BT-Drucksache 16/12769

Zur Situation intersexueller Menschen in der Bundesrepublik Deutschland - Rechtliche und statistische Aspekte

Vom 22. April 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/12769
16. Wahlperiode 22. 04. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Kirsten Tackmann und der Fraktion
DIE LINKE.

Zur Situation intersexueller Menschen in der Bundesrepublik Deutschland –
Rechtliche und statistische Aspekte

Auch in der Bundesrepublik Deutschland wird eine erhebliche Anzahl an Men-
schen mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen geboren. Die betroffenen Men-
schen selbst bezeichnen sich als Zwischengeschlechtliche, Hermaphroditen,
Zwitter oder Intersexuelle. Der medizinische Fachausdruck lautet: DSD-Patien-
ten (DSD = Disorders of Sexual Development, deutsch: Störungen der Ge-
schlechtsentwicklung). In medizinischen Fachkreisen herrscht die Meinung vor,
dass diese Störung durch medizinische Eingriffe bereits im frühen Stadium der
kindlichen Entwicklung korrigiert werden müsse. Deshalb wird schon im Kin-
desalter an den Genitalien operiert, mit dem Ziel sie einem Geschlecht zuzuord-
nen. Selbsthilfeorganisationen benannten, dass es bis in die 80er Jahre medizi-
nische Praxis gewesen sei, einen zu kleinen Penis beziehungsweise eine zu
große Klitoris zu amputieren. Dabei gilt es aus den heutigen Erkenntnissen als
fraglich, ob dem eine medizinische Indikation zugrunde liegt und, ob diese me-
dizinischen Eingriffe im Sinne der Betroffenen waren und sind. So kommt die
„Hamburger Studie“ zu dem Ergebnis: „Die Behandlungsunzufriedenheit von
Intersexuellen ist […] eklatant hoch. […] Ein Drittel [der Patienten] bewertet
geschlechtsangleichende Operationen als zufriedenstellend bzw. sehr zufrie-
denstellend, ein weiteres Drittel ist unzufrieden bzw. sehr unzufrieden und das
letzte Drittel ist z. T. zufrieden, z. T. unzufrieden.“ (Christian Schäfer: „Interse-
xualität: Menschen zwischen den Geschlechtern“ – http://www.springer.com/
medicine/thema?SGWID=1-10092-2-513709-0).

Die Folgen dieser medizinischen Eingriffe können eine lebenslang notwendige
Substitution mit körperfremden Hormonen zur Folge haben. Die Folgen der
Hormonersatztherapien können unter anderem Depressionen, Adipositas, Stoff-
wechsel- und Kreislaufstörungen, Osteoporose, Einschränkung der kognitiven
Fähigkeiten und Libidoverlust sein. Viele Betroffene haben das Problem, dass
sie bei einem Wechsel der Hormonersatztherapie, die Kosten eigenständig tra-
gen müssen, weil die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) die Kosten nicht
übernimmt.

Die Kritik der betroffenen Menschen und ihrer Selbsthilfeorganisationen hat in

den vergangenen Jahren zu einem Rückgang der frühzeitigen medizinischen
Eingriffe geführt. Auch die Medien nahmen sich der Problematik an (z. B.:
http://www.stern.de/kinderkrankheiten/aktuelles/:Intersexualit%E4t-Weiblich,
/650535.html).

Viele betroffene Menschen beklagen, dass sie (und oft auch ihre Eltern) über die
Tragweite der an ihnen vorgenommenen Eingriffe und deren lebenslangen Fol-

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gewirkungen nicht ausreichend aufgeklärt wurden, dabei hätten diese Eingriffe
massive psychische und physische Schäden zur Folge, unter denen sie ein Leben
lang leiden würden. Denn ein überdurchschnittlich hoher Prozentsatz von Men-
schen mit DSD entschließt sich im Lauf der Pubertät oder im Erwachsenenalter
„das ihnen zugewiesene soziale Geschlecht zu wechseln.“ (M. Jürgensen;
O. Hiort; U. Thyen: „Kinder und Jugendliche mit Störungen der Geschlechts-
entwicklung: Psychosexuelle und -soziale Entwicklung und Herausforderungen
bei der Versorgung“.) Monatsschrift Kinderheilkunde, Volume 156, Number 3,
March 2008, S. 226-233.) (vgl. http://www.netzwerk-is.uk-sh.de/is/fileadmin/
documents/publikationen/Kinder_und_Jugendliche_mit_Stoerungen_der_
Geschlechtsentwicklung.pdf).

Auch von einigen Gerichten wird mittlerweile anerkannt, dass diese medizini-
schen Eingriffe das Selbstbestimmungsrecht verletzen können. Am 3. Septem-
ber 2008 gewann die Intersexuelle Christiane Völling den Prozess gegen ihren
ehemaligen Operateur auch in zweiter Instanz. Das Kölner Oberlandesgericht
bestätigte, wie schon das Landgericht, dass das „Selbstbestimmungsrecht der
Klägerin in ganz erheblichem Maße verletzt“ worden sei (Az. 5 U 51/08).

