BT-Drucksache 16/277

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung -16/88, 16/252- Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes

Vom 14. Dezember 2005


Deutscher Bundestag Drucksache 16/277
16. Wahlperiode 14. 12. 2005

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Wolfgang Neskovic, Sevim Dagdelen, Ulrich Maurer, Petra Pau,
Jan Korte, Ulla Jelpke, Dr. Hakki Keskin, Gert Winkelmeier, Kersten Naumann und
der Fraktion DIE LINKE.

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
– Drucksachen 16/88, 16/252 –

Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das Bundesverfassungsgericht hatte mit seiner Entscheidung (1 BvF 3/92) vom
3. März 2004 festgestellt, dass die §§ 39 und 41 des Außenwirtschaftsgesetzes
– die für die präventive Telekommunikations- und Postüberwachung durch das
Zollkriminalamt die damalige Rechtsgrundlage bildeten – mit den Grundgesetz
nicht vereinbar waren.

Am Ende des Begründungstextes verwies das Gericht auf die Entscheidung
(1 BvR 2378/98 und 1 BvR 1084/99) zum „Großen Lauschangriff“ vom selben
Tage und stellte fest:

„Entscheidet [der Gesetzgeber] sich für Überwachungsmaßnahmen zur Straftat-
verhütung im Außenwirtschaftsverkehr auf neuer Rechtsgrundlage, wird er bei
einer Neuregelung außerdem die Grundsätze zu beachten haben, die der Senat
in seinen Urteilen vom 14. Juli 1999 (BVerfGE 100, 313) und vom 3. März
2004 (1 BvR 2378/98 und 1 BvR 1084/99) niedergelegt hat.“

Damit verwies das Gericht auch auf die zum Schutz des Kernbereichs der
privaten Lebensgestaltung für Artikel 13 des Grundgesetzes (GG) gefundenen
Grundsätze, wonach u. a. Überwachungsmaßnahmen, die diesen Bereich be-
rühren, von vornherein unzulässig und solche unzulässigen Überwachungs-
maßnahmen ggf. nachträglich abzubrechen sind.

Der von der Bundesregierung eingebrachte Gesetzentwurf hatte es aber – trotz
des eindeutigen Hinweises des Bundesverfassungsgerichts – unterlassen, Rege-

lungen zum Schutz des Kernbereichs der persönlichen Lebensgestaltung zu
gestalten. Nach der Entscheidung zum „Großen Lauschangriff“ lag es auf der
Hand, dass der Kernbereich privater Lebensgestaltung (Artikel 1 Abs. 1) abso-
lut geschützt ist – unabhängig von der Art des Eingriffs (akustische Raumüber-
wachung oder Brief- und Telekommunikationsüberwachung).

Drucksache 16/277 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Trotz dieser eindeutigen Rechtslage hat der Deutsche Bundestag das Gesetz zur
Neuregelung der präventiven Telekommunikations- und Postüberwachung
(NTPG) im Eilverfahren am 3. Dezember 2004 beschlossen, ohne den Aufla-
gen des Bundesverfassungsgerichts aus den vorgenannten Entscheidungen vom
3. März 2004 nachzukommen und Regelungen zum Schutz des Kernbereichs
der privaten Lebensgestaltung zu schaffen.

Stattdessen hat man sich für eine (weitere) Befristung des Gesetzes entschie-
den.

Der Abgeordnete Joachim Stünker (Fraktion der SPD) äußerte unter anderem
in der zweiten und dritten Lesung am 3. Dezember 2004: „Mit der erneut
gefunden Befristung nehmen wir aber auch uns selber in die Pflicht, hier weiter-
zuarbeiten und weitere Feinarbeit zu leisten, um in diesem sensiblen Bereich der
Grundgesetzartikel 1 und 2 – Schutz des Persönlichkeitsrechts – und 10 – Post-
und Fernmeldegeheimnis – im Ergebnis sattelfeste rechtsstaatliche Lösungen zu
finden“ (Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 3. Dezember 2004, S. 13678).

