BT-Drucksache 16/1478

Fehlende Entschädigung für griechische NS-Opfer

Vom 10. Mai 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1478
16. Wahlperiode 10. 05. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dagdelen, Dr. Norman Paech
und der Fraktion DIE LINKE.

Fehlende Entschädigung für griechische NS-Opfer

Zahlreiche Kriegsverbrechen deutscher Wehrmachts-, SS- und Polizeieinheiten
sind bis heute weder politisch noch juristisch aufgearbeitet. Dazu gehört auch
das Massaker vom 10. Juni 1944 in der griechischen Ortschaft Distomo. Eine
SS-Einheit überfiel damals als „Vergeltung“ für einen Partisanenangriff das
Dorf und brachte 218 Bewohnerinnen und Bewohner ungeachtet ihres Ge-
schlechts und ihres Alters auf bestialische Weise um.

Überlebende und Angehörige dieses völkerrechtswidrigen Terrorakts haben bis
heute keinerlei Entschädigung durch die Bundesrepublik Deutschland erhalten.
Entschädigungsforderungen wurde jahrzehntelang das Moratorium des Londo-
ner Schuldenabkommens von 1953 entgegengehalten, welches eine Regelung
der deutschen Zahlungen auf die Zeit nach Abschluss eines Friedensvertrages
verschob. Im Abkommen hatte es geheißen: „Eine Prüfung der aus dem Zweiten
Weltkrieg herrührenden Forderungen von Staaten, die sich mit Deutschland im
Kriegszustand befanden oder deren Gebiet von Deutschland besetzt worden war,
und von Staatsangehörigen dieser Staaten gegen das Deutsche Reich und im
Auftrage des Deutschen Reichs handelnden Stellen oder Personen … wird bis
zu der endgültigen Regelung der Reparationsfrage zurückgestellt.“

Im Jahr 1960 vereinbarte die Bundesrepublik Deutschland mit der griechischen
Regierung die Zahlung einer Summe von 115 Mio. DM, mit der Entschädi-
gungszahlungen an eine begrenzte Gruppe von NS-Opfern geleistet werden soll-
ten, konkret an solche, die „aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Welt-
anschauung“ verfolgt worden waren. Der Vertrag sollte primär die Entschädi-
gung der griechischen Jüdinnen und Juden regeln, er diente aber nicht der Ent-
schädigung aller anderen Kriegsopfer. Deren sowie andere Ansprüche, die über
den Vertrag hinausgingen, standen weiterhin unter dem Vorbehalt des Londoner
Schuldenabkommens, demzufolge sie erst nach Abschluss eines Friedensver-
trages geregelt werden sollten.

Aber auch nachdem der Zwei-plus-Vier-Vertrag, der die Funktion eines Frie-
densvertrages erfüllt, 1990 unterzeichnet wurde, weigerte sich die Bundesre-
publik Deutschland weiterhin, Entschädigungszahlungen zu leisten. Begründet
wurde dies nunmehr damit, dass „Reparationen 50 Jahre nach Ende kriegeri-

scher Auseinandersetzungen in der völkerrechtlichen Praxis ein Sonderfall ohne
jede Präzedenz“ seien (Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage
der Gruppe der PDS vom 7. November 1995, Bundestagsdrucksache 13/2878).
Allerdings sieht das Völkerrecht nach Kenntnis der Fragesteller keine Verjäh-
rungsfrist für Reparationsansprüche vor; bei der Prüfung solcher Ansprüche
muss nach Ansicht der Fragesteller außerdem berücksichtigt werden, dass das

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vorangegangene Verbrechen – der von deutscher Seite geführte Vernichtungs-
krieg – gleichermaßen ohne Präzedenz war.

