BT-Drucksache 16/14119

Konsequenzen aus dem Bundesverfassungsgerichtsbeschluss zu Asyl-Überstellungen nach Griechenland

Vom 5. Oktober 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/14119
16. Wahlperiode 05. 10. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dag˘delen, Wolfgang Gehrcke, Inge Höger,
Jan Korte, Kersten Steinke, Dr. Norman Paech, Alexander Ulrich
und der Fraktion DIE LINKE.

Konsequenzen aus dem Bundesverfassungsgerichtsbeschluss
zu Asyl-Überstellungen nach Griechenland

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 9. September 2009
(2 BvQ 56/09) die Aussetzung der Abschiebung eines Asylsuchenden nach
Griechenland im Rahmen des EU-Verteilungssystems (Dublin-II-Verordnung)
angeordnet.

Das Gericht stützte sich dabei auf „ernst zu nehmende Quellen“, wonach eine
ordnungsgemäße Registrierung als Asylsuchender in Griechenland unmöglich
sein könnte. Im Hauptsacheverfahren wird das Bundesverfassungsgericht seine
eigene Rechtsprechung zur deutschen Drittstaatenregelung dahingehend über-
prüfen, ob angesichts des europarechtlichen Grundsatzes der Solidarität in den
Fällen „einer erheblichen Überlastung des Asylsystems eines Mitgliedstaates“
Asylsuchenden Rechtsschutz gewährt werden muss und unter welchen Bedin-
gungen Überstellungen in diesen Staat auszusetzen sind.

Das Verwaltungsgericht des Saarlandes (2 L 876/09, B. v. 15. 9. 2009) änderte
nur sechs Tage später unter Berufung auf diesen Beschluss seine vorherige nega-
tive Entscheidung ab, denn: „Dieser Entscheidung des Bundesverfassungsge-
richts ist eine über den Einzelfall hinausgehende Tragweite … beizumessen …“
Das Bundesministerium des Innern will hingegen die Entscheidung im Haupt-
sacheverfahren abwarten (Frankfurter Rundschau vom 10. September 2009)
und bis dahin an seiner Verfahrensweise festhalten, nur bei „besonders schutz-
bedürftigen Personen grundsätzlich von einer Überstellung nach Griechenland“
abzusehen (vgl. Bundestagsdrucksache 16/11543 zu Frage 10). Dabei handelt
es sich bei dem erfolgreichen Beschwerdeführer – soweit es aus der Pressemit-
teilung des Gerichts hervorgeht – nicht um eine „besonders schutzbedürftige
Person“. Abschiebungen nach Griechenland müssen nach Ansicht der Frage-
stellerinnen und Fragesteller deshalb generell ausgesetzt werden, da die vom
Verfassungsgericht angebrachten Zweifel bezüglich eines ordnungsgemäßen
Asylverfahrens in Griechenland allgemeiner Natur und nicht einzelfallabhängig
sind.
Schließlich wurde Griechenland auch beim Treffen der Justiz- und Innenminis-
ter der Europäischen Union am 21. September 2009 in Brüssel wegen seines
Asylsystems unter anderem vom Bundesminister des Innern, Dr. Wolfgang
Schäuble, scharf kritisiert. Gegen Vorschläge der EU-Kommission zur Ände-
rung der Dublin-II-Verordnung wehrt sich jedoch insbesondere die Bundes-
republik Deutschland, die als Zentralstaat ohne EU-Landesaußengrenze vom
jetzigen System besonders profitiert.

