BT-Drucksache 16/12562

Auswirkungen des Soysal-Urteils des Europäischen Gerichtshofs

Vom 3. April 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/12562
16. Wahlperiode 03. 04. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Ulla Jelpke, Wolfgang Neskovic und der
Fraktion DIE LINKE.

Auswirkungen des Soysal-Urteils des Europäischen Gerichtshofs

Das so genannte Soysal-Urteil (Rechtssache C-228/06) des Europäischen Ge-
richtshofs (EuGH) vom 18. Februar 2009 besagt, dass infolge eines Zusatzpro-
tokolls zum Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und
der Türkei keine strengeren Visumsregelungen im Bereich der Niederlassungs-
und Dienstleistungsfreiheit für türkische Staatsangehörige gelten dürfen als
zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Protokolls, d. h. zum 1. Januar 1973. Die
allgemeine Visumspflicht für türkische Staatsangehörige wurde 1980 einge-
führt. Der Europäische Gerichtshof stellt in seinem Urteil klar, dass diese Ver-
schärfung der Visumsbestimmungen im Bereich der Niederlassungs- und
Dienstleistungsfreiheit mit dem Zusatzprotokoll des Assoziierungsabkommens
unvereinbar ist und mithin die alten Visumsbestimmungen weiter gültig sind.

Aus dem Urteil folgt, dass türkische Staatsangehörige zur Inanspruchnahme der
Dienstleistungsfreiheit visumsfrei in die Bundesrepublik Deutschland einreisen
dürfen, wenn sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Türkei beibehalten und
keine Erwerbstätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland aufnehmen wollen.
Betroffen sind davon beispielsweise Touristinnen und Touristen, aber auch Per-
sonen, die eine Krankenhausbehandlung in der Bundesrepublik Deutschland
durchführen lassen oder einen Sprachkurs in Anspruch nehmen wollen. Dies ist
jedenfalls die einhellige Auffassung juristischer Fachexperten und -expertin-
nen, z. B. des Richters und Europarechtsexperten Dr. Dienelt (www.migra-
tionsrecht.net; Informationsbrief Ausländerrecht 2001, 473 ff.), der Richterin
Dr. Cornelia Mielitz (NVwZ 2009, Heft 5, S. 276 ff.) und auch der Polizei-
hauptkommissare Volker Westphal und Edgar Stoppa, die an der Bundespoli-
zeiakademie unterrichten und Informationsblätter zum Ausländerrecht für die
Polizei- und Grenzpolizeiarbeit erstellen („Ausländerrecht für die Polizei“,
www.westphal-stoppa.de).

Die Bundesregierung versucht dessen ungeachtet, die Auswirkungen des
Urteils auf den konkreten Einzelfall (der erfolgreiche türkische Kläger war
Lastwagenfahrer im grenzüberschreitenden Verkehr) bzw. auf aktive Dienst-
leistungserbringer zu beschränken, passive Dienstleistungsempfänger (etwa
Touristinnen und Touristen) sollen nicht betroffen sein (vgl. Plenarprotokoll
16/213, S. 23073 ff.). Allerdings hatte der Parlamentarische Staatssekretär beim

Bundesminister des Innern, Peter Altmaier, zuvor noch eingeräumt, das Soysal-
Urteil betreffe „die visumsfreie Einreise türkischer Staatsangehöriger zur kurz-
fristigen Inanspruchnahme der Dienstleistungsfreiheit, so wie sie durch das im
Jahre 1973 geltende deutsche Ausländerrecht vorgesehen war“ (Plenarprotokoll
16/210, S. 22709).