Um ihre Ansprüche durchzusetzen, legten Überlebende des Massakers in
Distomo Klage vor griechischen Gerichten ein. Das Landgericht Levadia verur-
teilte die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1997 zur Zahlung von insgesamt
ca. 28 Mio. Euro, diese Entscheidung wurde vom obersten Gerichtshof Grie-
chenlands im Mai 2000 bestätigt. Vollstreckungsmaßnahmen gegen deutsche
Liegenschaften in Griechenland wurden auf Intervention der Bundesregierung
gestoppt. Das rechtskräftige Urteil des Landgerichts Levadia wird von der Bun-
desregierung bis heute nicht erfüllt.

Eine weitere Klage von vier Überlebenden vor deutschen Gerichten wurde im
Februar 2006 vom Bundesverfassungsgericht abgewiesen. In seiner Begrün-
dung führte das Gericht unter anderem aus, bisherige Entschädigungszahlungen
– die allerdings nicht an die Opfer von Distomo gegangen waren – hätten zum
Ziel gehabt, „einen Zustand näher am Völkerrecht herzustellen“. Ausschlagge-
bend für die rechtliche Beurteilung sei die Rechtsauffassung des nationalsozia-
listischen Deutschen Reichs von 1944, außerdem handle es sich bei dem SS-
Massaker nicht um NS-„typisches“ Verbrechen, sondern um ein allgemeines,
wenngleich hartes Kriegsschicksal. Diese Bewertungen haben bei den Überle-
benden für erhebliche Verbitterung gesorgt.

Die Überlebenden bemühen sich mittlerweile vor internationalen bzw. ausländi-
schen Gerichten um die Durchsetzung ihrer Ansprüche, unter anderem in Italien.

Von grundsätzlicher Bedeutung ist hierbei eine Entscheidung, die im März 2004
der Kassationsgerichtshof in Rom getroffen hat. In der Angelegenheit eines ehe-
maligen italienischen Zwangsarbeiters entschied das Gericht, der deutsche Staat
könne auch in Italien auf Entschädigungszahlungen verklagt werden. Im Fall
von Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen könne sich die Bundesrepublik
Deutschland nicht auf den Grundsatz der „Staatenimmunität“ berufen (DER
SPIEGEL 41/2004).

Die Frage, ob deutsches Staatseigentum in Italien als Entschädigungsmasse be-
schlagnahmt werden könne, hat der Appellationsgerichtshof Florenz in einem
anderen Verfahren im Mai 2005 bejaht. Das Gericht erteilte eine entsprechende
Vollstreckbarkeitserklärung, gegen die die Bundesregierung Rechtsmittel einge-
legt hat (die tageszeitung, 13. Oktober 2005).

Wenn diese Entscheidung rechtskräftig wird, können griechische Überlebende
und Angehörige von Opfern deutscher Kriegsverbrechen ihre in Griechenland
höchstrichterlich bestätigten Entschädigungsansprüche in Italien durchsetzen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Teilt die Bundesregierung die Auffassung der Fragesteller, die Verweigerung
von Entschädigungszahlungen an Überlebende eines SS-Massakers unter
Rekurs auf die nationalsozialistische Rechtsauffassung des Deutschen Reichs
von 1944 sei einer Demokratie unwürdig und schade der Glaubhaftigkeit ei-
ner menschenrechtsorientierten Politik, wie sie die Bundesregierung nach ei-
genen Angaben ansonsten verfolgt, und wenn nein, warum nicht?

2. Teilt die Bundesregierung die Auffassung der Fragesteller, dass das Massaker
von Distomo keineswegs als allgemeines Kriegsschicksal bezeichnet werden
kann, sondern dass es sich um eine Terroraktion gehandelt hat, die gegen
einen bestimmten Personenkreis innerhalb eines abgegrenzten Territoriums
innerhalb einer bestimmten Zeit durchgeführt wurde, und wenn nein, warum
nicht?

