsauer und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Willi Brase, Jörg Tauss, Nicolette Kressl, Ulla Burchardt,
Dieter Grasedieck, Gesine Multhaupt, Thomas Oppermann, René Röspel, Dr. Ernst
Dieter Rossmann, Renate Schmidt (Nürnberg), Heinz Schmitt (Landau), Olaf
Scholz, Swen Schulz (Spandau), Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD

Weiterentwicklung der europäischen Berufsbildungspolitik

Der Deutsche Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Europäische Rat hat im März 2000 in Lissabon das Ziel festgeschrieben,
Europa bis zum Jahr 2010 „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wis-
sensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, einem Wirtschaftsraum, der
fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeits-
plätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen“. Dem anschlie-
ßend legte der Europäische Rat 2002 in Barcelona die Vorgabe fest, dass die Sys-
teme der allgemeinen und beruflichen Bildung bis 2010 zu einer weltweiten
Qualitätsreferenz werden sollen. Der Kopenhagen-Prozess (2002) lieferte den
allgemeinen Rahmen für die Entwicklung der Berufsbildung in Europa. Unter
anderem hat er die Zusammenarbeit, den Vergleich und die Kompatibilität der
Berufsbildungspolitik vorangetrieben.

Europa soll zu einer Wissensgesellschaft entwickelt werden. Für diesen Prozess
sind die Leistungspotentiale der Menschen von entscheidender Bedeutung. Die-
sem Wunsch stehen 80 Millionen EU-Bürger gegenüber, die zur Gruppe der ge-
ring Qualifizierten zählen. Das begründet einen hohen Stellenwert für Bildung,
Wissen und Fähigkeiten. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Verbesserung ihres
Qualifikationsniveaus. Von der Begabtenförderung über eine breite Bildungs-
vermittlung, dem lebenslangen Lernen als eigenständige Säule des Bildungs-
systems bis hin zur Benachteiligtenförderung müssen Ausbildung und Qualifi-
kation allen europäischen Bürgerinnen und Bürgern offen stehen. Zur Gestal-

tung eines europäischen Bildungsraumes bedarf es verschiedener Instrumente,
damit die oben genannten Ziele erreicht werden können. Hierzu gehört auch ein
Höchstmaß an Mobilität zwischen Bildungssystemen und die gegenseitige An-
rechenbarkeit von Kompetenzen, die betrieblich oder schulisch erreicht werden.

Dazu zählen unter anderem ein europäischer Qualifikationsrahmen (EQR), ein
europäisches Leistungspunktesystem in der beruflichen Bildung und der Euro-
pass. Mit acht Qualifikationsstufen sollen Kompetenzen bewertet werden, die in

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einem europäischen Bildungssystem zu Vergleichbarkeit und Mobilität führen
sollen. Der Nationale Qualifikationsrahmen sollte mit einem eigenen Einstu-
fungssystem in Form einer Matrix entwickelt werden. Bei der Schaffung eines
Nationalen Qualifikationsrahmens sollten neben formalisierten Berufs- und
Bildungsabschlüssen auch Berufserfahrung und Lernergebnisse, die in beschäf-
tigungsnahen Qualifikationsprozessen erworben werden, angemessen berück-
sichtigt werden. Hierzu gehört die Bewertung von Kompetenzen unabhängig
von ihrem schulischen, akademischen oder betrieblichen Zugang. Wir begrüßen
bei der Entwicklung des EQR die Berücksichtigung der praktischen Fähig-
keiten.

Die Europäische Kommission hat nach einem im Jahr 2005 durchgeführten
Konsultationsprozess, an dem sich auch Deutschland mit Stellungnahmen betei-
ligt hat, im September 2006 einen Vorschlag für eine Empfehlung des Europäi-
schen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines europäischen Qualifika-
tionsrahmens für lebenslanges Lernen vorgelegt.

