BT-Drucksache 16/2809

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktionen CDU/CSU und SPD -16/1889, 16/2785- Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Elterngeldes

Vom 27. September 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/2809
16. Wahlperiode 27. 09. 2006

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Ina Lenke, Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, Dr. Karl Addicks,
Christian Ahrendt, Uwe Barth, Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, Patrick
Döring, Mechthild Dyckmans, Jörg van Essen, Ulrike Flach, Otto Fricke, Horst
Friedrich (Bayreuth), Dr. Edmund Peter Geisen, Hans-Michael Goldmann, Joachim
Günther (Plauen), Dr. Christel Happach-Kasan, Heinz-Peter Haustein, Dr. Werner
Hoyer, Hellmut Königshaus, Dr. Heinrich L. Kolb, Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin,
Heinz Lanfermann, Harald Leibrecht, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Horst
Meierhofer, Patrick Meinhardt, Jan Mücke, Burkhardt Müller-Sönksen, Dirk Niebel,
Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Detlef Parr, Cornelia Pieper, Gisela Piltz, Jörg
Rohde, Frank Schäffler, Christoph Waitz, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker
Wissing, Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Martin Zeil, Dr. Guido Westerwelle und der
Fraktion der FDP

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und SPD
– Drucksachen 16/1889, 16/2785 –

Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Elterngeldes

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Gesetzentwurf wirft verfassungsrechtliche und rechtssystematische Be-
denken auf; inwieweit der Entwurf dem Gesetzeszweck gerecht wird, ist
fraglich. Bedenken wurden im Rahmen der Anhörung des Ausschusses für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Deutschen Bundestages am
4. Juli 2006 und durch den Bundesrechnungshof (Kurzstellungnahme zum
Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Elterngeldes vom 15. September
2006 – IX 5 – 05 20 03) geäußert.

2. In Zusammenhang mit dem geplanten Elterngeld wird immer wieder auf die
skandinavischen Länder verwiesen. In Schweden wurden 1974 im Rahmen
der Sozialversicherungssysteme die Elternversicherung und der sog. Papa-

urlaub mit Blick auf Vollbeschäftigung und Teilnahme von Männern und
Frauen am Arbeitsmarkt eingeführt. Der vorliegende Gesetzentwurf verbin-
det hingegen verschiedene Zielsetzungen der Familien-, Gleichstellungs-,
Bevölkerungs-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Die in dem Gesetzentwurf
vorgesehene gleichzeitige Einführung einer Lohnersatz- und Sozialleistung
führt zu komplizierten Regelungen, systematischen Brüchen und verfas-
sungsrechtlichen Bedenken.

Drucksache 16/2809 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

a) Verfassungsrecht

● Bedenken bestehen bei der Einführung eines einkommensabhängigen
Elterngeldes hinsichtlich der Wahl der Rechtsgrundlage von Artikel 74
Abs. 1 Nr. 7 des Grundgesetzes (GG). Der Begriff „öffentliche Für-
sorge“ umfasst zwar den gesamten Bereich des Sozialrechts, doch
orientieren sich Sozialleistungen an der Bedürftigkeit und knüpfen
nicht an vergangene Erwerbserfolge an.

● Die gewählte nicht an der Bedürftigkeit ausgerichtete Ausgestaltung
des Elterngeldes erzeugt zudem gleichheitsrechtliche Bedenken. Es be-
stehen Zweifel an der Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Gleichheits-
satz in Artikel 3 Abs. 1 GG, wenn die Gewährung von Elterngeld als
Lohnersatzleistung nicht beitragsfinanziert ist, sondern über Steuergel-
der erfolgt.