Drucksache 16/14119 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Die vom Bundesverfassungsgericht genannten „ernst zu nehmenden Quellen“ –
offenkundig geht es um die Berichte von PRO ASYL, Human Rights Watch,
des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR), des
Menschenrechtskommissars des Europarates usw. über die erheblichen Mängel
des griechischen Asylsystems – hatte die Fraktion DIE LINKE. bereits Anfang
des Jahres zum Anlass genommen, um im Rahmen einer Kleinen Anfrage
„Zweifel an der Einstufung Griechenlands als ,sicherem Drittstaat‘ im Asyl-
bzw. Dublin-II-Verfahren“ vorzubringen (vgl. Bundestagsdrucksache 16/11543
und Nachfrage auf Bundestagsdrucksache 16/12647). Die Bundesregierung be-
fand jedoch, dass „persönliche Härten und erhebliche Schwierigkeiten“ „im
Einzelfall“ hinzunehmen seien (vgl. Bundestagsdrucksache 16/11543, Frage 10).
„Grundsätzlich“ gebe es einen Zugang zu Asylverfahren (vgl. Bundestags-
drucksache 16/8861, Frage 2b). „Kapazitätsprobleme oder Defizite bei der
Durchführung von Asylverfahren“ führten nicht dazu, dass Griechenland nicht
mehr als sicherer Drittstaat im Sinne von Artikel 16a Absatz 2 des Grundgeset-
zes (GG) angesehen werden könne (vgl. Bundestagsdrucksache 16/11543,
Frage 12a). Nicht einmal den Rückzug des UNHCR aus dem griechischen Asyl-
system mit der Begründung, dass in Griechenland kein faires Asylverfahren und
kein effektiver Rechtsschutz gegeben seien und EU-Recht verletzt würde, hatte
die Bundesregierung zum Anlass genommen, Überstellungen nach Griechen-
land auszusetzen. Denn „die Verantwortung für die Einhaltung und Umsetzung
des einschlägigen EU-Rechts“ liege „bei den jeweiligen Mitgliedstaaten“ und es
sei Sache der Europäischen Kommission und gegebenenfalls des Europäischen
Gerichtshofs, hierüber zu wachen (vgl. Bundestagsdrucksache 16/13965, S. 14).

Dieser Argumentation der Bundesregierung ist nach der Entscheidung des Bun-
desverfassungsgerichts der Boden entzogen. Die Bundesrepublik Deutschland
darf sich wesentlichen verfassungsrechtlichen Verpflichtungen nicht durch
europarechtliche Regulierungen und Verantwortungsverlagerungen entziehen.
Dies gilt insbesondere für die Gewähr eines rechtsstaatlichen Verfahrens und
die Achtung der Menschenwürde. Trotz der Vorläufigkeit der Entscheidung im
einstweiligen Rechtsschutzverfahren hat das Bundesverfassungsgericht in der
Sache bereits entschieden, dass es unzulässig ist, unter Verweis auf europäische
Vereinbarungen die Gefahr eklatanter Menschenrechtsverletzungen oder Ver-
letzungen des Asylrechts durch Rücküberstellungen von Asylsuchenden sehen-
den Auges in Kauf zu nehmen oder gar aktiv herbeizuführen. Es wäre auch ein
verfehltes Menschenrechtsverständnis, wenn es genügen sollte, dass die Men-
schenrechte quasi nur abstrakt („grundsätzlich“) gelten, im konkreten Einzelfall
aber missachtet werden können. Das Grundrecht auf Asyl darf auch nicht nur
„besonders schutzbedürftigen Personen“ vorbehalten bleiben, sondern gilt für
jeden Menschen, der Verfolgung und Schutzbedürftigkeit geltend macht.

Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat darüber hinaus in einer Studie
vom Juli 2009 klargestellt, dass die deutsche Drittstaatenregelung und der
Ausschluss jeglichen Rechtsschutzes mit Europarecht und der Europäischen
Menschenrechtskonvention unvereinbar sind. Nach der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts könne das „blinde Vertrauen“ in die Asylsysteme
aller EU-Mitgliedstaaten nicht mehr aufrechterhalten werden, so Petra Follmar-
Otto vom Deutschen Institut für Menschenrechte in einer Pressemitteilung vom
10. September 2009.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Konsequenzen hat die Bundesregierung aus dem Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts vom 9. September 2009 (2 BvQ 56/09) gezogen,
welche Konsequenzen sind noch beabsichtigt?
2. Welche genaueren Kenntnisse hat die Bundesregierung dazu, ob der Be-
schwerdeführer als „besonders schutzbedürftige Person“ anzusehen ist, und

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/14119

wenn dies nicht der Fall sein sollte, mit welcher Begründung hält die Bun-
desregierung dann an ihrer Praxis fest, nur bei besonders schutzbedürftigen
Personen von Überstellungen nach Griechenland abzusehen?

