BT-Drucksache 16/12770

Zur Situation intersexueller Menschen in der Bundesrepublik Deutschland - Medizinische Aspekte und die Förderung Betroffener

Vom 23. April 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/12770
16. Wahlperiode 23. 04. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Kirsten Tackmann und der Fraktion
DIE LINKE.

Zur Situation intersexueller Menschen in der Bundesrepublik Deutschland –
Medizinische Aspekte und die Förderung Betroffener

Auch in der Bundesrepublik Deutschland wird eine erhebliche Anzahl an Men-
schen mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen geboren. Die betroffenen Men-
schen selbst bezeichnen sich als Zwischengeschlechtliche, Hermaphroditen,
Zwitter oder Intersexuelle. Der medizinische Fachausdruck lautet: DSD-Patien-
ten (DSD = Disorders of Sexual Development, deutsch: Störungen der Ge-
schlechtsentwicklung). In medizinischen Fachkreisen herrscht die Meinung vor,
dass diese Störung durch medizinische Eingriffe bereits im frühen Stadium der
kindlichen Entwicklung korrigiert werden müsse. Deshalb wird schon im Kin-
desalter an den Genitalien operiert, mit dem Ziel sie einem Geschlecht zuzuord-
nen. Selbsthilfeorganisationen benannten, dass es bis in die 80er Jahre medizi-
nische Praxis gewesen sei, einen zu kleinen Penis beziehungsweise eine zu
große Klitoris zu amputieren. Dabei gilt es aus den heutigen Erkenntnissen als
fraglich, ob dem eine medizinische Indikation zugrunde liegt und, ob diese me-
dizinischen Eingriffe im Sinne der Betroffenen waren und sind. So kommt die
„Hamburger Studie“ zu dem Ergebnis: „Die Behandlungsunzufriedenheit von
Intersexuellen ist […] eklatant hoch. […] Ein Drittel [der Patienten] bewertet
geschlechtsangleichende Operationen als zufriedenstellend bzw. sehr zufrie-
denstellend, ein weiteres Drittel ist unzufrieden bzw. sehr unzufrieden und das
letzte Drittel ist z. T. zufrieden, z. T. unzufrieden.“ (Christian Schäfer: „Intersexu-
alität: Menschen zwischen den Geschlechtern“ – http://www.springer.com/
medicine/thema?SGWID=1-10092-2-513709-0).

Die Folgen dieser medizinischen Eingriffe können eine lebenslang notwendige
Substitution mit körperfremden Hormonen zur Folge haben. Die Folgen der
Hormonersatztherapien können unter anderem Depressionen, Adipositas, Stoff-
wechsel- und Kreislaufstörungen, Osteoporose, Einschränkung der kognitiven
Fähigkeiten und Libidoverlust sein. Viele Betroffene haben das Problem, dass
sie bei einem Wechsel der Hormonersatztherapie, die Kosten eigenständig tra-
gen müssen, weil die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) die Kosten nicht
übernimmt.

Die Kritik der betroffenen Menschen und ihrer Selbsthilfeorganisationen hat in
den vergangenen Jahren zu einem Rückgang der frühzeitigen medizinischen
Eingriffe geführt. Auch die Medien nahmen sich der Problematik an (z. B.:
http://www.stern.de/kinderkrankheiten/aktuelles/:Intersexualit%E4t-Weiblich,/
650535.html).

Viele betroffene Menschen beklagen, dass sie (und oft auch ihre Eltern) über die
Tragweite der an ihnen vorgenommenen Eingriffe und deren lebenslangen Fol-

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gewirkungen nicht ausreichend aufgeklärt wurden, dabei hätten diese Eingriffe
massive psychische und physische Schäden zur Folge, unter denen sie ein Leben
lang leiden würden. Denn ein überdurchschnittlich hoher Prozentsatz von Men-
schen mit DSD entschließt sich im Laufe der Pubertät oder im Erwachsenenalter
„das ihnen zugewiesene soziale Geschlecht zu wechseln.“ (M. Jürgensen;
O. Hiort; U. Thyen: „Kinder und Jugendliche mit Störungen der Geschlechts-
entwicklung: Psychosexuelle und -soziale Entwicklung und Herausforderungen
bei der Versorgung“. Monatsschrift Kinderheilkunde, Volume 156, Number 3,
March 2008, S. 226-233.) (vgl. http://www.netzwerk-is.uk-sh.de/is/fileadmin/
documents/publikationen/Kinder_und_Jugendliche_mit_Stoerungen_der_
Geschlechtsentwicklung.pdf).

