BT-Drucksache 16/2792

Zukunft der Arbeit gestalten statt Arbeitslosigkeit verwalten

Vom 27. September 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/2792
16. Wahlperiode 27. 09. 2006

Antrag
der Abgeordneten Dr. Thea Dückert, Brigitte Pothmer, Volker Beck (Köln),
Fritz Kuhn und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Zukunft der Arbeit gestalten statt Arbeitslosigkeit verwalten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die von der rot-grünen Bundesregierung in der 15. Wahlperiode umgesetzten
strukturellen Reformen und die aktuelle konjunkturelle Belebung sorgen für ein
günstiges wirtschaftliches Klima, das auch den Arbeitsmarkt entlastet. Die Ar-
beitslosenquote sank im August 2006 um rund einen Prozentpunkt gegenüber
dem Vorjahr. Das derzeitige Wirtschaftswachstum liegt über den Erwartungen
von Experten und Bundesregierung. Doch angesichts des Reformstillstandes der
schwarz-roten Bundesregierung und der anstehenden Mehrwertsteuererhöhung
droht diese Erholung nur ein kurzes Zwischenspiel zu bleiben.

Arbeitslose mit geringen Qualifikationen und Langzeitarbeitslose profitieren
von der aktuellen Entwicklung nicht. Auf dem Arbeitsmarkt verbessert sich im
Moment die Lage nur für Arbeitsuchende, die selbst initiativ werden können und
die keine Vermittlungshemmnisse zu überwinden haben. Die Langzeitarbeits-
losigkeit und die Arbeitslosigkeit Geringqualifizierter bleiben auch im Jahr 2006
auf hohem Niveau. Während im September 2005 noch 37,4 Prozent aller Ar-
beitslosen langzeitarbeitslos waren, so ist dieser Wert im September 2006 auf
42,4 Prozent angestiegen. Für Menschen mit keiner oder einer veralteten Berufs-
ausbildung ist das Risiko, dauerhaft keine Beschäftigung zu finden, mehr als
sechsmal so hoch als für Menschen mit einer akademischen Ausbildung.
Deutschland ist immer noch das Land, das im internationalen OECD-Vergleich
eine der höchsten Arbeitslosenquoten bei Geringqualifizierten und eine der
höchsten Anteile von Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen aufweist.

Die Bundesregierung versäumt es, entscheidende Weichen für die Zukunft zu
stellen und Brücken in den Arbeitsmarkt für diejenigen zu bauen, die am meisten
von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Entgegen den ursprünglichen Ankündi-
gungen wurden im Sommer 2006 keine Vorschläge für eine umfassende Neu-
ordnung des Arbeitsmarktes und die Verbesserung der Beschäftigungssituation
im Niedriglohnbereich vorgelegt. Die mit der Initiative 50Plus präsentierten
Vorschläge für ältere Arbeitnehmer beinhalten im Wesentlichen lediglich bereits

bestehende Instrumente und suggerieren Bewegung, wo tatsächlich Stillstand
herrscht. Mit dem angestrebten massiven Ausbau der Kombilohnmodelle für
Ältere setzt die Bundesregierung das fatale Signal, dass ältere Arbeitnehmer nur
mit hohen Subventionen im Arbeitsmarkt zu halten seien.

Die von der Bundesregierung bereits umgesetzten und darüber hinaus angekün-
digten Leistungseinschränkungen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende
(Zweites Buch Sozialgesetzbuch – SGB II) führen zu sozialen Verwerfungen.