Der Abgeordnete Hans-Christian Ströbele (Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN) stellte in der Debatte vom 3. Dezember 2004 fest: „Wir haben uns
aber nicht darüber verständigen können, ob (…) das Parallelurteil des Bundes-
verfassungsgerichts zum großen Lauschangriff auch hier einschlägig ist, ob
also der Kernbereich der Lebensführung auch bei solchen Maßnahmen gesetz-
lich geschützt werden muss. Um diese Frage zu klären, wollen wir eine Evalua-
tion und eine Anhörung durchführen. Daher haben wir dieses Gesetz nochmals
befristet. Die Zeit bis zum Ende dieses Jahres hat einfach nicht ausgereicht,
eine wirklich verfassungsfeste Formulierung zu finden. Die Zeit, eine solche
Formulierung zu finden, müssen wir uns im nächsten Jahr nehmen. Ich bin
froh, dass die Befristung kurz ist. Dadurch stehen wir unter Handlungsdruck“
(ebenda S. 13676).

Der Abgeordnete Rainer Funke (Fraktion der FDP) machte hingegen deutlich:
„Da die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf von jeglichen den Kern-
bereich schützenden Regelungen absieht, ist der Gesetzentwurf zweifelsohne
mit einem hohen verfassungsrechtlichen Risiko verbunden“ (ebenda S. 13677).

In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (1 BvR 668/04) vom 27. Juli
2005 zum Niedersächsischen SOG heißt es: „Die nach Artikel 1 Abs. 1 GG
stets garantierte Unantastbarkeit der Menschenwürde fordert auch im Gewähr-
leistungsbereich des Artikels 10 Abs. 1 GG Vorkehrungen zum Schutz indivi-
dueller Entfaltung im Kernbereich privater Lebensgestaltung.“

Damit ist nunmehr endgültig und zweifelsfrei davon auszugehen, dass auch im
Anwendungsbereich des Artikels 10 Abs. 1 des Grundgesetzes ein absolut ge-
schützter Kernbereich privater Lebensgestaltung zu gewährleisten ist, zu dessen
Schutz im Bereich der präventiven Telekommunikations- und Postüberwa-
chung der Gesetzgeber aus zwingenden verfassungsrechtlichen Gründen aufge-
fordert ist.

Dennoch beinhaltet der zur Abstimmung stehende Entwurf der Bundesregie-
rung eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes
noch immer keine Regelungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebens-
gestaltung, sondern sieht die Verlängerung des verfassungswidrigen Zollfahn-
dungsdienstgesetzes um weitere zwei Jahre vor. Ausweislich der Ausführungen
zum Gesetzentwurf (Probleme und Ziele) scheint auch die Bundesregierung
von der Verfassungswidrigkeit ihres Entwurfs auszugehen. Die Befristung soll
offenbar diesen Umstand abmildern und dem Gesetzgeber einen Zeitgewinn
zur Ausarbeitung eines verfassungsgemäßen Entwurfs verschaffen.

Den Gesetzgeber trifft jedoch die nicht relativierbare Pflicht, ausschließlich sol-

che Gesetze zu verabschieden, von denen er wenigstens annimmt, sie seien im

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/277

Einklang mit der Verfassung. Eine Befristung – auch eine kürzere Dauer – ver-
mag ihn von dieser Pflicht nicht zu entbinden.

Mit Recht stellt der Bundesvorsitzende der Humanistischen Union, Dr. Fredrik
Roggan, in einer Presseerklärung am 24. November 2005 fest:

„Schon die aktuell geltende Befugnis missachtet die Vorgaben des Bundesver-
fassungsgerichts für eine Neuregelung. (…) Es kann nicht sein, dass der Bun-
destag sehenden Auges ein verfassungswidriges Gesetz verlängert“ (Pressemit-
teilung der Humanistischen Union, 24. November 2005).

Und selbst der innenpolitische Sprecher der Fraktion der SPD, Dr. Dieter
Wiefelspütz, räumt ein: „Den Gesetzentwurf müssen wir uns noch einmal ge-
nau anschauen. (…) Rechtsstaatlichkeit geht vor Eilbedürftigkeit“ (Berliner
Zeitung, 26. November 2005).

II. Deshalb fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf,

ihren verfassungswidrigen Gesetzentwurf zur Änderung des Zollfahndungs-
dienstgesetzes (Bundestagsdrucksache 16/88) zurückzuziehen und einen ver-
fassungskonformen Gesetzentwurf zur Regelung präventiver Telekommunika-
tions- und Postüberwachung einzureichen.

Berlin, den 14. Dezember 2005

Wolfgang Neskovic
Sevim Dagdelen
Ulrich Maurer
Petra Pau
Jan Korte
Ulla Jelpke
Dr. Hakki Keskin
Gert Winkelmeier
Kersten Naumann
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Entschließungsantrag
Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes

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