Der Europass wurde nach der Entscheidung des Europäischen Parlaments und
des Rates im Dezember 2004 (EG Nr. 2241/2004) am 1. Januar 2005 eingeführt.
Der Europass umfasst die fünf Dokumente Europass-Lebenslauf, -Mobilität,
- Zeugniserklärung, -Sprachenpass sowie das Diploma Supplement (Erläuterung
zum Abschlusszeugnis im Hochschulbereich). Er hilft den Bürgerinnen und
Bürgern dabei, ihre Qualifikationen und Kompetenzen europaweit verständlich
dokumentieren zu können. Über das auf Gemeinschaftsebene betriebene Euro-
pass-Internetportal können die Bürgerinnen und Bürger ihren Europass-Lebens-
lauf und ihr Sprachenportfolio selbst ausfüllen. Besonders der Europass-Mobi-
lität wurde in Deutschland bisher sehr gut angenommen, muss aber noch breiter
eingesetzt werden. Seit Oktober 2005 wurden in Deutschland bis Ende Juni
2006 8 626 Europässe-Mobilität beantragt. In ihm werden Lernzeiten in anderen
Ländern unabhängig von der Art der Lernerfahrung verzeichnet.

Die heutige Anerkennungsrichtlinie der EU ist in Bezug auf die berufliche Aus-
bildung völlig unbefriedigend. So wird derzeit die berufliche Ausbildung in
anderen Ländern nicht genügend anerkannt. Das gilt auch für die berufliche
Weiterbildung. Es überwiegt in der Bewertung die allgemeine schulische und
hochschulische Qualifizierung, während Berufsabschlüsse oft nur unter ihrem
eigentlichen Niveau gesehen werden. Mit dem EQR-Ansatz können und wollen
wir das Berufsprinzip europaweit stärken, flexibilisieren und mit dem lebens-
langen Lernen vernetzen. Die Schaffung eines europäischen Bildungsraumes
mit einem europäischen Qualifikationsrahmen muss diese Situation maßgeblich
verbessern. Wir wollen die Debatte nutzen, um die integrative Kraft der dualen
Ausbildung darzustellen und für sie verstärkt europaweit zu werben.

II. Der Deutsche Bundestag begrüßt:

1. die Entwicklung eines europäischen Qualifikationsrahmens. Mit dem EQR
wird ein gemeinsames Bezugssystem für Qualifikationen entwickelt, das auf
alle Bildungssysteme in Europa anwendbar ist. Der EQR soll als ein Ver-
gleichs- und Übersetzungsinstrument konzipiert werden, der als Metarahmen
die unterschiedlichen nationalen Bildungssysteme in Bezug setzt und ver-
gleichbar macht. Wir begrüßen das Ziel, die Systeme der allgemeinen und
beruflichen Bildung in Europa transparent darzustellen, um die Mobilität der
europäischen Bürgerinnen und Bürger zu erhöhen;

2. die Weiterentwicklung des europäischen Berufsbildungsraumes durch die
Verbesserung der Transparenz von Abschlüssen und ihrer Akzeptanz und
Anerkennung;

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3. die Möglichkeit durch das neue Berufsbildungsrecht, dass auf das Ausbil-
dungsziel ausgerichtete Ausbildungsabschnitte im Ausland als reguläre Teile
einer Berufsausbildung anerkannt werden;

4. bei der Entwicklung eines EQRs die Verbesserung der Zugangschancen für
die Bürgerinnen und Bürger jeden Alters zu qualifizierter Ausbildung und
lebensbegleitenden Bildungsmaßnahmen;

5. die Entwicklung eines europäischen Leistungspunktesystems in der beruf-
lichen Bildung (ECVET). Unabhängig davon, wo gelernt wurde, sollen Lern-
ergebnisse durch Vergabe von Leistungspunkten bewertet, vergleichbar und
übertragbar gemacht werden. Dabei sind auch Schnittmengen beim Wechsel
von der Hochschule in den Betrieb oder vom Betrieb in die Hochschule mög-
lich, die im jeweiligen Ausbildungsgang anzurechnen sind. Hochschulen und
Berufsbildung müssen sich stärker füreinander öffnen. Die Einführung eines
EQRs in Verbindung mit einem ECVET trägt wesentlich zur Entwicklung
eines europäischen Bildungsraumes bei. Grundgedanke für ein europäisches
Leistungspunktesystem ist es, die Voraussetzung für Transparenz der Quali-
fikationen und darauf aufbauend für gegenseitige Anerkennung und Anrech-
nung in den Bildungssystemen Europas zu schaffen;