3. Stimmt die Bundesregierung der Auffassung des Verwaltungsgerichts des
Saarlandes (2 L 876/09, B. v. 15. 9. 2009) zu, wonach die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts eine über den Einzelfall hinausgehende Trag-
weite hat, wenn nein, warum nicht, wenn ja, welche Konsequenzen zieht sie
hieraus?

4. Ist es zutreffend, dass die Regierung von Oberbayern infolge der Verfas-
sungsgerichtsentscheidung der für den Flughafen München zuständigen
Ausländerbehörde die Anweisung erteilt hat, in Dublin-II-Fällen bei aus
Griechenland einreisenden Asylsuchenden keinen Haftantrag mehr zu stel-
len und bestehende Haft sofort zu beenden, welche vergleichbaren Erlasse
anderer Regierungen sind der Bundesregierung bekannt und wann und mit
welchen Ergebnissen sind der Verfassungsgerichtsbeschluss und daraus
folgende Konsequenzen gegebenenfalls auf einer Ausländerreferentenbe-
sprechung Bund/Länder erörtert worden?

5. Hält die Bundesregierung daran fest, dass „kein Anlass“ bestehe, „dass die
Bundesrepublik Deutschland in Übereinstimmung mit den Ausführungen in
der Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai
1996 … zur Anwendung der sicheren Drittstaatenklausel ausnahmsweise
selbst Schutz gewährt“ (Bundestagsdrucksache 16/11543, Antwort zu Frage
12a), nachdem das Bundesverfassungsgericht selbst ausgeführt hat, dass an-
gesichts der Zustände in Griechenland sehr wohl „Anlass zur Untersuchung“
der deutschen Drittstaatenregelung und von Ausnahmen hierzu in Bezug auf
die Mitgliedstaaten der Europäischen Union besteht (bitte begründen)?

6. Wie ist die gegenwärtige Praxis anderer europäischer Staaten bei Rücküber-
stellungen nach Griechenland, in welchen Ländern gibt es einen generellen
oder partiellen Überstellungsstopp, welche Sonderregelungen (wie z. B. in
Deutschland) gelten (bitte nach einzelnen Ländern differenziert darstellen)?

7. Welche höchstrichterlichen Gerichtsentscheidungen bzw. welche Recht-
sprechung in anderen europäischen Ländern bzw. welche Entscheidungen
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Aussetzungen von
Abschiebungen Asylsuchender nach Griechenland wegen der dortigen
Zustände sind der Bundesregierung bekannt (bitte nähere Angaben zu den
Ländern, zu den Gerichten, zu Entscheidungsgründen und Auswirkungen
der Entscheidungen machen)?

8. In wie vielen Fällen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
inzwischen nach Artikel 39 seiner Verfahrensordnung entschieden, Abschie-
bungen nach Griechenland vorläufig auszusetzen, und was ist der Bundes-
regierung zu den Entscheidungsgründen näher bekannt?

9. Wie ist die derzeitige abwehrende Haltung der Bundesregierung gegenüber
den Vorschlägen der EU-Kommission zur Änderung des Dublin-Systems
und zur Entlastung der überforderten Aufnahmeländer innerhalb der EU
damit zu vereinbaren, dass die Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache
16/8861 zu Frage 4a noch zugesagt hatte, „sich konstruktiv an der Diskus-
sion von etwaigen Vorschlägen …, wie Staaten, die einen unverhältnismäßig
hohen Zugang von Asylbewerbern zu verzeichnen haben, entlastet werden
können“, zu beteiligen?

a) Welche EU-Mitgliedstaaten haben bislang die Vorschläge der Kommis-
sion grundsätzlich unterstützt, welche haben sie eher abgelehnt, welche
sind noch unentschieden, und wie ist die inhaltliche Begründung der

jeweiligen Position?