b) Systematik

● An einer ausreichenden Anschlussbetreuung nach Bezug des geplanten
Elterngeldes fehlt es. Auf die Notwendigkeit eines qualitativen und
quantitativen Ausbaus der Kinderbetreuung hat die Fraktion der FDP
in ihrem Antrag „Flexible Konzepte für die Familie – Kinderbetreuung
und frühkindliche Bildung zukunftsfähig machen“ (Bundestagsdruck-
sache 16/1168) bereits hingewiesen. Trotz der Einführung eines
Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz für Kinder von drei bis
sechs Jahren 1996 und offiziellen Zahlen, wonach sich von 2002 bis
2005 die Platz-Kind-Relation bei den unter Dreijährigen verdoppelt
habe, stand bundesweit nur für 13,7 Prozent der Kinder unter drei Jah-
ren ein Platz zur Verfügung. Die Unterschiede zwischen den alten und
neuen Bundesländern sind noch immer erheblich. In vielen Regionen
gibt es noch immer keine flexiblen Angebote in den Betreuungseinrich-
tungen für die unter Dreijährigen.

● Die Anknüpfung an das Nettoeinkommen vor der Geburt des Kindes
wird dazu führen, dass man – ausgehend von einem Bruttogehalt von
2 000 Euro – bei Wahl der Steuerklasse V statt der Steuerklasse III ein
bis zu 390 Euro geringeres Elterngeld erhält. Dies führt zu einer Un-
gleichbehandlung gleich gelagerter Fälle.

● Kinder werden bei Empfängerinnen und Empfängern von Arbeits-
losengeld II bereits im Rahmen der Bedarfsgemeinschaft mit 60 Pro-
zent des Regelsatzes bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres und in
Höhe von 80 Prozent des Regelsatzes bis zur Volljährigkeit berücksich-
tigt; Lohnersatzfunktion oder soziale Aspekte können die Gewährung
von Mindestelterngeld daher nicht rechtfertigen. Im Gegensatz dazu
sind Alleinerziehende und insbesondere Selbstständige, die mehr als
30 Stunden in der Woche arbeiten, von der Sozialleistung Mindest-
elterngeld auch bei geringem Verdienst ausgeschlossen; eine Bedürf-
tigkeitsprüfung für diese Fälle ist im Gesetzentwurf nicht vorgesehen.

● Ob der mit dem Elterngeld verbundene Zweck einer verstärkten Fami-
liengründung gerade von jungen Erwachsenen erreicht wird, ist zwei-
felhaft. Gerade Berufsanfänger werden die Geburt des ersten Kindes
auf einen Zeitpunkt mit höherem Einkommen verschieben.

● Einzelregelungen wie die Anknüpfung an das alleinige Sorgerecht und
den Begriff „Gefährdung des Kindeswohls“ werfen mit Blick auf die
Zielsetzungen und eine einheitliche Auslegung und Anwendung im
Familien- und Sozialrecht Fragen auf.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/2809

c) Verwaltungsmehraufwand und Bürokratiekosten

● Die vorgesehenen Regelungen sind aufgrund der sechs verschiedenen
Berechnungsgrundlagen für das geplante Erziehungsgeld ausgespro-
chen kompliziert. Grundsätzlich soll Elterngeld in Höhe von 67 Pro-
zent des Nettoeinkommens des letzten Jahres vor der Geburt bis maxi-
mal 1 800 Euro im Monat (Obergrenze 2 700 Euro brutto) gewährt
werden. Das Mutterschaftsgeld acht Wochen nach der Geburt soll
angerechnet werden. Einkünfte aus Teilzeitbeschäftigung werden bei
Erhalt des Elterngeldes verrechnet. Nach der Geringverdienerregelung
bei durchschnittlichen Monatseinkommen von unter 1 000 Euro er-
höht sich der Prozentsatz von 67 Prozent um 0,1 Prozentpunkte für je
2 Euro um die der Betrag von 1 000 Euro unterschritten wird auf bis
zu 100 Prozent. Bei Mehrlingsgeburten sollen im Gegensatz zum bis-
herigen Erziehungsgeld 300 Euro für jedes weitere Kind gezahlt wer-
den. Im Rahmen des Geschwisterbonusses erhöht sich das Elterngeld,
wenn die berechtigte Person mit zwei Kindern, die das dritte Lebens-
jahr noch nicht vollendet haben oder mit drei oder mehr Kindern, die
das sechste Lebensjahr noch nicht vollendet haben, in einem Haushalt
lebt, um 10 Prozent, mindestens um 75 Euro. Alleinerziehende sollen
unter bestimmten Voraussetzungen 14 Monate Elterngeld erhalten; bei
gleichzeitiger Inanspruchnahme von Elternzeit bei Teilzeitbeschäfti-
gung beider Eltern beträgt die Elternzeit maximal sieben Monate.