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Die große Koalition hat die Akzeptanz der Arbeitsmarktreformen geschmälert,
statt die Zugangschancen von Langzeitarbeitslosen zum ersten Arbeitsmarkt
durch umfangreiche Betreuung, passgenaue Hilfsangebote und eine effektive
Vermittlung zu verbessern. Der Anteil der Personen mit Erwerbseinkommen, die
aufgrund ihres geringen Lohns für ihre Existenzsicherung ergänzend Arbeits-
losengeld II beanspruchen, nimmt zu. Der Anteil der Geringverdiener an den
Vollzeitbeschäftigten steigt an. Tariflich organisierte Niedriglohnbranchen sind
dafür genauso verantwortlich wie tariflich nicht organisierte Bereiche mit Nied-
riglöhnen. Statt umfassende und verbindliche Regelungen für Mindestarbeits-
bedingungen einzuführen, beschränkt sich die Bundesregierung darauf, die
Gebäudereinigerbranche in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufzunehmen.
Damit sind nun aber lediglich drei von insgesamt über 1 000 Branchen in diesem
Gesetz berücksichtigt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

umgehend gesetzgeberische Maßnahmen zu ergreifen, die zum Abbau der struk-
turellen Probleme am Arbeitsmarkt führen und die insbesondere zur Schaffung
neuer Arbeitsplätze und zur Verbesserung der Situation von Langzeitarbeits-
losen beitragen:

1. Die Lohnnebenkosten müssen gezielt im unteren Einkommensbereich abge-
senkt werden, um mehr Beschäftigung für Geringqualifizierte zu schaffen
und die Zahl der Langzeitarbeitslosen zu reduzieren. Die Entlastung von klei-
nen Einkommen bei den Sozialversicherungsbeiträgen verringert die Diffe-
renz zwischen Brutto- und Nettoeinkommen. Dadurch bleibt mehr vom Brut-
tolohn beim Arbeitnehmer, und für Arbeitgeber steigt der Anreiz, neue Ar-
beitsplätze zu schaffen.

Mit dem Progressiv-Modell hat die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
einen Vorschlag vorgelegt, der eine solche Entlastung mit der Ablösung der
Minijobs verbindet und zusätzliche Arbeitsplätze für diejenigen schafft, die
bisher zu den Geringverdienern gehören, schwarz arbeiten oder ganz ohne
Job sind.

2. Arbeitsplätze im Dritten Sektor müssen in Zukunft auf lokaler Ebene im Rah-
men des SGB II langfristig und sozialversicherungspflichtig eingerichtet
werden können. Dies bietet eine Perspektive für einen Teil der Langzeit-
arbeitslosen, die aufgrund gebündelter Vermittlungsprobleme in Deutschland
dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind. Der hohen strukturellen
Arbeitslosigkeit stehen Tätigkeitsfelder im Bereich der Kommunen und der
kommunalen Infrastruktur gegenüber, die im Moment weitgehend unerledigt
bleiben und große Lücken im sozialen Geflecht der Städte und Kreise und der
Gesellschaft hinterlassen. Integrationsfirmen, die zurzeit für die Förderung
von Menschen mit Behinderungen zuständig sind, müssen in Zukunft auch
für vom ersten Arbeitsmarkt ausgeschlossene Langzeitarbeitslose geöffnet
werden.

3. Lohndumping und Unterbietungskonkurrenz müssen durch branchen- und
regionalspezifische Mindestlohnregelungen verhindert werden. Tarifliche
Mindestlohnregelungen müssen hierfür durch eine Vereinfachung der Allge-
meinverbindlicherklärung ermöglicht werden. Der Anwendungsbereich des
Arbeitnehmer-Entsendegesetzes muss auf alle Branchen ausgeweitet werden,
und es muss zu einer gesetzlichen Regelung kommen, die rechtlich verbind-
liche Mindestlöhne und Mindestarbeitsbedingungen unter Beteiligung von
Sozialpartnern und Wissenschaft in jenen Branchen festsetzt, in denen eigene
Tarifstrukturen nicht vorhanden sind.
4. Im SGB II muss das Fördern konsequent in den Mittelpunkt der Arbeit ge-
rückt werden. Dazu sind die Mittel aus dem Integrationsbudget freizugeben