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3. Teilt die Bundesregierung die Auffassung der Fragesteller,

a) dass den Verbrechen der Wehrmacht und anderer deutscher Truppen
während des Zweiten Weltkrieges die nationalsozialistische Ideologie zu
Grunde lag, und wenn nein, warum nicht,

b) dass die Methoden der Partisanenbekämpfung (im Nazi-Jargon „Ban-
denbekämpfung“), die von deutschen Truppen angewendet wurden,
nicht mit dem Kriegsvölkerrecht vereinbar waren, und wenn nein, war-
um nicht?

4. Trifft es nach Auffassung der Bundesregierung zu, dass der deutsch-griechi-
sche Vertrag von 1960 nicht der Entschädigung aller Opfer von Kriegsver-
brechen diente, sondern nur jener, die „aus Gründen der Rasse, des Glau-
bens oder der Weltanschauung“ verfolgt worden waren, so dass dieser
Vertrag keine Entschädigung für die Opfer von Distomo nach sich zog, und
wenn nein, warum nicht?

5. Bleibt die Bundesregierung bei ihrer Auffassung, der Vertrag vom 18. März
1960 habe der „abschließenden Regelung“ griechischer Ansprüche gegolten
(Antwort der Bundesregierung auf Frage 6 in Bundestagsdrucksache 14/3992),
und wenn ja, wie interpretiert sie dann die oben unter Nummer 4 zitierte Ein-
schränkung dieses Vertrages?

6. Ist die Bundesregierung der Auffassung, die Zahlung von 115 Mio. DM auf-
grund des deutsch-griechischen Vertrages von 1960 habe bereits einen
Zustand hergestellt, der so nah am Völkerrecht ist wie erstrebenswert, und
wenn nein, welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung hieraus?

7. Beabsichtigt die Bundesregierung, einen Zustand herzustellen, der noch
„näher am Völkerrecht“ liegt als der bisherige, und zu diesem Zweck mit
den Überlebenden von Distomo in Verhandlungen über eine Entschädigung
zu treten, und wenn nein, warum nicht?

8. Sieht die Bundesregierung einen Widerspruch zwischen der Bestimmung
des Londoner Schuldenabkommens mit seiner Bestimmung, Zahlungs-
ansprüche auf die Zeit nach Abschluss eines Friedensvertrages zu ver-
schieben, und dem Hinweis, dass nach „Ablauf von 50 Jahren […] die Re-
parationsfrage ihre Berechtigung verloren“ habe (Bundestagsdrucksache
13/2878), und wenn nein, warum nicht?

9. Wieso ist die Bundesregierung seit 1990 der Auffassung, Reparations-
ansprüche hätten ihre Berechtigung verloren, wenn sie davor damit argu-
mentiert hat, solche Forderungen könnten erst nach Abschluss eines Frie-
densvertrages verhandelt werden?

10. Sind der Bundesregierung verfassungs- oder völkerrechtliche Präzedenz-
fälle bekannt, die eine Befristung von Reparationsansprüchen vorsehen,
wenn ja, welche; wenn nein, worauf stützt die Bundesregierung dann ihre
Einschätzung, die Reparationsfrage habe nach einer gewissen Zeit ihre Be-
rechtigung verloren?

11. Inwiefern hat die Bundesregierung bei ihrer Ausführung, „Reparationen
über 50 Jahre nach Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen“ seien „in
der völkerrechtlichen Praxis ein Sonderfall ohne jede Präzedenz“, berück-
sichtigt,

a) dass auch Art und Umfang der deutschen Kriegsverbrechen ohne jede
Präzedenz gewesen sind,

b) dass Opfer von deutschen Kriegsverbrechen oder deren Angehörige erst
nach dem Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages eine Möglichkeit zur
Geltendmachung von Entschädigungsforderungen wahrnehmen konn-

ten?

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12. Wurde nach Ansicht der Bundesregierung mit der griechischen Regierung
jemals ein endgültiger Verzicht auf Entschädigungszahlungen vereinbart,
und wenn ja, auf welchen Passus in welcher vertraglichen Vereinbarung
stützt die Bundesregierung ihre Ansicht?