Drucksache 16/14119 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

b) Welche konstruktiven Vorschläge zur Änderung des Dublin-Systems
bzw. zu einem Solidarausgleich hat die Bundesregierung bislang ge-
macht oder sind noch in Planung?

10. Wie wird die vom Bundesminister des Innern, Dr. Wolfgang Schäuble, auf
dem Rat der Justiz- und Innenminister der EU (JI-Rat) vom 21. September
2009 vorgebrachte Position begründet, wonach es einen weiteren Ausbau
der gemeinsamen europäischen Asylpolitik erst geben könne, wenn die be-
stehenden Probleme gelöst seien (KNA vom 21. September 2009)?

a) Welche Länder haben sich dieser Position angeschlossen, welche sind
ihr entgegengetreten?

b) Wie ist diese Position mit der Auffassung der Kommission vereinbar,
wonach – genau umgekehrt – erst die weitere Vereinheitlichung des
Rechts und der Asylpraxis ein gerechtes Asylsystem und gleiche Stan-
dards in der EU hervorbringen könnte?

c) Werden notwendige Änderungen des Dublin-Systems nicht auf unver-
antwortliche Weise in die Zukunft verlagert, wenn zunächst die Lösung
der bestehenden Probleme abgewartet werden soll, und wie soll das
gemeinsam vereinbarte Ziel erreicht werden, die zweite Phase des euro-
päischen Asylsystems bis zum Jahr 2012 abzuschließen (bitte begrün-
den)?

d) Haben nicht die letzten Jahre gezeigt, dass alle Ermahnungen Griechen-
lands in Bezug auf das Asylsystem faktisch folgenlos geblieben sind
und dass die dortigen Behörden angesichts der hohen Zugangszahlen
auch überfordert sind?

e) Wie sollen die Probleme in Griechenland gelöst werden können, ohne
dass andere europäische Länder Asylsuchende von dort übernehmen
oder/und Überstellungen nach Griechenland aussetzen, wenn schon jetzt
ein erheblicher Rückstand bei Asylverfahren in Griechenland besteht?

f) Wie bewertet die Bundesregierung den Umstand, dass viele Asyl-
suchende aufgrund der Mängel des griechischen Asylsystems dazu ge-
zwungen sind, in der „Illegalität“ (in Griechenland oder auch in anderen
Ländern der EU) zu leben und so von wirksamen Schutzmaßnahmen in
der gesamten EU ausgeschlossen und in einen Zustand der Rechtlosig-
keit gestoßen werden?

g) Welche konkreten Maßnahmen zur Entlastung insbesondere Griechen-
lands wurden im JI-Rat beschlossen oder verabredet?

h) Wurde im JI-Rat angezweifelt, dass die Genfer Flüchtlingskonvention,
die Europäische Menschenrechtskonvention oder europäisches Asyl-
recht (bitte differenziert antworten) in Griechenland oder anderen Mit-
gliedstaaten in der Praxis eingehalten werden, wie war die Position
Deutschlands, der Kommission und der anderen Mitgliedstaaten hierzu,
und welche Konsequenzen wurden in diesem Zusammenhang erörtert
oder gezogen?

11. Welche offizielle Begründung gab es dafür, dass der griechische Innen-
minister trotz starker thematischer Betroffenheit seines Landes nicht zum
JI-Rat vom 21. September 2009 erschienen ist, und welche Gründe waren
nach Einschätzung der Bundesregierung hierfür ausschlaggebend?