Mittlerweile liegt eine erste Entscheidung des Berliner Verwaltungsgerichts zu
den Auswirkungen des Soysal-Urteils vor (VG 19 V 61.08, Beschluss vom

Drucksache 16/12562 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

25. Februar 2009). Aus der Begründung ergibt sich, dass „nach Auffassung der
Kammer vieles dafür [spricht], dass neben der Freiheit des Dienstleistungser-
bringers […] auch die passive Dienstleistungsfreiheit […] von Artikel 41
Absatz 1 des Zusatzprotokolls erfasst ist“ (ebd., S. 3). Die Kammer stützt sich
bei dieser Interpretation des Urteils auf die vorliegende Rechtsprechung und
Kommentarliteratur. Im konkreten Fall wurde der Antrag nur deshalb zurück-
gewiesen, weil das Gericht davon ausging, dass der türkische Antragsteller kei-
nen touristischen Aufenthalt anstrebte, sondern vorrangig zu Besuchszwecken
einreisen wollte. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass nach Auffassung der
Kammer türkische Staatsangehörige visumsfrei in die Bundesrepublik
Deutschland einreisen können, wenn der vorrangige Zweck der Einreise die
Inanspruchnahme von Dienstleistungen ist. Dies trifft auf Touristinnen und
Touristen, aber auch auf Menschen, die in der Bundesrepublik Deutschland
z. B. einen Sprachkurs in Anspruch nehmen wollen, zu.

Die vom Gericht getroffene Unterscheidung zwischen Besuchs- und touristi-
schen Aufenthalten ist allerdings auf Kritik gestoßen, zumal hierdurch den
Grenzbehörden eine penible Motivforschung und eine schwierige und lebens-
ferne Abgrenzung zusammenhängender Sachverhalte aufgebürdet wird. Fast
alle türkischen Staatsangehörigen haben Bekannte und Verwandte in der Bun-
desrepublik Deutschland und werden den Besuch dieser Menschen mit touristi-
schen Zwecken bzw. auch anders herum: eine touristische Reise in die Bundes-
republik Deutschland mit dem Besuch dieser Menschen verbinden.

Die Behauptung des Parlamentarischen Staatssekretärs Peter Altmaier, es be-
stehe hinsichtlich der Auswirkungen des Soysal-Urteils „völlige Klarheit“, und
„dieser Zustand der Klarheit und Übersichtlichkeit“ würde „auch in den nächs-
ten Wochen und Monaten“ andauern (Plenarprotokoll 16/213, S. 23075), muss
nach alledem in Zweifel gezogen werden. Zwar sind die Auswirkungen des
Soysal-Urteils durchaus „klar“, nur sind sie nach Auffassung der Fragesteller
wie dargelegt eben ganz anders, als die Bundesregierung behauptet.

Infolge der unzureichenden Umsetzung des Soysal-Urteils drohen Regressfor-
derungen in unbekannter Höhe, wenn türkische Staatsangehörige zu Unrecht an
den deutschen Grenzen zurückgewiesen werden. Zudem werden unzählige Un-
schuldige wegen vermeintlich „unerlaubter“ Einreise verfolgt. Die Rechtsan-
wälte und Fachredakteure der Zeitschrift Informationsbrief Ausländerrecht
Dr. Gutmann und Dr. h. c. Strate haben deshalb am 20. März Strafanzeige ge-
gen den Bundesminister des Innern, Dr. Wolfgang Schäuble, gestellt, weil die
derzeitige interne Weisungslage die Grenz- bzw. Bundespolizei zur Verfolgung
Unschuldiger anstifte.

Eine Nebenfolge des Soysal-Urteils ist auch, dass die Neuregelung des Erwerbs
von Sprachkenntnissen vor der Einreise im Rahmen des Ehegattennachzugs ad
absurdum geführt wird. Türkische Staatsangehörige können zum Erwerb der
deutschen Sprachkenntnisse visumsfrei in die Bundesrepublik Deutschland ein-
reisen. Sie müssen dann lediglich noch einmal aus- und mit einem Visum zum
Ehegattennachzug wieder einreisen – was jedoch bloße Schikane wäre.