Auch von einigen Gerichten wird mittlerweile anerkannt, dass diese medizini-
schen Eingriffe das Selbstbestimmungsrecht verletzen können. Am 3. Septem-
ber 2008 gewann die Intersexuelle C. V. den Prozess gegen ihren ehemaligen
Operateur auch in zweiter Instanz. Das Kölner Oberlandesgericht bestätigte, wie
schon das Landgericht, dass das „Selbstbestimmungsrecht der Klägerin in ganz
erheblichem Maße verletzt“ worden sei (Az. 5 U 51/08).

Am 21. Juli 2008 präsentierte eine Delegation von Intersexuelle Menschen e. V.
in einem offiziellen Hearing dem UN-Ausschuss CEDAW (= Committee on the
Elimination of Discrimination against Women) einen eigenen Schattenbericht,
dem die Forderungsliste beigelegt war (http://intersex.schattenbericht.org). Die-
ser Schattenbericht belegt, dass eine große Anzahl von Betroffenen die derzei-
tige medizinische Praxis als problematisch ansieht.

Wir fragen die Bundesregierung:

I. Physische und psychische Folgen:

1. Liegen der Bundesregierung neue Erkenntnisse zu den Auswirkungen der
sexuellen Empfindungsfähigkeit von im Kindesalter am Genital operierten
Intersexuellen vor, und welche Auswirkungen von Genitaloperationen auf
das sexuelle Empfinden sind der Bundesregierung bekannt bzw. gibt es Über-
legungen Erhebungen durchzuführen?

Wenn ja, wie bewertet sie diese Erkenntnisse, und welche Konsequenzen
zieht sie daraus?

2. Sind der Bundesregierung Berichte und Erhebungen über Verträglichkeit und
Folgeschäden der einzig auf das zugewiesene Geschlecht ausgerichteten
Hormonersatztherapie von Intersexuellen bekannt?

Wenn ja, welche Folgeschäden sind der Bundesregierung bekannt, und wie
beurteilt sie diese?

3. Erhalten nach dem Kenntnisstand der Bundesregierung Intersexuelle beglei-
tend zur medizinischer Behandlung auch psychologische bzw. psychothera-
peutische Betreuung?

Wenn ja, in welcher Anzahl?

Wenn nein, warum nicht?

4. Erhalten nach dem Kenntnisstand der Bundesregierung Intersexuelle beglei-
tend zur medizinischen Behandlung und eventuell psychologischer bzw. psy-
chotherapeutischer Betreuung auch Peer Support (Unterstützung durch
Betroffene)?

Wenn ja, in welcher Anzahl?

Wenn nein, warum nicht?

5. Welche psychologische bzw. psychotherapeutische Betreuung erhalten Eltern
Intersexueller?

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6. Erhalten nach dem Kenntnisstand der Bundesregierung Eltern Intersexuel-
ler begleitend zu eventuell psychologischer bzw. psychotherapeutischer Be-
treuung auch Peer Support?

Wenn ja, in welcher Anzahl?

Wenn nein, warum nicht?

7. Wie beurteilt die Bundesregierung den Peer Support für Intersexuelle und
ihre Eltern?

8. Wie beurteilt die Bundesregierung die Forderungen betroffener Menschen,
Forschungsvorhaben mit dem Ziel einer individuell abgestimmten und ver-
träglicheren Hormonersatztherapie zu unterstützen?

9. Wie bewertet die Bundesregierung die Aussagen von ohne ihre Einwilli-
gung kastrierten und genitaloperierten Intersexuellen, denen ihr eigent-
liches Geschlecht verheimlicht wurde, dass sie unter erheblichen Traumati-
sierungen leiden?

In welchem Umfang sind diese Traumatisierungen bekannt?

Welche Konsequenzen zieht sie daraus?

Wenn der Bundesregierung keine bekannt sind, was gedenkt sie zu unter-
nehmen, um die Auswirkungen der Verheimlichung abzuklären?

II. Förderung und Unterstützung:

10. Welche Unterstützung erfahren Intersexuelle und ihre Infrastruktur derzeit
aus Bundesmitteln?

11. Hält die Bundesregierung Maßnahmen für erforderlich, um den Aufbau
einer bundesweiten Infrastruktur für erwachsene intersexuelle Menschen
zu unterstützen?

Wenn ja, was gedenkt sie zu unternehmen, um den Aufbau einer bundes-
weiten Infrastruktur zu unterstützen?