6. die Chancen und Möglichkeiten bei der Entwicklung eines zukünftigen
nationalen Qualifikationsrahmens (NQR). Die Zuordnung von Qualifika-
tionen und Abschlüssen zu Niveaustufen ist Aufgabe der einzelnen Staaten.
Damit können unterschiedliche nationale Anforderungen berücksichtigt und
eine angemessene Einstufung deutscher Qualifikationen sichergestellt wer-
den. Dies gilt insbesondere für die duale Berufsausbildung und die berufliche
Weiterbildung;

7. den Europass. Er ist ein Instrument, um Transparenz im europäischen Bil-
dungsraum herzustellen.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich zur Umsetzung und Weiterentwicklung der europäischen beruflichen
Bildung weiterhin maßgeblich an der Weiterentwicklung eines europäischen
Berufsbildungsraumes zu beteiligen. Hierzu gehört auch die Entwicklung
europäischer Berufsbilder als freiwillige Option;

2. sich bei der Entwicklung eines EQRs dafür einzusetzen, dass die Ergebnis-
orientierung und somit der Erwerb von Kompetenzen bei der Bewertung im
Vordergrund steht, egal ob sie auf schulischem, akademischem oder betrieb-
lichem Wege erworben wurden;

3. darauf hinzuwirken, dass bei der Entwicklung eines EQRs eine angemessene
Einstufung deutscher Qualifikationen – auch als Weichenstellung für eine spä-
tere Einstufung durch einen nachfolgenden NQR – sichergestellt wird. Das
gilt für das gesamte Feld der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Einem mo-
dernen Berufskonzept kommt zur Sicherung des Fachkräftenachwuchses eine
besondere Bedeutung zu. Das Ziel ist die immer wieder aktualisierte Berufs-
fähigkeit im erlernten Beruf. Das schließt prinzipiell reflektierte Arbeitser-
fahrung und damit das Lernen im Arbeitsprozess ein. Neben den Berufs- und
Bildungsabschlüssen müssen somit die Berufserfahrung und Lernergebnisse
erfasst werden, die in beschäftigungsnahen Qualifikationsprozessen erworben
werden und so zur Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit beitragen;

4. darauf hinzuwirken, dass bei der Entwicklung eines EQRs die Deskriptoren
so ausgestaltet werden, dass sie aus der Praxis heraus entwickelt werden,
somit verständlich sind und angewendet werden können sowie im Detail

noch weiter im Hinblick auf ihre Tauglichkeit im Berufsbildungsbereich op-
timiert werden;

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5. bei der Entwicklung eines EQRs darauf hinzuwirken, dass dieser praxis-
orientiert und anwenderfreundlich gestaltet wird. Der EQR ermöglicht, dass
die überall in der EU von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
erworbenen Nachweise über Qualifikation, Wissen und Fertigkeiten für
Berufs- und Weiterbildungszwecke in einem Rahmen eingestuft werden und
schafft damit Transparenz;

6. sich bei der Entwicklung eines EQRs dafür einzusetzen, dass das Prinzip der
Freiwilligkeit bei der Teilnahme der Mitgliedstaaten am EQR beibehalten
wird. Die Verbindung der nationalen Qualifikationssysteme mit dem EQR
ist als Prozess zu betrachten, der bis zum Jahr 2011 im Wesentlichen abge-
schlossen sein sollte;

7. darauf hinzuwirken, dass nach der Einführung des EQRs und bei der Ent-
wicklung eines ECVETs von Anfang an Verfahren zur Aktualisierung, Eva-
luation und Qualitätssicherung etabliert werden;

8. darauf hinzuwirken, dass bei der Entwicklung eines EQRs und bei der Ent-
wicklung eines ECVETs neben den Bereichen der formalen Bildungsgänge
auch informelles Lernen einbezogen wird. Informell erworbene Kompeten-
zen sind unter anderem auch Berufserfahrungen;

9. darauf hinzuwirken, dass bei der Entwicklung eines ECVETs die Gleich-
wertigkeit (nicht die Gleichartigkeit) von beruflicher und allgemein schuli-
scher und hochschulischer Bildung zu Grunde gelegt wird. Dass bedeutet,
dass für vergleichbare Leistungen gleiche Punktzahlen vergeben werden;

