BT-Drucksache 16/2656

Verbraucherinformationsgesetz nachbessern und das Lebensmittel-Kontrollsystem neu ordnen

Vom 20. September 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/2656
16. Wahlperiode 20. 09. 2006

Antrag
der Abgeordneten Ulrike Höfken, Bärbel Höhn, Cornelia Behm, Peter Hettlich,
Undine Kurth (Quedlinburg), Christine Scheel, Hans-Josef Fell, Winfried Hermann,
Dr. Anton Hofreiter, Sylvia Kotting-Uhl, Dr. Reinhard Loske und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Verbraucherinformationsgesetz nachbessern und das Lebensmittel-
Kontrollsystem neu ordnen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Situation im Fleischsektor ist nach den erneuten Gammelfleischskandalen
für die Verbraucherinnen und Verbraucher unhaltbar geworden. Die eklatanten
Kontrolldefizite und die völlig ungenügende Verbraucherinformationspolitik in
Deutschland dürfen nicht länger auf dem Rücken der Konsumenten ausgetragen
werden. Bund und Länder tragen die gemeinsame Verantwortung dafür, die Ge-
sundheitsrisiken im Lebensmittelbereich zu minimieren und einen vorsorgenden
Verbraucherschutz zu garantieren. Es ist Zeit, dass sich der Ernährungsmarkt
neu ausrichtet.

Bereits im Jahr 2001 war der Fleischsektor durch die BSE-Krise Ausgangspunkt
für eine Neuordnung des Verbraucherschutzes. Die Trennung von Risikobewer-
tung und Risikomanagement auf der Bundesebene waren wichtige Schritte, um
Missstände besser zu erkennen und schnell und verbraucherfreundlich abzustel-
len. Die Fleischbranche versprach den deutschen Verbrauchern Qualitätssiche-
rungssysteme, Kennzeichnung und bessere Angebote.

Umso empörender war der erste Gammelfleischskandal im Herbst 2005, der sig-
nifikante kriminelle Missstände in Tiefkühllagern, bei Zwischenhändlern, in
lebensmittelverarbeitenden Betrieben und im Lebensmitteleinzelhandel ans Ta-
geslicht brachte. Die bessere Zusammenarbeit der Bundesländer, die Gesetzes-
initiative für ein Verbraucherinformationsgesetz und eine bessere Ausstattung
der Lebensmittelkontrolle wurden von den großen Volksparteien CDU und SPD
in Bund und Ländern jedoch nur schleppend und halbherzig verfolgt. Für die kri-
minellen Interessen in der Fleischbranche war diese matte und kleinteilige Poli-
tik der Bundes- und Landesregierungen das falsche Signal.

Die erneuten Vorkommnisse in der Fleischbranche zeigen, dass die von Bund

und Ländern ergriffenen Maßnahmen gescheitert sind und radikal überarbeitet
werden müssen, um noch zum Erfolg zu führen. Nicht nur die Aufklärungsan-
strengungen der Behörden müssen massiv verstärkt werden, damit lückenlos
alle verantwortlichen Unternehmen belangt werden. Insbesondere umfassende
Informationsrechte für Verbraucher und eine kritische Öffentlichkeit stärken die
Markttransparenz und damit die Funktionsfähigkeit der Lebensmittelmärkte und

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sind das geeignete Instrument zur Bekämpfung von Missbräuchen und illegalen
Machenschaften in der Lebensmittelwirtschaft.

Um ihre Kaufentscheidungen besser treffen zu können, brauchen Verbraucher
vor allem umfassende und leicht zugängliche Angaben über Produkte und Be-
teiligte, die zum Beispiel in einer Internetliste und in Datenbanken nachgeschla-
gen werden können. Bis heute haben Verbraucher kaum Informationen erhalten,
um sich selbst zu schützen. Die von Verbraucherverbänden geforderte Über-
arbeitung des im Mai vorgelegten Verbraucherinformationsgesetzes der Koali-
tion der CDU/CSU und SPD hat seit den erneuten Gammelfleischskandalen eine
neue Berechtigung und Dringlichkeit erhalten.

