BT-Drucksache 16/13090

Auswirkungen des Europäischen Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit

Vom 20. Mai 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/13090
16. Wahlperiode 20. 05. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Wolfgang Neskovic, Ulla Jelpke, Jan Korte,
Kersten Naumann und der Fraktion DIE LINKE.

Auswirkungen des Europäischen Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit

Die Bundesrepublik Deutschland hat das Europäische Übereinkommen über
die Staatsangehörigkeit vom 6. November 1997 am 4. Februar 2002 gezeichnet
und am 11. Mai 2005 ratifiziert. Am 1. September 2005 ist es in Kraft getreten.
Das Übereinkommen über die Verringerung der Mehrstaatigkeit hingegen trat
für Deutschland am 21. Dezember 2002 außer Kraft (vgl. Bundestagsdruck-
sache 16/12376, Frage 8). Die Bundesrepublik Deutschland ist damit nicht
(mehr) zur Vermeidung der Mehrstaatigkeit aufgrund internationaler Vereinba-
rungen verpflichtet, wie es der Parlamentarische Staatssekretär Peter Altmaier
beim Bundesminister des Innern auf eine mündliche Frage der Abgeordneten
Sevim Dag˘delen am 21. Januar 2009 im Deutschen Bundestag noch irrtümlich
behauptet hatte (vgl. Plenarprotokoll 16/199, S. 21485; eine Erklärung für die-
sen Irrtum gab die Bundesregierung in Bundestagsdrucksache 16/12376 trotz
Nachfrage nicht).

Das Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit sieht unter anderem Bestim-
mungen zur Einbürgerungserleichterung vor, von denen fraglich ist, ob sie in
der deutschen Einbürgerungspraxis hinreichend berücksichtigt werden. Dies ist
umso bedenklicher, als für das Jahr 2008 mit einem erneuten erheblichen Rück-
gang der Einbürgerungszahlen um etwa 15 bis 18 Prozent gerechnet werden
muss (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 29. April 2009; die Schätzung basiert
auf offiziellen Angaben, die sich aus parlamentarischen Anfragen der Fraktion
DIE LINKE. in mehreren Bundesländern und Recherchen der Süddeutschen
Zeitung ergeben).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wird sich die Bundesregierung für eine allgemeine Akzeptanz der Mehrstaa-
tigkeit einsetzen, nachdem sich die Auffassung des Parlamentarischen
Staatssekretärs Peter Altmaier, die Bundesrepublik Deutschland sei zur Ver-
meidung von Mehrstaatigkeit aufgrund internationaler Übereinkommen ver-
pflichtet, als Irrtum erwiesen hat (siehe Vorbemerkung, bitte begründen)?

2. Inwieweit ist der in Hinblick auf die Optionspflicht nach § 29 des Staats-
angehörigkeitsgesetzes (StAG) von der Bundesregierung formulierte Vor-

behalt zum Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit mit Artikel 5 des
Übereinkommens („Nichtdiskriminierung“) vereinbar, in dem eine Unter-
scheidung der Staatsangehörigkeitsvorschriften oder diskriminierende Prak-
tiken unter anderem aufgrund der nationalen Herkunft untersagt wird, vor
dem Hintergrund,

a) dass nach Artikel 29 Vorbehalte mit Ziel und Zweck des Übereinkom-
mens vereinbar sein müssen und die Verpflichtung zur Nichtdiskriminie-

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rung nach Artikel 5 zu den allgemeinen Grundsätzen des Übereinkom-
mens gehört;

b) dass nach Artikel 29 des Übereinkommens Vorbehalte mit Ziel und Zweck
des Übereinkommens vereinbar sein müssen und in der Präambel des
Übereinkommens ausdrücklich der Wunsch der Unterzeichnerstaaten
nach Vermeidung von Diskriminierungen bei Staatsangehörigkeitsange-
legenheiten aufgenommen wurde;

c) dass Kinder, die eine doppelte Staatsangehörigkeit per Geburt erwerben,
diese auch nachdem sie volljährig geworden sind behalten dürfen, wenn
ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit oder die Staatsangehörig-
keit eines Mitgliedstaates der Europäischen Union besitzt, während an-
dere Kinder sich grundsätzlich zwischen der deutschen und der auslän-
dischen Staatsangehörigkeit nach § 29 StAG entscheiden müssen;