12. Wie viele Zustimmungen zur Übernahme im Rahmen des Dublin-Systems
durch die anderen Mitgliedstaaten bzw. durch Deutschland gab es von
2005 bis 2008 und im ersten Halbjahr 2009 (bitte nach Jahren und einzel-

nen Ländern aufgliedern und Gesamtsummen nennen), und welche Schät-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/14119

zungen gibt es dazu, wie viele dieser Zustimmungen im Wiederaufnahme-
verfahren erfolgten (vgl. Bundestagsdrucksache 16/8861, Frage 5)?

13. Wie viele nach der Dublin-II-Verordnung rechtlich mögliche Überstellun-
gen nach Griechenland wurden seit 2008 (bitte monatlich aufschlüsseln
und gegebenenfalls zumindest Schätzungen zur Größenordnung machen)
nicht vollzogen, weil

a) vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch gemacht wurde,

b) eine Überstellung durch Gerichtsbeschluss untersagt wurde,

c) von einer Überstellung wegen einer noch anhängigen Petition abgese-
hen wurde,

d) zwar eine Überstellung versucht wurde, die Betroffenen jedoch nicht
aufzufinden waren,

e) die Betroffenen bereits zuvor „untergetaucht“ waren,

f) Fristen durch deutsche Behörden versäumt wurden,

g) eine Aufenthaltserlaubnis oder Duldung aus anderem Grunde erteilt
wurde,

h) andere Gründe vorlagen (welche)?

14. Wie viele Personen wurden im Rahmen des Dublinsystems aus anderen
Ländern insgesamt nach Griechenland überstellt (bitte zusätzlich auch nach
den fünf wichtigsten Ländern differenzieren) und wie viele umgekehrt von
Griechenland in diese Länder (bitte jährliche Angaben seit 2005 machen),
und wie lauten die entsprechenden Angaben für die Zielländer von Dublin-
Überstellungen Spanien, Italien, Rumänien, Bulgarien und Polen?

15. Wie viele Asylsuchende pro 1 000 Einwohnerinnen und Einwohner gab es
2007, 2008 und im ersten Halbjahr 2009 in Deutschland bzw. in den ande-
ren Mitgliedstaaten der Europäischen Union, und wie hoch war jeweils der
Durchschnittswert aller EU-Staaten (bitte nach Mitgliedstaaten auflisten)?

16. Welche Kenntnisse über die Zahl der sich „illegal“ in Griechenland aufhal-
tenden Personen und zu den Hintergründen hierzu hat die Bundesregie-
rung?

17. Wie sind der genaue Inhalt und aktuelle Stand des Vertragsverletzungs-
verfahrens der Kommission gegen Griechenland in Bezug auf die Dublin-
Verordnung, bzw. von welchen anderen Vertragsverletzungsverfahren oder
sonstigen EU-Maßnahmen gegen Griechenland im Zusammenhang des
dortigen Asylsystems bzw. der Umsetzung von entsprechendem EU-Recht
hat die Bundesregierung Kenntnis?

18. Wie ist die Antwort der Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache
16/8861 zu Frage 16c auch im Hinblick auf die Entscheidung des Bundes-
verfassungsgerichts genau zu verstehen („Dass Rechtsbehelfen gegen
Dublinentscheidungen grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung zu-
kommt, bedeutet nicht, dass der Rechtsschutz nicht effektiv ist“)?

19. Wie viele Entscheidungen wie vieler (Ober-)Verwaltungsgerichte im Jahr
2009 sind der Bundesregierung bekannt, mit denen eine Überstellung nach
Griechenland (vorläufig) untersagt bzw. gestattet wurde (bitte Urteile/Be-
schlüsse mit Datum und Tenor konkret benennen), und ist die Rechtspre-
chungsübersicht in der Studie des Deutschen Instituts für Menschenrechte
„Der Asylkompromiss 1993 auf dem Prüfstand“ (S. 12 f.) nach Auffassung
der Bundesregierung zutreffend und in der Tendenz verallgemeinerbar,

d. h. dass eine Mehrheit der bislang zum Thema ergangenen Verwaltungs-

Drucksache 16/14119 – 6 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

gerichtsbeschlüsse seit etwa Mai 2008 Überstellungen nach Griechenland
wegen der dortigen Mängel des Asylsystems untersagt hat (bitte begrün-
den)?