Am 21. Juli 2008 präsentierte eine Delegation von Intersexuelle Menschen e. V.
in einem offiziellen Hearing dem UN-Ausschuss CEDAW (= Committee on the
Elimination of Discrimination against Women) einen eigenen Schattenbericht,
dem die Forderungsliste beigelegt war (http://intersex.schattenbericht.org).
Dieser Schattenbericht belegt, dass eine große Anzahl von Betroffenen die der-
zeitige medizinische Praxis als problematisch ansieht.

Wir fragen die Bundesregierung:

I. Rechtliche Aspekte

1. Was wird die Bundesregierung unternehmen, um sicherzustellen, dass die
Würde und das Recht auf diskriminierungsfreies Leben (Artikel 1 jeweils in
Verbindung mit Artikel 3 CEDAW) bezogen auf das Geschlecht auch für in-
tersexuelle Menschen durchgesetzt wird?

2. Wie beurteilt die Bundesregierung die frühkindliche medizinische Behand-
lung intersexueller Menschen im Hinblick, auf das Gebot des Kindeswohls?

Welche Konsequenzen zieht sie aus der Beurteilung?

3. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus dem Urteil des
Kölner Oberlandesgerichts vom 3. September 2008, bei der die Intersexuelle
C. V. den Prozess gegen ihren ehemaligen Operateur auch in zweiter Instanz
bestätigte?

4. Welche möglichen Probleme können sich aus der rechtlichen Situation des
Vornamensrechts, des Personenstandgesetzes und der eingetragenen Partner-
schaft (LPartG) für intersexuelle Menschen ergeben (bitten um Auflistung)?

Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung daraus?

5. Wann wird die Bundesregierung definieren, welche körperlichen und psychi-
schen Schäden durch die Fehlbehandlung intersexuelle Menschen ihrer Auf-
fassung jeweils welchem Grad der Behinderung/Minderung der Erwerbs-
fähigkeit im versorgungsrechtlichen Sinne entsprechen?

6. Gibt es Überlegungen für eine gesetzliche Regelung, die die GKV dazu ver-
pflichtet die Kosten für eine Hormonersatztherapie von Intersexuellen, die
ihr Geschlecht nachträglich anpassten zu übernehmen?

7. Wie beurteilt die Bundesregierung frühkindliche medizinischen Eingriffe an

Intersexuellen sowie die im Kinder und Jugendalter erfolgten nicht eingewil-
ligten Eingriffe und ihre Folgen im Hinblick auf die Verletzung der Menschen-

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rechte auf körperliche Unversehrtheit, Selbstbestimmung und Würde, ins-
besondere in Hinblick auf die Verletzung der Kinderrechtskonvention
(CRC), des Zivilpakts (ICCPR), des Sozialpakts (CESCR) und der Konven-
tion gegen Folter (CAT) (bitte um detailliertes und aufgeschlüsseltes recht-
liches Eingehen auf die Problematik)?

II. Statistische Erhebungen und Bewertungen

8. Liegen der Bundesregierung Schätzungen der jährlich in Deutschland gebo-
ren Kinder vor, die als intersexuell klassifiziert werden können, z. B. basie-
rend auf der „Erhebung für seltene pädiatrische Erkrankungen in Deutsch-
land“ (ESPED) der Universität Kiel (vgl. Bundestagsdrucksache 14/5627)?

9. Wie viele Säuglinge und Kinder im vorpubertären Alter werden pro Jahr
nach der Diagnose DSD geschlechtszuweisenden medizinischen Maßnah-
men (Hormonbehandlungen, Genitaloperationen etc.) unterworfen (wir bit-
ten um eine Aufgliederung für die vergangenen fünf Jahre)?

Wenn der Bundesregierung keine exakten Zahlen vorliegen, soll dies geän-
dert werden oder nicht?

10. Welche Studien sind der Bundesregierung zur Behandlungszufriedenheit
und -unzufriedenheit von Intersexuellen in Deutschland bekannt?

Wie beurteilt sie diese, und welche Konsequenzen zieht sie daraus?

11. Welche medizinische Forschungen zu Ursachen und zur Behandlung von
Intersexualität werden derzeit und zukünftig von Bundesmitteln gefördert
(bitte mit Aufschlüsselung nach Institutionen, Einrichtungen und Höhe der
Förderung)?

12. Werden mit Bundesmitteln nichtmedizinische Forschungen zur Evaluation
der sozialen und rechtlichen Situation intersexueller Menschen in Deutsch-
land gefördert?

Wenn ja, an welche Institutionen und Einrichtungen werden diese in wel-
cher Höhe vergeben?

Berlin, den 21. April 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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