10. bei der Entwicklung eines zukünftigen NQRs neben den Bundesländern
auch die Wirtschafts- und Sozialpartner miteinzubeziehen;

11. darauf hinzuwirken, dass der EQR mit dem im Rahmen des Bologna-Pro-
zesses entwickelten Qualifikationsrahmen für den Europäischen Hochschul-
raum (EHEA-QF) kompatibel ist;

12. Maßnahmen zu ergreifen, dass bei der Schaffung eines EQRs und bei der
Entwicklung eines ECVETs das Berufsprinzip weiter gesichert ist und
durch eine Orientierung an den Lernergebnissen gestärkt wird. Modularisie-
rungen sollten für Differenzierungen dienen als Grundlage für die Beschrei-
bung, Bewertung und Anrechnung wählbarer Qualifikationen und Kompe-
tenzen. Die Modularisierung darf jedoch das Berufskonzept nicht ersetzen.
Die Berufe und Weiterbildungsprofile sollten weiter nach dem Berufsbil-
dungsgesetz geordnet werden;

13. Maßnahmen zu ergreifen, dass die Entwicklung eines ECVETs langfristig
mit dem bestehenden europäischen Kredit-Transfersystem (ECTS) zusam-
mengeführt wird;

14. Mitgliedstaaten mit Erfahrungen in dualen bzw. arbeitsplatznahen Berufs-
bildungssystemen in Austausch zu bringen, um durch gemeinsame Ak-
tionen gleiche Wettbewerbsbedingungen für die duale Berufsbildung in
Europa zu sichern;

15. den Bekanntheitsgrad des Europasses durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit
weiter zu erhöhen, damit die entsprechenden Zielgruppen aus dem Schul-,
Berufsbildungs- und Hochschulbereich sowie Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer verstärkt davon Gebrauch machen;

16. zur Stärkung der Leistungsfähigkeit des deutschen Bildungssystems im
europäischen Wettbewerb das Bildungssystem durchlässiger zu machen.
Dies bedeutet, dass bei einem Wechsel in einen anderen Bildungsgang ver-
stärkt auf bereits erworbene Qualifikationen aufgebaut wird und dass die

erworbenen Kompetenzen auch auf die Ausbildungsdauer oder die Prüfung
angerechnet werden. Die Erhöhung der Durchlässigkeit des Bildungssys-

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tems – wie im Koalitionsvertrag vereinbart – erleichtert den Erwerb und den
Zugang zu höherer Bildung in der Weiterbildung und im Hochschulsektor;

17. Maßnahmen zu ergreifen, um die Beteiligung an beruflicher Weiterbildung
zu erhöhen. Insgesamt geht in der EU die Beteiligung an beruflicher Weiter-
bildung zurück. Hierbei sind alle Beteiligten gefordert. Es müssen Maßnah-
men entwickelt werden, die die Aus- und Weiterbildungsbereitschaft inten-
sivieren und zu einem Konzept lebenslanges Lernen verstärken;

18. Maßnahmen zu ergreifen, um die Weiterbildungsmöglichkeiten am Arbeits-
platz zu erleichtern sowie Fernunterricht und On-Line-Lernen zu fördern.

IV. Der Deutsche Bundestag erwartet von den Ländern:

1. den Europass an allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen verstärkt
vorzustellen;

2. die Lehrkräfte der berufsbildenden Schulen weiterhin auf einem hohen
Niveau auszubilden und entsprechend zu entlohnen. Die Qualität der Berufs-
bildung ist auch abhängig von der Qualifikation der Ausbilder und Lehr-
kräfte. Hierzu gehört ebenso ein Konzept zur permanenten Weiterbildung,
das auch grenzüberschreitende Betriebspraktika für Lehrkräfte an berufsbil-
denden Schulen beinhaltet.

V. Der Deutsche Bundestag appelliert an die Tarifpartner,

vermehrt Vereinbarungen zum lebensbegleitenden Lernen in Tarifverträgen zu
verankern, um damit das deutsche Bildungssystem zu stärken und die Weiterbil-
dungsbereitschaft zu steigern.

Berlin, den 18. Oktober 2006

Volker Kauder, Dr. Peter Ramsauer und Fraktion
Dr. Peter Struck und Fraktion

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