Wenn nein, warum nicht, und wie schätzt die Bundesregierung das Bedürf-
nis erwachsener intersexueller Menschen nach einer solchen Infrastruktur
ein?

12. Was kann und will die Bundesregierung unternehmen, um die Einrichtung
außerklinischer Kontaktzentren mit einem psychologischen Beratungsan-
gebot für Intersexuelle zu fördern, welche die von Fachleuten und Interes-
sensverbänden für wesentlich erachtete Kontaktaufnahme von Eltern und
intersexuellen Kindern mit anderen Menschen in der gleichen Situation und
die psychologische Beratung aller Beteiligten ermöglichen würde?

13. Ist die von der Bundesregierung in Bundestagsdrucksache 16/4786, Ant-
wort zu Frage B.5, in Aussicht gestellte Prüfung, ob und inwieweit all-
gemein zugängliche und akzeptanzfördernde Aufklärungsarbeiten über die
Existenz intersexueller Menschen geeignet und erforderlich sind, inzwi-
schen erfolgt?

Wenn ja, zu welchen Ergebnissen ist die Bundesregierung gekommen?

Wenn nein, warum nicht?

14. Welche Schritte wird die Bundesregierung hin zu einer Aufklärung über
Intersexuelle unternehmen?

Schließen diese Schritte die Aufnahme von Intersexualität in die Lehrpläne
der Schulen und Berufsausbildungen mit ein, insbesondere in der Biologie
und den sozialen Fächern, sowie in der Ausbildung sämtlicher medizini-
scher und sozialer Berufe, z. B. von Ärzten, Hebammen, Krankenschwes-

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tern, Pflegern, Psychologen, Lehrkräften, Kindergärtnern, Sozialarbeitern
usw.?

Wenn nein, bis wann wird die Bundesregierung über entsprechende
Ergebnisse verfügen?

III. Beurteilung der Kritik:

15. Wie beurteilt die Bundesregierung die Kritik intersexueller Selbsthilfegrup-
pen, dass sie zur rechtlichen, sozialen und psychologischen Situation von
intersexuellen Menschen nicht von sich aus initiativ geworden ist?

16. Ist der Bundesregierung bekannt, dass einer Vielzahl von Intersexuellen
durch Traumatisierung, Hormonbehandlung und weiterer Folgen der nicht
eingewilligten medizinischen Eingriffe Zeit für ihr berufliches Fortkommen
genommen wird und sie dadurch Einkommens- und Renteneinbußen erlei-
den?

Wenn ja, wie bewertet sie das?

Welche Konsequenzen zieht sie daraus?

Wenn nein, welche Auswirkungen von Traumatisierung, Hormonbehand-
lung und weiterer Folgen der nicht eingewilligten medizinischen Eingriffe
auf das berufliche Fortkommen sind der Bundesregierung bekannt?

17. Ist die Bundesregierung bereit, zusammen mit den verantwortlichen ärzt-
lichen Standesorganisationen Mittel zur Entschädigung Intersexueller, die
Opfer nicht eingewilligter medizinischer Geschlechtszuweisungen gewor-
den sind, zur Verfügung zu stellen?

Wenn ja, welche Schritte gedenkt die Bundesregierung dahingehend zu un-
ternehmen, und in welchem Zeitrahmen?

Wenn nein, warum nicht?

18. Wie beurteilt die Bundesregierung den Schattenbericht CEDAW 2008 des
Dachverbandes Intersexuelle Menschen e. V.?

Welche Konsequenzen zieht sie daraus?

19. Wie beurteilt die Bundesregierung die Forderungen des Dachverbandes
Intersexuelle Menschen e. V. (http://www.intersexuelle-menschen.net/
forderungen.html)?

20. Gibt sowohl die Kritik von Betroffenen an frühzeitigen geschlechtszuwei-
senden Maßnahmen, als auch die fachlichen Kritik nach Joan Money
(vgl. http://www.stern.de/kinderkrankheiten/aktuelles/:Intersexualit%E4t-
Weiblich,/650535.html?p=2) für die Bundesregierung einen Anlass ihre
Aussage, dass „die Mehrzahl der betroffenen Patienten rückblickend (d. h.
im Erwachsenenalter) die bei ihnen vorgenommene operative Vereindeu-
tung ihres Genitalbefundes als richtig empfinden“ (Bundestagsdrucksache
16/4786) zu relativieren (bitte mit Begründung)?

Berlin, den 21. April 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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