Ekrem Senol geht in einem Kommentar auf dem Internetportal www.migazin.de
(vom 21. März 2009: „Visafreiheit für Türken – Innenministerium rudert zu-
rück“) davon aus, dass das Bundesministerium des Innern sich dieser Auswirkun-
gen des Soysal-Urteils bewusst ist und deshalb „mit aller Macht“ versucht, es nur
sehr begrenzt umzusetzen. Konsequente Nachfragen seien deshalb erforderlich.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wieso benötigt die Bundesregierung so lange für die Auswertung und Um-
setzung des übersichtlichen und seit dem 19. Februar 2009 schriftlich vorlie-

genden Urteils, obwohl

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/12562

a) bereits in der Verhandlung am 7. Oktober 2008 deutlich wurde, dass die
Rechtsfragen vom EuGH als weitgehend geklärt angesehen wurden und
damit absehbar war, dass die Kläger angesichts der bisherigen Rechtspre-
chung des EuGH Recht erhalten würden (vgl. Meldung vom 7. Oktober
2008 auf www.migrationsrecht.net),

b) andere Rechtsexperten, die über kein Ministerium verfügen können, wie
z. B. Dr. Dienelt, bereits am Tag der Verkündung eine entsprechende In-
terpretation des Urteils vorlegten (vgl. Meldung vom 19. Februar 2009
auf www.migrationsrecht.net),

c) die Ausländerrechtsexperten Volker Westphal und Edgar Stoppa bereits
am 22. Februar 2009 ein Informationsblatt mit ausführlichen Informa-
tionen zu den Auswirkungen des Soysal-Urteils vorlegten, in dem es im
Übrigen heißt, dass das Urteil „von Fachleuten des EU-Rechts erwartet
worden“ sei (www.westphal-stoppa.de, Report Nr. 19),

d) das Berliner Verwaltungsgericht bereits in einem Beschluss vom 25. Fe-
bruar 2009 in der Lage war, Schlussfolgerungen aus dem zu diesem Zeit-
punkt erst seit sechs Tagen vorliegenden Urteil zu ziehen,

e) entsprechende Kommentarliteratur und Gerichtsurteile im Sinne der Ar-
gumentation des Soysal-Urteils bereits seit dem Jahr 2001 vorliegen (vgl.
die Quellhinweise in: VG Berlin 19 V 61.08, B. v. 25. Februar 2009,
S. 3)?

2. Wie begründet die Bundesregierung ihre Behauptung, hinsichtlich der
Rechtslage und Auswirkungen des Soysal-Urteils bestünde „völlige Klar-
heit“, und dieser „Zustand der Klarheit und Übersichtlichkeit [werde] auch
in den nächsten Wochen und Monaten“ andauern (Staatssekretär Peter
Altmaier, Plenarprotokoll 16/213, S. 23075), angesichts

a) der in der Vorbemerkung dargelegten mehrheitlichen oder sogar einheit-
lichen Rechtsauffassung, die derjenigen der Bundesregierung wider-
spricht,

b) des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Berlin vom 25. Februar 2009,
aus dessen Begründung hervorgeht, dass klagende türkische Touristinnen
und Touristen zumindest von dieser Kammer des Verwaltungsgerichts
voraussichtlich Recht erhalten werden und damit eine visumfreie Ein-
reise einklagen können,

c) des Informationsblatts Nr. 19 vom 22. Februar 2009 der Polizeihaupt-
kommissare Volker Westphal und Edgar Stoppa, das von vielen Bundes-
und Grenzpolizistinnen und -polizisten gelesen und für die Alltagsarbeit
benutzt wird und dem zu entnehmen ist, dass türkische Dienstleistungser-
bringer wie -empfänger ab sofort visumsfrei einreisen können und wie
„Positivstaater“ zu behandeln seien (bitte die Buchstaben a bis c in jedem
Fall getrennt beantworten)?

3. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Begründung
des Beschlusses VG Berlin 19 V 61.08 vom 25. Februar 2009, wonach vie-
les dafür spreche, dass neben der aktiven auch die passive Dienstleistungs-
freiheit von Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls erfasst sei?