20. Hat die Bundesregierung Maßnahmen im Rahmen des vom Bundesverfas-
sungsgericht in Bezug auf die Drittstaatenregelung entworfenen Konzepts
der „normativen Vergewisserung“ unternommen, um zu überprüfen, ob die
Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und der Europäi-
schen Menschenrechtskonvention (EMRK) in Griechenland sichergestellt
ist (vgl. Artikel 16a Absatz 2 Satz 1 GG), und wenn ja, welche und mit
welchem Ergebnis?

21. Geht die Bundesregierung davon aus, dass es in einem Land der Europäi-
schen Union nicht zu Verletzungen der GFK oder der EMRK kommen
kann, und ist sie der Auffassung, dass von rechtsstaatlichen Asylverfahren
in allen Ländern der EU schon deshalb ausgegangen werden kann, weil
diese Länder in der EU sind (bitte nachvollziehbar begründen)?

22. Ist die Antwort der Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 16/8861
zu Frage 17f, vom Selbsteintrittsrecht werde in „wenigen Einzelfällen“
(mit steigender Tendenz) Gebrauch gemacht, so zu verstehen, dass von der
Selbsteintrittsmöglichkeit nach der Dublin-II-Verordnung bis zum Jahr
2008 faktisch kein bzw. kaum Gebrauch gemacht wurde (bitte die Gründe
hierfür erläutern)?

23. Wurde bislang vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch gemacht gegenüber an-
deren Ländern als Griechenland, und wenn ja, wie oft, in Bezug auf welche
Länder und in welchen Fallkonstellationen?

24. Wie ist die Antwort der Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 16/
8861 zu Frage 12b, „sonstige Bindungen an einen Mitgliedstaat können im
Rahmen des sog. Selbsteintrittsrechts Berücksichtigung finden“, zu verste-
hen angesichts des Umstandes, dass dies nach Kenntnis der Fragestellerin-
nen und Fragesteller in der Praxis des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge praktisch nicht geschieht?

25. Wird von Überstellungen in andere Mitgliedstaaten wenigstens dann abge-
sehen, wenn es um traumatisierte Asylsuchende geht,

a) die eine psychotherapeutische und/oder fachärztliche Behandlung in
Deutschland bereits begonnen haben (wenn nein, bitte die Gründe er-
läutern, warum die Gefahr einer Gesundheitsverschlechterung durch
eine erzwungene Beendigung einer laufenden Behandlung in Kauf ge-
nommen wird),

b) die hier familiäre Bindungen haben, d. h. Personen, die sich um die
Betroffenen kümmern und ihnen helfen können (wenn nein, bitte die
Gründe erläutern, warum den Betroffenen auch angesichts ihrer psychi-
schen Erkrankung der so wichtige Kontakt zu und Umgang mit Ver-
wandten/Bekannten nicht gestattet wird),

c) wenn zugleich Zweifel bestehen, ob der andere Mitgliedstaat in aus-
reichendem Maße einen Zugang zu fachärztlicher und/oder psychothe-
rapeutischer Behandlung bietet, welche diesbezüglichen internen Rege-
lungen gibt es, und in welchem Umfang wird bei solchen Fallkonstella-
tionen vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch gemacht?

26. Wie ist die Antwort der Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache
16/11543 zu Frage 8: „Allerdings kann ein effektiver Zugang zu einem
Asylverfahren nur bei Einhaltung der Verfahrensgarantieren und bei Ab-
sicherung der materiellen Grundbedürfnisse des Asylbewerbers angenom-

men werden“, vereinbar mit der Einschätzung der Bundesregierung, in

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/14119

Griechenland gebe es „grundsätzlich“ einen Zugang zum Asylsystem, oder
ist das Wort „grundsätzlich“ so zu verstehen, dass es zwar theoretisch einen
solchen Zugang gibt, der jedoch praktisch nicht immer realisiert werden
kann?

