BT-Drucksache 16/1260

Sicherung der Ansprüche von Beschäftigten aus betrieblichen Vereinbarungen zur Beschäftigungssicherung und Sozialplänen bei Insolvenzen

Vom 19. April 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1260
16. Wahlperiode 19. 04. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Lötzer, Paul Schäfer (Köln), Kornelia Möller und der
Fraktion DIE LINKE.

Sicherung der Ansprüche von Beschäftigten aus betrieblichen Vereinbarungen
zur Beschäftigungssicherung und Sozialplänen bei Insolvenzen

Zunehmend wird im Zuge betrieblicher Vereinbarungen zur Beschäftigungs-
sicherung zwischen Betriebsräten und Unternehmen der Verzicht auf die Ent-
lohnung von Mehrarbeit oder auf die Auszahlung flächentarifvertraglich ver-
einbarter Lohn- und Gehaltserhöhungen, auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld oder
betrieblich übliche sonstige Leistungen des Arbeitgebers vereinbart. Für den
Fall eines Scheiterns der Sanierungsanstrengungen werden diese Verzichtsleis-
tungen der Belegschaft häufig mit Vereinbarungen über einen Sozialplan abge-
sichert.

Mit solchen betrieblichen Vereinbarungen sind schwerwiegende allgemeine
Probleme verbunden wie z. B. negative gesamtwirtschaftliche Auswirkungen
von niedrigeren Arbeitseinkommen, die Gefährdung der Tarifautonomie durch
die Unterschreitung verbindlicher Flächentarifverträge und die Schwächung
gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht infolge der Erpressbarkeit von betrieb-
lichen Interessenvertretungen und Belegschaften durch die Ankündigung einer
Werksschließung bzw. Standortverlagerung.

Jenseits dieser in den Gewerkschaften und in der Gesellschaft kontrovers disku-
tierten Fragen können jedoch auch in der praktischen Umsetzung solcher Ver-
einbarungen weitere schwerwiegende Nachteile für die Beschäftigten auftreten,
die mit der Frage nach einer rechtlichen Absicherung der auf solchen Vereinba-
rungen beruhenden Ansprüche von Beschäftigten verbunden sind.

Von besonderer Bedeutung ist in der Praxis das Problem, dass im Falle einer In-
solvenz des Betriebes den Beschäftigten neben dem Verlust des Arbeitsplatzes
auch die vereinbarten Ansprüche aus einem Sozialplan ersatzlos verloren ge-
hen. Dies ist auch dann der Fall, wenn es sich bei der insolventen Gesellschaft
um ein lediglich der Rechtsform nach selbständiges Tochterunternehmen von
weltweit agierenden Konzernen oder großen Unternehmen handelt, bei denen
von einer Insolvenz nicht die Rede sein kann.

Ein besonders drastisches Beispiel für diese Problematik ist die Insolvenz von
LG.Philips Displays, die zur Schließung des Aachener Bildröhrenwerkes

führte. In diesem Joint Venture der Elektronikunternehmen Philips (Nieder-
lande) und LG Electronics (Südkorea) war 2002 im Gegenzug für den Verzicht
der Beschäftigten auf die Auszahlung einer tariflich vereinbarten Lohnerhö-
hung für den Fall einer Schließung des Werkes vor dem Jahre 2007 rechts-
verbindlich ein Sozialplan für die ca. 400 Beschäftigten mit dem Betriebsrat
vereinbart worden.

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Durch Antrag auf Gläubigerschutz entzog sich das Unternehmen jedoch den
daraus folgenden Zahlungsverpflichtungen für Abfindungen und die Gründung
einer Transfergesellschaft. Neben der Glasfabrik in Aachen beantragte auch das
Werk Eindhoven (350 Beschäftigte) am 27. Januar 2006 Insolvenz. Obwohl die
übrigen europäischen Standorte von LG.Philips Displays davon nicht betroffen
sind und den Eignern somit 85 Prozent der Fertigungskapazität erhalten blei-
ben, gibt es für den Betriebsrat und die Beschäftigen keinen rechtlich verpflich-
teten Ansprechpartner für ihre aus der Sozialplanvereinbarung resultierenden
Ansprüche, während LG Electronics so wenig zahlungsunfähig ist, dass der
Konzern als einer der offiziellen Hauptsponsoren der Fußballweltmeisterschaft
2006 in Erscheinung treten kann.

Der Sachverhalt wurde in den Medien ausführlich geschildert (z. B. überre-
gional in der WELT am SONNTAG vom 19. März 2006, in den Aachener
Nachrichten und der Aachener Zeitung vom 2., 3., 6. Dezember, 21. Februar
sowie 14. und 20. März 2006). Neben den Protestaktionen der Belegschaft, die
gestützt auf eine breite parteiübergreifende Unterstützung wenigstens von
Philips im Gegensatz zu dem zweiten Partner des insolventen Joint Ventures,
LG Electronics, die – rechtlich freiwillige – Zahlung eines, wenngleich unzu-
reichenden, Anteils an den vereinbarten Sozialplanleistungen durchsetzen
konnten, bestimmte die Frage nach der Legitimität des geschilderten Vorgehens
von LG Electronics und Philips die Berichterstattung und die öffentliche
Diskussion. So erklärte der nordrhein-westfälische Arbeitsminister Karl-Josef
Laumann in der „Aachener Zeitung“ vom 2. Februar 2006: „Es kann nicht sein,
dass LG meint, sie habe nichts damit zu tun, was hier passiert.“

Seitens der Bundesregierung hat nach einer in den „Aachener Nachrichten“
vom 17. Februar 2006 zitierten Äußerung der Bundesministerin für Gesundheit
Ulla Schmidt gegenüber dem Vorsitzenden des Betriebsrates von LG.Philips
Displays, dem Bundesminister des Auswärtigen Dr. Frank-Walter Steinmeier,
bei seiner Asienreise ein Schreiben der Belegschaft an die Konzernleitung von
LG Electronics überbracht und den Versuch unternommen, mit Verantwort-
lichen des Unternehmens ins Gespräch zu kommen.