13. a) Wie viele Opfer von NS-Verbrechen in Griechenland bzw. deren Hinter-
bliebenen sind nach Angaben der griechischen Regierung oder griechi-
scher Opferverbände bislang ohne Entschädigung geblieben?

b) Wie viele von diesen haben auf dem Rechtsweg vor griechischen, deut-
schen und/oder internationalen Gerichten bislang Entschädigungszah-
lungen durchzusetzen versucht?

c) Wie viele Entschädigungsklagen vor griechischen, deutschen und/oder
internationalen Gerichten werden derzeit von Opfern von NS-Verbre-
chen bzw. deren Hinterbliebenen erhoben und um welche NS-Verbre-
chen handelt es sich dabei (bitte nach Art und Datum des Verbrechens
aufgliedern)?

14. Beabsichtigt die Bundesregierung, Initiativen zu ergreifen, um bislang nicht
entschädigten Opfern deutscher Kriegsverbrechen in Griechenland eine
Kompensation zukommen zu lassen, wenn ja, was plant sie konkret, wenn
nein, warum nicht?

15. Wie hat sich der Rechtskonflikt um Entschädigungszahlungen griechischer
Opfer von Wehrmachts- oder SS-Massakern aus Sicht der Bundesregierung

a) vor den Gerichten in Florenz und Rom,

b) vor weiteren italienischen Gerichten entwickelt?

c) Welche Position vertritt die Bundesregierung in diesen Prozessen?

16. Hält die Bundesregierung entgegen zweier rechtskräftiger Entscheidungen
der jeweiligen obersten Gerichte von Staaten der Europäischen Union
(Griechenland, Italien) an ihrer Rechtsauffassung fest, dass sie sich gegen-
über Individualklagen im Ausland auch im Fall von Kriegs-, Völkerrechts-
und Menschenrechtsverbrechen auf den Grundsatz der Staatenimmunität
berufen könne, und wenn ja, warum?

17. Wird die Bundesregierung im Falle eines Unterliegens im Vollstreckungs-
verfahren vor italienischen Gerichten im Fall Distomo ihre Verpflichtungen
aus dem Urteil des Landgerichts Levadia von 1997 erfüllen?

18. Hält die Bundesregierung die Nichtbeachtung von Urteilen oberster Gerich-
te von Staaten der Europäischen Union für vereinbar mit den gültigen
Rechtsnormen der Europäischen Union?

19. Hat die Bundesregierung mittlerweile Erkenntnisse darüber, welche völker-
rechtswidrigen Massaker durch deutsche Truppen in Griechenland began-
gen wurden (vgl. Bundestagsdrucksache 14/3992, Antwort auf Frage 5),
wenn ja, welche, wenn nein:

a) Hat die Bundesregierung Initiativen ergriffen, um sich dahin gehende Er-
kenntnisse zu verschaffen, und wenn nein, warum nicht?

b) Beabsichtigt die Bundesregierung, entsprechende Initiativen zu ergrei-
fen, wenn ja, welche, wenn nein, warum nicht?

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20. Sind der Bundesregierung mittlerweile Urteile gegen deutsche Verantwort-
liche an Massakern in Griechenland, Straf- und Ermittlungsverfahren und
deren Verläufe bekannt, die über die bisherigen geringen Erkenntnisse (wie
in Antwort auf Frage 8 in Bundestagsdrucksache 14/3992 angegeben) hin-
ausgehen, und wenn ja, zu welchen Erkenntnissen ist sie gelangt?

a) Beabsichtigt die Bundesregierung, ihre Erkenntnisse zu erweitern, wenn
nein, warum nicht?

b) Hat die Bundesregierung mittlerweile eine Durchsicht der in den Landes-
archiven aufbewahrten Verfahrensakten vorgenommen oder beabsichtigt
sie dies zu tun, und wenn nein, warum nicht?

Berlin, den 10. Mai 2006

Ulla Jelpke
Sevim Dagdelen
Dr. Norman Paech
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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