4. Sind der Bundesregierung noch andere Gerichtsentscheidungen zur Anwen-
dung des Soysal-Urteils bekannt, und wenn ja, welche, und welchen Inhaltes
sind sie?

5. Wie viele und welche Kammern des Berliner Verwaltungsgerichts sind hin-
sichtlich der Klagen und Rechtsschutzanträge türkischer Staatsangehöriger
in Bezug auf Versagungen von (Besuchs-/Touristen-)Visa bzw. Einreisen zu-
ständig, und wie viele solcher Klagen oder Rechtsschutzanträge wurden im

Jahr 2008 und in den Jahren zuvor durchschnittlich eingereicht (falls keine

Drucksache 16/12562 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Differenzierung nach Staatsangehörigkeiten möglich sein sollte, bitte Ge-
samtzahl nennen)?

6. Wie begründet die Bundesregierung ihre Auffassung, wonach das Soysal-
Urteil allenfalls Auswirkungen auf die Visumsbestimmungen im Zusam-
menhang der „aktiven“ Dienstleistungsfreiheit habe, in Auseinanderset-
zung mit den in der Vorbemerkung angeführten Rechtsauffassungen, und
auf welche juristischen Quellen, welche Gerichtsentscheidungen oder wel-
che Kommentarliteratur stützt sie sich dabei konkret?

7. Wie begründet die Bundesregierung ihre Auffassung, wonach das Soysal-
Urteil allenfalls Auswirkungen auf die Visumsbestimmungen im Zusam-
menhang der „aktiven“ Dienstleistungsfreiheit habe, angesichts dessen,
dass die so genannte Stillstands-Klausel nach Artikel 41 des Zusatzproto-
kolls zum Assoziierungsabkommen in Absatz 2 vorsieht, dass die „Be-
schränkungen … des freien Dienstleistungsverkehrs untereinander schritt-
weise“ beseitigt werden sollen, und zwar „nach den Grundsätzen des Arti-
kels 14 des Assoziierungsabkommens“, in denen es wiederum heißt, dass
„die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln [45, 46 und 48 bis
54 des EG-Vertrages] leiten zu lassen, um untereinander die Beschränkun-
gen des freien Dienstleistungsverkehrs aufzuheben“?

a) Bedeutet dies nicht, dass die Stillstands-Klausel im Geist der Artikel des
EG-Vertrages zur Dienstleistungsfreiheit interpretiert werden muss, und
ist diesbezüglich die Rechtsprechung des EuGH nicht unstrittig so, dass
sich z. B. Touristinnen und Touristen eindeutig auf die (passive) Dienst-
leistungsfreiheit berufen können, und folgt hieraus nicht die Visumsfrei-
heit für türkische Staatsangehörige, soweit der touristische Zweck im
Vordergrund steht und kein Daueraufenthalt angestrebt wird (bitte be-
gründen)?

b) Unterfällt im Allgemeinen die Inanspruchnahme eines Sprachkurses in
einem anderen Land der Dienstleistungsfreiheit im Sinne des EG-Ver-
trages bzw. der Rechtsprechung des EuGH (bitte begründen)?

8. Wie bewertet die Bundesregierung in diesen Zusammenhang die Einschät-
zung von Dr. Dienelt, wonach sich „die Haltung des BMI … in Anbetracht
der klaren Aussage des Europäischen Gerichtshofs wohl nicht sehr lange
aufrecht erhalten lassen“ kann, da „in der Fachöffentlichkeit soweit erkenn-
bar weitestgehend eine einheitliche Meinung“ bestehe (Meldung vom
9. März 2009 auf www.migrationsrecht.net)?

9. Wie ist die Position und Rechtsauffassung des Auswärtigen Amts zur Aus-
legung des Soysal-Urteils, und welches Ministerium ist diesbezüglich fe-
derführend?