d) dass sich insbesondere Kinder mit deutsch-türkischer Staatsangehörigkeit
nach Erreichen der Volljährigkeit für eine Staatsangehörigkeit entschei-
den müssen, weil die Beibehaltung der bisherigen Staatsangehörigkeit bei
Einbürgerungen im Jahr 2007 bei türkischen Staatsangehörigen in 83 Pro-
zent aller Fälle nicht akzeptiert wurde, während dies bei nicht-türkischen
Staatsangehörigen nur zu 35 Prozent der Fall war – und muss dies nicht
als diskriminierende Praxis aufgrund der Herkunft der Betroffenen be-
zeichnet und empfunden werden (bitte begründen)?

3. Wie kommt die Bundesrepublik Deutschland ihrer Verpflichtung zu einer
erleichterten Einbürgerung für hier geborene bzw. erwachsen gewordene
Kinder mit rechtmäßigem und gewöhnlichem Aufenthalt nach Artikel 6
Absatz 4e und f des Übereinkommens nach, und welche Anwendungshin-
weise usw. gibt es hierzu?

a) Was wird in den Verwaltungsvorschriften und in der Praxis in Umset-
zung des Übereinkommens konkret unter „rechtmäßigem“ und „gewöhn-
lichem“ Aufenthalt verstanden – welche Bedingungen müssen erfüllt
sein, um sich auf diese Bestimmung berufen zu können (welche Aufent-
haltstitel, welche Aufenthaltsdauer, welche sonstigen Bedingungen)?

b) Wie sieht die Erleichterung bei der Einbürgerung in diesen Fällen in der
Anwendungspraxis konkret aus?

c) Wie wird die Bestimmung des Artikels 6 Absatz 3 des Übereinkommens
in der Anwendungspraxis ausgelegt, wonach „bei der Festlegung der Ein-
bürgerungsbedingungen … ein Vertragsstaat keine Aufenthaltsdauer von
mehr als zehn Jahren vor der Antragstellung vorsehen“ darf, und wird da-
bei insbesondere auf die bloße Aufenthaltsdauer abgestellt oder aber – in
Abweichung vom Wortlaut dieser Vorschrift – von einer „rechtmäßigen“
oder anderweitig einschränkend definierten Aufenthaltsdauer (falls letz-
teres der Fall ist, bitte genau begründen)?

d) Sofern die Bundesregierung zu den Unterfragen 3a bis 3c keine Auskünfte
geben können sollte, weil sie keine Kenntnis über die Umsetzungspraxis
in den Bundesländern hat, wieso hat sie hierüber keine Kenntnis, und wie
muss das Übereinkommen nach Auffassung der Bundesregierung zu den
abgefragten Punkten ausgelegt werden (bitte nach Unterfragen differen-
ziert antworten)?

4. Wie ist die Einschränkung in den Vorläufigen Anwendungshinweisen des
Bundesministeriums des Innern zum StAG, wonach insbesondere auch bei
der Ermessenseinbürgerung nach § 8 StAG nur Zeiten des rechtmäßigen
Aufenthalts – Zeiten einer Duldung oder Aufenthaltsgestattung hingegen

nicht oder nur eingeschränkt – bei der Berechnung der Aufenthaltsdauer
berücksichtigt werden sollen, vereinbar mit dem eindeutigen Wortlaut des

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/13090

Artikels 6 Absatz 3 des Übereinkommens, der eine solche Einschränkung
nicht zulässt?

5. Wie ist die Einschränkung in den Vorläufigen Anwendungshinweisen des
Bundesministeriums des Innern zum Staatsangehörigkeitsgesetz, wonach
insbesondere auch bei der Ermessenseinbürgerung nach § 8 StAG be-
stimmte Aufenthaltstitel für die Einbürgerung vorausgesetzt werden (die in
§ 10 Absatz 1 Nummer 2 StAG genannten Aufenthaltstitel jedoch, mit Aus-
nahmen, hiervon ausgenommen werden), vereinbar mit dem eindeutigen
Wortlaut des Artikels 6 Absatz 4e und f des Übereinkommens, der lediglich
einen „rechtmäßigen“ und gewöhnlichen Aufenthalt für erleichterte Einbür-
gerungen in den genannten Fällen voraussetzt und eine einschränkende Aus-
legung des Begriffs der „Rechtmäßigkeit“ nicht zulässt?