Weiterhin wurde in den Medien, insbesondere in der „WELT am SONNTAG“
vom 19. März 2006 unter der Überschrift „Profite aus der Pleite“ als weitere
Folge der Insolvenz problematisiert, dass die Produktion zu Gunsten von
LG.Philips Displays auch dann noch aufrechterhalten wurde, als die Beschäf-
tigten aufgrund der Insolvenz keinen Lohn mehr bekamen, sondern lediglich
Anspruch auf das von der Bundesagentur für Arbeit aus Mitteln der Solidar-
gemeinschaft der Versicherten bestrittene Insolvenzgeld hatten.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie bewertet die Bundesregierung die Verbindlichkeit von betrieblichen Be-
schäftigungssicherungs- und Sozialplanvereinbarungen sowie die Verwen-
dung der unter Verwendung von Insolvenzgeld erwirtschafteten Umsätze
und Gewinne insbesondere vor dem Hintergrund des geschilderten Vorge-
hens der an der LG.Philips Displays beteiligten Konzerne und wie begründet
sie ihre Haltung?

2. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dem geschilderten Fall,
insbesondere hinsichtlich der Strategie von Konzernen und großen Unter-
nehmen, mit der Aufspaltung in rechtlich selbständige Tochtergesellschaften
die Folgekosten von Unternehmensschließungen und Massenentlassungen
auf die Allgemeinheit bzw. die Solidargemeinschaft der Beitragszahler der
Arbeitslosenversicherung überzuwälzen?

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3. Hält die Bundesregierung gesetzgeberische Maßnahmen für erforderlich,
um künftig zur Sicherung der aus betrieblichen Beschäftigungssicherungs-
und Sozialplanvereinbarungen resultierenden Ansprüche der Beschäftigten
in rechtlich selbständigen Tochtergesellschaften von großen Unternehmen
und Konzernen im Falle einer Insolvenz der Tochtergesellschaft eine Haf-
tung der Muttergesellschaften sicherzustellen?

Wenn ja, welche konkreten Schritte bereitet sie zur Erreichung dieser Ziel-
setzung vor, wenn nein, wie begründet sie ihre Haltung?

4. Hält die Bundesregierung darüber hinaus eine allgemeine insolvenzrecht-
liche Regelung zur Sicherung der Ansprüche von Beschäftigten aus be-
trieblichen Beschäftigungssicherungs- und Sozialplanvereinbarungen für
möglich und sinnvoll?

Wenn ja, welche?

Wenn nein, wie begründet sie ihre Haltung?

5. Ist der Bundesregierung bekannt, welche Leistungen der Wirtschaftsförde-
rung des Bundes und der Länder sowie der Europäischen Union für die Kon-
zerne Philips und Lucky Goldstar (LG Electronics) bzw. deren Tochter-
gesellschaften zurzeit zur Auszahlung oder zur Genehmigung anstehen?

6. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, zur Sicherung der An-
sprüche von Beschäftigten aus betrieblichen Vereinbarungen insolventer
rechtlich selbständiger Tochtergesellschaften auf den Muttergesellschaften
gewährte Fördermittel im Rahmen der Wirtschaftsförderung der Länder
und des Bundes bzw. der Europäischen Union zurückzugreifen?

7. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass bei künftigen Anträgen der
beteiligten Konzerne auf Gewährung von Fördermitteln des Bundes und
der Länder bzw. der Europäischen Union das Verhalten der Beteiligten im
geschilderten Fall in die Entscheidung über die Bewilligung der beantrag-
ten Leistungen einbezogen werden soll, und welche Schritte erachtet sie
dafür als zielführend?

8. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die Aneignung der unter
Inanspruchnahme von Insolvenzgeld erwirtschafteten Umsätze und Ge-
winne durch die Muttergesellschaften der originären Zielsetzung des Insol-
venzgeldes als von der Versichertengemeinschaft der Arbeitslosenversiche-
rung getragene soziale Sicherungsleistung nicht entspricht?

Wie begründet sie ihre Haltung, und welche Schritte hält sie für geboten,
um künftig derartige der originären Zielsetzung des Insolvenzgeldes nicht
entsprechende Verwendungen dieser Leistung auszuschließen?

9. Welche Möglichkeiten des Zugriffs auf die mit dem Insolvenzgeld als
Lohnersatzleistung produzierten Werte sieht die Bundesregierung im vor-
liegenden Fall, um sie zur Erfüllung der unabgegoltenen Ansprüche der
Belegschaft verwenden zu können?

10. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, auf den Konzern
LG.Philips Displays einzuwirken, dass er seine soziale Verantwortung
für die Sozialplanleistungen übernimmt?

Berlin, den 19. April 2006

Ulla Lötzer
Paul Schäfer (Köln)

Kornelia Möller
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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