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/2792

und den Trägern vollständig zur Verfügung zu stellen. Arbeitsgemeinschaf-
ten und Optionskommunen sind aufgerufen, die Mittel auszuschöpfen und
für sinnvolle und auf dauerhafte Eingliederung ausgerichtete Integra-
tionsstrategien einzusetzen. Durch die im SGB II vorgesehenen Zielvereinba-
rungen muss die Bundesregierung Ziele zur Förderung und Aktivierung vor-
geben, die Art der Umsetzung dieser Ziele aber den Arbeitsgemeinschaften
und Optionskommunen vor Ort überlassen. Durch Benchmarking zwischen
den Arbeitsgemeinschaften und Optionskommunen sowie durch gegenseiti-
ges Lernen müssen sich erfolgreiche Förderkonzepte und lokale Ansätze
durchsetzen und Verbreitung finden können.

5. Der Übergang vom SGB II in die Erwerbsarbeit muss auch in Zukunft ermög-
licht werden. Die Zuverdienstgrenzen im SGB II haben bisher sichergestellt,
dass Erwerbsarbeit in jedem Fall belohnt wird und derjenige, der arbeitet,
über mehr Einkommen verfügt als derjenige, der ausschließlich SGB-II-
Leistungen bezieht. Eine Reduzierung der Zuverdienstgrenzen bei kleinen
Einkommen, wie von der Bundesregierung angedacht, würde demgegenüber
Eigeninitiative bestrafen, den Weg in legale Beschäftigung versperren und
stattdessen Schwarzarbeit produzieren.

6. Die Potentiale des Dienstleistungssektors für zusätzliche Beschäftigung müs-
sen konsequent genutzt werden. Insbesondere die Beschäftigungspotentiale,
die sich in den Bereichen wissensbasierter Dienstleistungen, Bildung und
Weiterbildung, Gesundheit sowie Pflege aus dem demographischen Wandel
und den veränderten Familien-, Wirtschafts- und Erwerbsstrukturen ergeben,
sind beträchtlich. Sie müssen durch zielgerichtete Förderung von Dienstleis-
tungsforschung und -innovation sowie durch Aus- und Weiterbildung er-
schlossen werden.

7. Die Beschäftigungssituation von älteren Arbeitnehmern muss durch eine
langfristig angelegte Strategie verbessert werden. Dazu gehören:

– eine deutliche Ausweitung der beruflichen Weiterbildung aller Alters-
gruppen,

– die Änderung der Personalpolitik in den Unternehmen,

– die Neuausrichtung der Vermittlungsstrategie der BA für ältere Arbeitneh-
mer und

– ein gesellschaftliches Leitbild, das eine „Kultur des beruflichen Neuan-
fangs im Alter“ befördert.

Instrumente, die eine Aussteuerung der älteren Arbeitnehmer befördern und
erleichtern, wie die sogenannte 58er-Regelung (§ 428 SGB III) und Alters-
teilzeitregelungen ohne Wiederbesetzung, müssen umgehend abgeschafft
werden.

8. Existenzgründungen müssen stärker gefördert und durch eine geeignete Re-
form der Förder- und Beratungsstrukturen unterstützt werden. Insbesondere
Existenzgründungen aus Arbeitslosigkeit müssen in Zukunft so weiterent-
wickelt werden, dass sie wieder für mehr Arbeitsuchende eine Brücke in Er-
werbstätigkeit bilden. So muss der neue Gründungszuschuss im SGB III drin-
gend korrigiert werden, um Nachteile in der Förderung für Existenzgründun-
gen in Teilzeit und für Gründerinnen und Gründer mit Familie im Vergleich
zur früheren Ich-AG zu beheben. Eine beratende Infrastruktur, eine GmbH-
Reform und bessere Zugänge zu Finanzierungsinstrumenten müssen zu besse-
ren Start- und Entwicklungsbedingungen für alle Existenzgründer beitragen.

Berlin, den 27. September 2006
Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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