6. Ist von einem rechtmäßigen und gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von
Artikel 6 Absatz 4e und f des Übereinkommens auszugehen, wenn ein junger
Mensch seit über zehn Jahren in Deutschland lebt und aufgewachsen ist und
über einen rechtmäßigen Aufenthaltstitel verfügt (wenn nein, warum nicht)?

7. Wie wirkt sich das Zusammenwirken der Bestimmungen in Artikel 6 Ab-
satz 3 und in Artikel 6 Absatz 4e und f des Übereinkommens konkret auf
hier geborene und/oder erwachsen gewordene Kinder mit einer Aufent-
haltserlaubnis nach § 104a oder b, § 23 Absatz 1, § 23a Absatz 1, § 25 Ab-
satz 3, 4 oder 5 des Aufenthaltsgesetzes aus, die bereits seit zehn Jahren in
der Bundesrepublik Deutschland leben (bitte nach Aufenthaltstiteln diffe-
renziert antworten, soweit erforderlich, und begründen)?

a) Inwieweit ist in diesen Fallkonstellationen insbesondere von einer für die
Betroffenen positiven Ermessensreduzierung auf Null und einem inso-
fern bestehenden „Einbürgerungsanspruch“ nach § 8 Absatz 1 StAG aus-
zugehen, sofern die übrigen Voraussetzungen der Ziffern 1 bis 4 erfüllt
sind?

b) Inwieweit ist in diesen Fallkonstellationen von einer für die Betroffenen
positiven Ermessensreduzierung auf Null und einem insofern bestehen-
den „Einbürgerungsanspruch“ nach § 8 Absatz 1 StAG auch dann auszu-
gehen, wenn lediglich die Bedingung der Ziffer 4 nicht erfüllt ist, vor
dem Hintergrund, dass nach § 8 Absatz 2 StAG ein öffentliches Interesse
an der Einbürgerung in diesen Fällen besteht, nämlich zur Erfüllung
völkerrechtlicher Verpflichtungen aus dem Übereinkommen?

c) Inwieweit ist in diesen Fallkonstellationen von einer für die Betroffenen
positiven Ermessensreduzierung auf Null und einem insofern bestehen-
den „Einbürgerungsanspruch“ nach § 8 Absatz 1 StAG auch dann auszu-
gehen, wenn lediglich die Bedingung der Ziffer 2 nicht erfüllt ist, vor
dem Hintergrund, dass nach § 8 Absatz 2 StAG ein öffentliches Interesse
an der Einbürgerung in diesen Fällen besteht, nämlich zur Erfüllung völ-
kerrechtlicher Verpflichtungen aus dem Übereinkommen?

8. Inwieweit folgt nach Auffassung der Bundesregierung aus der Bestimmung
in Artikel 6 Absatz 3 des Übereinkommens, wonach für eine Einbürgerung
keine Aufenthaltsdauern von mehr als zehn Jahren vorausgesetzt werden
dürfen, und aus der Präambel der Übereinkommens, wonach bei Staatsange-
hörigkeitsangelegenheiten die rechtmäßigen Interessen sowohl der Staaten
als auch der Einzelpersonen berücksichtigt werden sollten, dass auch in Fäl-
len, in denen ein Einbürgerungshindernis vorliegt (etwa: geringfügige Über-
schreitung der Grenzen nicht zu berücksichtigender Straftaten), aus Gründen
nicht nur der Verhältnismäßigkeit, sondern auch der Völkerrechtsfreundlich-
keit eine Einbürgerung nach einer bestimmten Dauer auch in diesen Fällen

zumindest im Ermessen möglich sein muss?

Drucksache 16/13090 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
9. Was sind nach Auffassung der Bundesregierung „angemessene“ Bearbei-
tungsdauern von Einbürgerungsanträgen im Sinne von Artikel 10 des
Übereinkommens, und welche Konkretisierungen gibt es hierzu in der An-
wendungspraxis bzw. in Anwendungshinweisen zum StAG?

10. Was sind nach Auffassung der Bundesregierung „angemessene“ Gebühren
für den Erwerb der Staatsangehörigkeit im Sinne von Artikel 13 des Über-
einkommens, und welche Konkretisierungen gibt es hierzu in der Anwen-
dungspraxis bzw. in Anwendungshinweisen zum StAG?

Berlin, den 19. Mai 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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