Das von der Koalition der CDU/CSU und SPD eingebrachte Verbraucherinfor-
mationsgesetz ist nicht geeignet, die bestehenden Missstände zu beheben. Erfor-
derlich ist ein Gesetz, dass die notwendige neue Verbraucherinformationskultur
widerspiegelt. Es ist dringend geboten, dass sich Bundesregierung, Bundes-
länder und die zuständigen Bundes- und Landesbehörden auf die Seite der Ver-
braucher stellen und ihren Dienst im Auftrag der Allgemeinheit verrichten, statt
schwarzen Schafen eine Spielwiese zu bewahren.

Die neue Informationsbasis in Deutschland muss sich in der Ausweitung des
Anwendungsbereichs des Verbraucherinformationsgesetzes niederschlagen.
Auch die übermäßige Schonung der Unternehmen vor Informationsansprüchen
der Verbraucher lässt sich nach den erneuten Skandalen nicht mehr vertreten.
Als Inhaber der relevanten Verbraucherinformationen müssen sie zur Heraus-
gabe der Informationen verpflichtet werden. Die Antragsverfahren sind verbrau-
cherfreundlich und unbürokratisch zu gestalten.

Die Situation der Lebensmittelkontrolle in den Ländern genügt nicht den Anfor-
derungen an eine moderne und leistungskräftige Überwachungsstruktur zur
Gewährleistung der Lebensmittelsicherheit und -qualität. Das deutsche Über-
wachungssystem funktioniert nicht effektiv und gründlich. Gesundheitsvorsorge
im Lebensmittelbereich darf nicht auf anonyme Hinweise setzen, sondern muss
ausreichende und vorbeugende Strukturen schaffen, z. B. systematische Kon-
trollketten und ausreichende Personal- und Sachausstattung.

Einige Länder haben die staatliche Lebensmittelkontrolle zurückgefahren, an-
statt sie auszubauen. Verbraucherschutz und Gesundheitsvorsorge dürfen jedoch
den Sparbemühungen von Bund und Ländern nicht zum Opfer fallen. Andern-
falls würde kriminellen Machenschaften Vorschub geleistet. Und wenn regel-
mäßig 20 Prozent der geprüften Fleischwaren beanstandet werden, dürfen Bund
und Länder ihre Verantwortung nicht länger vernachlässigen, sondern müssen
schnell handeln.

Die amtlichen Prüflaboratorien zur lebensmittelrechtlichen Überwachung müs-
sen in die Lage versetzt werden, die erforderlichen Untersuchungsaufgaben
jederzeit in vollem Umfang wahrzunehmen. Angesichts der umgesetzten Le-
bensmittelmengen sind bundesweit 2 500 amtliche Lebensmittelüberwacher
unzureichend. Die Probenuntersuchung einschließlich der Erstellung des Gut-
achtens nimmt in einigen Fällen eine unangemessen lange Zeit in Anspruch. Ein
wirksamer vorsorgender Verbraucherschutz ist aber, insbesondere mit Blick auf
Frischware, auf zeitnahe Ergebnisse und angemessene Bearbeitung angewiesen.

Es ist bislang nicht gewährleistet, dass jeder Betrieb mindestens jährlich und
nach bestehendem Risikopotenzial von der amtlichen Lebensmittelüber-
wachung kontrolliert wird. Das bisherige Konzept der Stichprobennahme ist da-
her hinsichtlich neuer Qualitätsanforderungen zu überprüfen und eine ganzheit-
liche Betriebskontrolle regelmäßig einzubeziehen. Die Untersuchungsstandards
werden nicht bundeseinheitlich angewendet und die Ergebnisse aus der amt-

lichen Überwachung der Länder im Bereich der Lebensmittelsicherheit können
noch besser zusammengeführt und nach einem einheitlichen Kriterienkatalog

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gelistet und bewertet werden. Die Kontrollqualität kann durch innovative Tech-
niken und zielgenaue Untersuchungen noch erheblich verbessert werden.

Auch organisatorische Standards der Lebensmittelkontrolle, wie z. B. Rotati-
onsprinzipien, sind zu verbessern und für das gesamte Kontrollsystem ein-
schließlich des tierärztlichen Überwachungspersonals zu vereinheitlichen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf:

– Zur Stärkung der Markttransparenz und der Handlungsoptionen der Verbrau-
cher ist die Gesetzesinitiative für ein umfassendes Verbraucherinformations-
gesetz grundlegend zu überarbeiten und dabei der Anwendungsbereich auf
alle Verbraucherprodukte auszuweiten.

– Die Informationspflichten sind auf die Masse der Informationsinhaber, also
die Unternehmen, auszuweiten.