● Die Bezugnahme auf das individuelle Einkommen im Jahr vor der Ge-
burt des Kindes und die Vielfalt der Berechnungsmodalitäten werden
zu mehr Bürokratie führen. Die Bearbeitungszeiten pro Fall werden
sich im Vergleich zum bisherigen Bundeserziehungsgeld erhöhen. Dies
wird zu einem erheblichen Anstieg der Personalkosten der Kommunen
führen.

Beim geplanten Elterngeld gibt es Gewinner und Verlierer. Laut Angaben des
Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sind 155 000
Familien mit einem Einkommen unter 30 000 Euro brutto durch die Einfüh-
rung des Elterngeldes schlechter gestellt als beim Erziehungsgeld. Allein-
erziehende, die für ihren Lebensunterhalt mehr als 30 Stunden arbeiten oder
aufgrund ihrer Selbstständigkeit arbeiten müssen, sind vom Elterngeld aus-
geschlossen.

Eine zukunftsorientierte Familienpolitik muss alle Familien gleichermaßen
im Blick haben. Familien brauchen die Wahlfreiheit, ihre Lebensentwürfe
nach eigenen Vorstellungen verwirklichen zu können.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. den Gesetzentwurf zurückzuziehen und ein verfassungskonformes Gesetz
vorzulegen. Es sollen insbesondere

● eine echte Lohnersatzleistung und eine entspechende Leistung für Selbst-
ständige zugunsten des Elternteils, der seine Erwerbstätigkeit zugunsten
der Erziehung und Betreuung von Kindern einschränkt, eingeführt wer-
den,

● das Bruttolohnprinzip angewendet werden, um die Gerechtigkeitslücke,
die durch die unterschiedliche Anwendung der Steuerklassen entsteht,
auszugleichen,

● die Interessen Selbstständiger ausreichend berücksichtigen,

Drucksache 16/2809 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
● Elternzeit unbürokratisch und flexibel wochen- oder auch tageweise mit
Blick auf die zahlreichen Arbeitszeitmodelle in den Betrieben gewährt
werden, zugleich muss eine Inanspruchnahme als Budget möglich sein,

● bei einem Wechsel von einer einkommensabhängigen Leistung zu einer
Lohnersatzleistung aus Gründen des Vertrauensschutzes unbillige Härten
für den Einzelnen durch die Aufnahme von Übergangsregelungen zu ver-
meiden;

2. ein schlüssiges Gesamtkonzept für eine umfassende Familienförderung bis
zur Vollendung des 18. Lebensjahres eines Kindes vorzulegen, das insbeson-
dere die Existenzsicherung der Kinder und die Förderung von kinderreichen
Familien berücksichtigt;

3. einen Kinderbetreuungsgipfel einzuberufen, um zusammen mit Ländern und
Kommunen ein Konzept für flexible Modelle der Kinderbetreuung und deren
Finanzierung insbesondere für Kinder ab dem zweiten Lebensjahr zu erarbei-
ten;

4. die bestehenden Regelungen dahingehend zu ändern, dass Kinderbetreuungs-
kosten bis zu 12 000 Euro in vollem Umfang steuerlich Berücksichtigung fin-
den;

5. ein sog. Baby-BAföG für eine bessere Unterstützung von Auszubildenden
und Studierenden nach der Geburt ihres Kindes bei Fortsetzung ihrer Ausbil-
dung einzuführen;

6. die beschlossene Mehrwertsteuererhöhung zurückzunehmen, weil sie gerade
Familien über Gebühr belastet.

Berlin, den 27. September 2006

Dr. Guido Westerwelle und Fraktion

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