27. Beinhaltet die Antwort der Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache
16/12647 zu Frage 6: „Der Bundesregierung ist bekannt, dass bei Verfah-
ren vor der zentralen Ausländerbehörde Attika eine Diskrepanz zwischen
der Anzahl der Asylbewerber und der Aufnahmekapazität besteht. Sie geht
davon aus, dass die griechischen Behörden bei der Auswahl der Personen
nach sachlichen Kriterien vorgehen und die notwendigen Schritte ergrei-
fen, um zu Verbesserungen zu kommen“ nicht, dass das EU-Recht auf
Asylantragstellung und Unterbringung in Griechenland offenkundig ver-
letzt wird, da diese Rechte nicht davon abhängig gemacht werden dürfen,
wie viele Asylsuchende sich auf sie berufen bzw. wann ihnen eine Vor-
sprache bei der zuständigen Behörde gewährt wird (bitte begründen), und
welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung hieraus?

28. Wie lautet die Antwort auf die schriftliche Frage 7 der Abgeordneten Ulla
Jelpke (vgl. Bundestagsdrucksache 16/13965, S. 14), nachdem durch den
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts klar ist, dass staatliche Stellen
bzw. die Bundesregierung in Deutschland sehr wohl prüfen müssen, ob in
Griechenland tatsächlich Schutz in rechtsstaatlicher und zumutbarer Weise
erlangt werden kann (die Frage betraf die Konsequenzen aus der Entschei-
dung des UNHCR vom Juli 2009, aus dem griechischen Asylsystem auszu-
steigen, weil dies kein faires und effektives Asylverfahren gewährleiste
und gegen EU-Recht verstoße)?

29. Wie ist ein früheres Argument der Bundesregierung, im griechischen Asyl-
system werde es infolge der Umsetzung von EU-Recht durch entspre-
chende Präsidialerlasse Verbesserungen geben, aus heutiger Sicht zu
bewerten, nachdem es

a) faktisch keine feststellbaren Verbesserungen gegeben hat (im Gegenteil),

b) durch den erneuten Präsidialerlass vom 30. Juni 2009 zumindest nach
Einschätzung des UNHCR so ist, dass EU-Recht offenkundig verletzt
wird,

c) nach vorläufiger Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts Asyl-
suchenden derzeit nicht zuzumuten ist, nach Griechenland rücküber-
stellt zu werden?

30. Wie bewertet die Bundesregierung die Studie „Der Asylkompromiss 1993
auf dem Prüfstand“ vom Juli 2009 des Deutschen Instituts für Menschen-
rechte, und welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung hieraus, ins-
besondere in Bezug auf die Feststellung, dass

a) angesichts der Weiterentwicklung der Rechtsprechung des Europäi-
schen Gerichtshofs für Menschenrechte im Hinblick auf Anforderungen
an effektiven Rechtsschutz in Fällen der Abschiebung und Einreise-
verweigerung und angesichts der menschen- und flüchtlingsrechtlich
unzureichenden Zustände insbesondere des griechischen Asylsystems
die geltende bundesdeutsche Drittstaatenregelung (Ausschluss des vor-
läufigen Rechtsschutzes) gegen Europarecht und gegen die EMRK ver-
stößt (S. 11 ff., 31 f.),

b) der Ausschluss des Rechtsschutzes im Rahmen der Anwendung der
Dublin-II-Verordnung in Deutschland mit Europarecht nicht vereinbar
ist (S. 19 ff. und 32),

Drucksache 16/14119 – 8 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
c) die bei der bundesdeutschen Drittstaatenregelung seit 2007 geltenden
dynamischen Verweisungen auf Europarecht zu unbestimmt sind und
den verfassungsrechtlich zwingend vorgesehenen Parlamentsvorbe-
halt umgehen (S. 25 ff. und 32)

(bitte auf alle Unterpunkte einzeln und begründet eingehen)?

Berlin, den 30. September 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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