– Ausnahmetatbestände, wie Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, sind restrik-
tiv und verbraucherfreundlich zu fassen und unklare Ausnahmen vom Infor-
mationsanspruch, wie „sonstige wettbewerbsrelevante Informationen“, zu
streichen.

– Antragsverfahren und Gebühren sind so zu gestalten, dass der Informations-
zugang nicht verhindert und verunmöglicht werden kann, insbesondere ist
eine unverzügliche Antwortfrist einzuführen und eine möglichst kostenlose
Informationsgewährung vorzuschreiben.

– Es ist darauf hinzuwirken, dass in Zusammenarbeit mit den Ländern die staat-
liche und kommunale Lebensmittelüberwachung finanziell und personell
besser ausgestattet wird und eine unabhängige Kontrolltätigkeit ohne wirt-
schaftliche Abhängigkeiten, wie sie bei privaten Prüflaboren zu befürchten
steht, gewährleistet werden kann. Der Verdacht einer zu großen Nähe zwi-
schen der Lebensmittelkontrolle und den zu kontrollierenden Unternehmen
muss dabei eindeutig ausgeräumt werden, z.B. durch eine landesweite Task-
force-Einheit.

– Zur Verbesserung der Lebensmittelsicherheit ist die Allgemeine Verwal-
tungsvorschrift Rahmenüberwachung (AVV Rüb) mit dem Ziel weiterzuent-
wickeln, für den einheitlichen Vollzug der maßgeblichen rechtlichen Vorga-
ben zu sorgen und im Bereich der staatlichen Kontrolle die Kontrolldichte so
zu erhöhen, dass die Betriebskontrollen mindestens jährlich durchgeführt
werden und auch verstärkt präventiv durchgeführt werden. Neben qualitativ
definierten Stichproben sind auch ganzheitliche Betriebskontrollen einzube-
ziehen. Die Kontrollkette muss nach einheitlichen Standards, wie z. B. Rota-
tionsvorgaben, funktionieren.

– Bei der Wahrnehmung von Rechtsetzungs-, Kontroll- und Überwachungs-
aufgaben müssen eine verbesserte Bund-Länder-Koordination sowie stärkere
Akzente auf qualitative Kontrollkriterien, wie z.B. eine vorausschauende,
risikoorientierte Probennahme, und Betriebsüberprüfungen nach Risikokate-
gorien sichergestellt werden.

– Im Sinne einer bundeseinheitlichen Qualitätskontrolle sind die Fachauf-
sichts-, Richtlinien- und Koordinierungskompetenzen des Bundes zu stärken
und ein bundeseinheitlicher Investitionsrahmen für die Kontrolltätigkeit in
den Ländern zu vereinbaren.

– In Anbetracht der unternehmerischen Mitverantwortung der fleischverarbei-
tenden Betriebe sind effiziente Kontroll- und Qualitätssicherungssysteme der
Wirtschaft einzuführen. Bestehende Initiativen wie die „QS“-Zertifizierung

sind weiterzuentwickeln.

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– Aus Gründen der umfassenden Lebensmittelsicherheit, der Transparenz und
der Gleichbehandlung sind auch Qualitätsmanagement-Systeme in Gastro-
nomie und bei Ernährungsdienstleistungen einzurichten.

– Der Vollzug ist auf allen Ebenen, insbesondere auch in den Kommunen, und
die Wirksamkeit und der Abschreckungseffekt der Maßnahmen zu verbes-
sern. Es ist für schärfere Strafen und Bußgelder (im Wiederholungsfall) zu
sorgen sowie auf eine konsequentere Überprüfung und Entziehung der Ge-
werbeerlaubnis seitens der Länder hinzuwirken.

– Für Mitarbeiter, die lebensmittelrechtliche Verstöße den zuständigen Behör-
den melden, muss ein angemessener Informantenschutz garantiert werden.

– Die Kennzeichnung von Fleischabfällen und für den menschlichen Verzehr
nicht geeigneter Futtermittel bzw. tierischer Produkte durch Vergällen, Ein-
färben oder geschmackliche Veränderung sind vorzuschreiben, damit Abneh-
merbetriebe diese besser erkennen können.

– Im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft soll eine Initiative für eine
europäische Verbraucherinformations-Richtlinie gestartet werden, die insbe-
sondere auch die Informationspflichten der Unternehmen festlegt.

Berlin, den 20. September 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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