10. Inwieweit ist nach Auffassung der Bundesregierung der Zensurvorwurf des
Bundes Deutscher Kriminalbeamter (vgl. Pressemitteilung vom 9. März
2009) im Zusammenhang der zeitweiligen Sperrung der Webseite „Auslän-
derrecht für die Polizei“ der Polizeihauptkommissare Volker Westphal und
Edgar Stoppa für die Intranetnutzung der Bundespolizei wegen der dort
vertretenen Interpretation des Soysal-Urteils berechtigt (Volker Westphal
selbst sagte: „Solche Sachen hört man eher aus China. Ich hätte so etwas in
Deutschland nicht für möglich gehalten“, Frankfurter Rundschau vom
9. März 2009)?

a) Wieso wurde die Sperrung wieder aufgehoben, obwohl der Inhalt der
Seite unverändert ist und laut einer Sprecherin des Bundesministeriums
des Innern (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 9. März 2009: „Bundespoli-
zei sperrt Webseite“) ohne die Sperrung die Gefahr bestanden habe,

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/12562

„dass die 40 000 Mitarbeiter der Bundespolizei dadurch irregeleitet wer-
den“?

b) Für wie sinnvoll hält die Bundesregierung die Sperrung unliebsamer
Rechtsauffassungen im Intranet der Bundespolizei, wenn diese unverän-
dert über das Internet einsehbar sind?

11. Ist das Soysal-Urteil nach Auffassung der Bundesregierung sofort umsetz-
bar, und welche Konsequenzen ergeben sich hieraus?

a) Gilt die Visumsfreiheit in dem von der Bundesregierung noch zu prü-
fenden und festzulegenden Ausmaß dann auch rückwirkend bis zum
Tag der Urteilsverkündung – und was geschieht dann mit den Fällen
von Einreiseverweigerungen, Strafverfahren oder auch Verurteilungen
wegen unerlaubter Einreise/Aufenthalt z. B. von „aktiven“ Dienstleis-
tungserbringern, die sich ab der Urteilsverkündung bis zur Änderung
der Verwaltungsanordnungen ereignet haben (bitte begründen)?

b) Gilt die Visumfreiheit in dem von der Bundesregierung noch zu prüfen-
den und festzulegenden Ausmaß dann auch rückwirkend bis zum
1. Januar 1973 – und was geschieht mit den Fällen von Einreiseverwei-
gerungen, Strafverfahren oder auch Verurteilungen wegen unerlaubter
Einreise/Aufenthalt, die sich angesichts des Soysal-Urteils als unhaltbar
erweisen?

12. Wie viele türkische Staatsangehörige wurden wegen eines Visumsversto-
ßes, wegen „illegaler“ Einreise/Aufenthalts im Jahr 2008 bzw. in den Jah-
ren 1973 bis heute verurteilt?

a) Inwieweit lassen sich genauere Differenzierungen oder Einschätzungen
dahingehend machen, wie viele dieser Verurteilungen angesichts des
Soysal-Urteils nicht hätten erfolgen dürfen?

b) Welche Konsequenzen sind in Fällen unrechtmäßiger Verurteilungen
wegen angeblich „illegaler“ – tatsächlich in Kenntnis des Soysal-Urteils
jedoch rechtmäßiger – Einreise zu ziehen?

13. Wie viele Visumanträge türkischer Staatsangehöriger wurden im Jahr 2008
bzw. in den Jahren 1973 bis heute versagt (soweit möglich bitte nach Auf-
enthaltszwecken und -zeiträumen differenzieren)?

14. Welche Möglichkeiten haben türkische Staatsangehörige, Regressforderun-
gen bzw. Amtshaftungsansprüche gegen die Bundesrepublik Deutschland
zu erheben, wenn ihnen eine visumfreie Einreise versagt wird und sich an-
schließend herausstellt, dass ihnen eine visumfreie Einreise hätte erlaubt
werden müssen, und mit welchen Kosten muss in einem solchen Einzelfall
gerechnet werden?

15. Welche konkreten Möglichkeiten haben türkische Staatsangehörige, gegen
eine verweigerte visumfreie Einreise vorzugehen, wenn sie selbst der Auf-
fassung sind, dass sie infolge des Soysal-Urteils visumfrei einreisen dürfen

a) gegenüber Fluggesellschaften, die die Einhaltung der Visumbestimmun-
gen prüfen müssen (Beschwerde, Rechtsmittel, Schadensersatzforde-
rungen usw.),

b) bei der Grenzkontrolle am Flughafen, an den Landesgrenzen, im Inland
usw. (Beschwerde, Rechtsmittel, Schadensersatzforderungen, Kontakt
zur türkischen Botschaft usw.),

c) in Bezug auf den Rechtsweg in der Bundesrepublik Deutschland (An-
trag, Klage, Schadensersatz- und Regressforderungen usw.),
d) in Bezug auf die europäische Ebene (Rechtsmittel, Beschwerden usw.)?

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16. Wie bewertet die Bundesregierung die Initiative von fünf zivilgesellschaft-
lichen Organisationen (darunter z. B. die Türkische Gemeinde Deutsch-
land, der Verband Türkischer Unternehmer und Industrieller in Europa und
der DGB), für eine visumfreie Einreise türkischer Staatsangehöriger zu
kämpfen und diese aufzufordern, zu klagen, wenn von ihnen ein Visum
verlangt wird (vgl. Meldung der Zeitschrift HÜRRIYET vom 16. März
2009)?

17. Welche Konsequenzen wird die Bundesregierung aus der Aussage des ehe-
maligen bayerischen Innenministers Günter Beckstein ziehen, der laut
TÜRKIYE vom 12. März 2009 gesagt haben soll, dass er sich über die
EuGH-Entscheidung freue und gefordert haben soll, dass die Visumpflicht
gegenüber türkischen Staatsangehörigen ganz aufgehoben wird?

18. Kann die Bundesregierung nachvollziehen, dass viele Menschen mit Ein-
wanderungsgeschichte herkunftssprachige Medien nutzen, wenn in
deutschsprachigen Medien ein so wichtiges Urteil wie das „Soysal-Urteil“
weitgehend ignoriert wird, während z. B. die türkische (Auslands-)Presse
dem Thema größte Bedeutung beimisst (bitte begründen)?

19. Welchen Sinn würde die gerade in Hinblick auf türkische Staatangehörige
eingeführte Regelung der Sprachanforderungen vor Erteilung eines Einrei-
sevisums zum Ehegattennachzug noch machen, wenn türkischen Staatsan-
gehörigen eine visumfreie Einreise und der Besuch eines Sprachkurses in
der Bundesrepublik Deutschland möglich wären?

20. Wie begründet die Bundesregierung ihre Auffassung, das Soysal-Urteil
habe keine Auswirkungen auf das Sprachnachweiserfordernis beim Ehe-
gattennachzug (vgl. Plenarprotokoll 16/210, S. 22709) in Auseinanderset-
zung mit der genau gegenteiligen Auffassung von

a) Rechtsanwältin Stephanie Weh (in: Informationsbrief Ausländerrecht
10/2008, 381 ff.),

b) Dr. Dienelt (Meldung auf www.migrationsrecht.net vom 21. Februar
2009),

c) Dr. Cornelia Mielitz (NVwZ 2009, Heft 5, S. 276 ff.),

die darlegen, dass die Begrenzung des visumfreien Aufenthalts türkischer
Staatsangehöriger auf drei Monate erst am 14. Dezember 1982 eingeführt
wurde – und damit nach der besagten Stillstandsklausel im Bereich der
Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit unwirksam ist –, so dass die
Privilegierung nach § 30 Absatz 1 Satz 3 Nummer 4 des Aufenthalts-
gesetzes (AufenthG) zur Anwendung kommen muss?

Geht die Bundesregierung davon aus, dass die Visumbefreiung nach § 5
Absatz 1 Nummer 1 der Verordnung zur Durchführung des Ausländer-
gesetzes (DVAuslG) 1965 eine Befreiung aufgrund der Staatsangehörigkeit
im Sinne des § 30 Absatz 1 Satz 3 Nummer 4 AufenthG ist?

21. Geht die Bundesregierung davon aus, dass türkische Staatsangehörige, die
ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Türkei beibehalten und keine Er-
werbstätigkeit aufnehmen wollen, auch dann visafrei einreisen dürfen,
wenn sie über die Dauer von drei Monaten hinaus Dienstleistungen im
Bundesgebiet empfangen oder erbringen wollen (etwa zum Besuch eines
mehrmonatigen Sprachkurses oder Kuraufenthalts; bitte begründen und ge-
gebenenfalls – auch im Folgenden – bei der Beantwortung nach Dienstleis-
tungserbringung bzw. -empfang differenzieren)?

a) Müssen diese Personen nach der Einreise einen Aufenthaltstitel beantra-

gen, wenn sie sich über die in § 1 Absatz 2 DVAuslG 1965 hinausge-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/12562

henden Zeiträume im Bundesgebiet zum Zwecke der Erbringung oder
Entgegennahme von Dienstleistungen aufhalten wollen?

b) Welcher Aufenthaltstitel wird diesen Personengruppen erteilt?

c) Was unterscheidet diese Personengruppe von Ausländern, die nach § 41
Absatz 1 und 2 der Aufenthaltsverordnung (AufenthV) visafrei einrei-
sen dürfen und innerhalb von drei Monaten nach der Einreise einen Auf-
enthaltstitel beantragen müssen?

d) Wenn kein qualitativer Unterschied besteht, warum sind dann Ehegatten
türkischer Staatsangehöriger nicht ebenso wie Ehegatten der Staats-
angehörigen im Sinne des § 41 Absatz 1 und 2 AufenthV von dem Er-
fordernis einfacher Sprachkenntnisse befreit?

22. Liegen der deutschen Botschaft in Ankara, dem deutschen Generalkonsul-
tat in Istanbul oder anderen Vertretungen in der Türkei Anträge auf Aus-
stellung von Bescheinigungen zur Bestätigung der Möglichkeit einer vi-
sumfreien Einreise in das Bundesgebiet vor?

a) Beabsichtigt die Bundesregierung derartige Bescheinigungen auszustel-
len, um türkischen Staatsangehörigen (Geschäftsreisenden, Künstlern,
Sportlern und anderen) problemlos eine visumfreie Einreise zu ermög-
lichen, und wenn nein, warum nicht?

b) Werden diese Bescheinigungen kostenfrei ausgestellt?

23. Wie ist die Position und Rechtsauffassung der Integrationsbeauftragten zu
den Auswirkungen des Soysal-Urteils?

24. Welche Gruppen türkischer Staatsangehöriger konnten zum Stichtag des
1. Januar 1973 auf welcher Rechtsgrundlage, zu welchen Zwecken, unter
welchen Bedingungen, für wie lange visumfrei in die Bundesrepublik
Deutschland einreisen, und wie waren die Einreisebedingungen konkret für
die Gruppen „Touristen“ bzw. „Personen, die in der Bundesrepublik
Deutschland einen Sprachkurs besuchen wollen“?

25. Inwieweit sieht die Bundesregierung die Gefahr, sie befördere diskriminie-
rende Einstellungen gegenüber türkischen Staatsangehörigen, wenn sie den
Eindruck vermitteln könnte, bei der Umsetzung dieses Urteils des Europäi-
schen Gerichtshofes nach dem Motto zu verfahren „weil nicht sein kann,
was nicht sein darf“?

Berlin, den 1. April 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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