BT-Drucksache 16/12435

Gleiche Bezahlung, gleiche Behandlung und Mindestlohn für Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer

Vom 25. März 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/12435
16. Wahlperiode 25. 03. 2009

Antrag
der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Markus Kurth, Irmingard Schewe-Gerigk,
Birgitt Bender, Dr. Thea Dückert, Kai Gehring, Elisabeth Scharfenberg,
Dr. Harald Terpe und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gleiche Bezahlung, gleiche Behandlung und Mindestlohn für
Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Seit der Reform der Arbeitnehmerüberlassung im Jahr 2003 hat in Deutschland
die Beschäftigung in der Leiharbeitsbranche deutlich zugenommen. Dadurch
wurden auch neue Chancen für den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt für vor-
mals nicht erwerbstätige Personen und Langzeitarbeitslose geschaffen. Gleich-
zeitig sind seit der Reform jedoch vermehrt Fälle von Missbrauch der Arbeitneh-
merüberlassung zur gezielten Absenkung von Löhnen, zur Verschlechterung
von Arbeitsbedingungen und zur Substitution von Stammbelegschaften durch
Leiharbeitnehmer bekannt geworden.

Ungeachtet der zahlreichen Hinweise auf Lohndrückerei, tariflichen Unter-
bietungswettkampf zulasten von Löhnen und den Abbau von regulärer Beschäf-
tigung zugunsten von Zeitarbeit bleibt die Bundesregierung untätig. Eine
Mindestlohnlösung für die Zeitarbeitsbranche wird von den rot-schwarzen
Koalitionspartnern verschleppt und hat kaum mehr Aussicht auf Umsetzung.
Initiativen, um den geltenden Gleichbehandlungsgrundsatz in der Arbeitnehmer-
überlassung durchzusetzen, sind von der Bundesregierung ebenso wenig zu er-
warten.

Die Attraktivität des Einsatzes von Zeitarbeitarbeitnehmerinnen und -arbeitneh-
mern für Unternehmen speist sich aus ihrer hohen Flexibilität insbesondere bei
der kurzfristigen Bewältigung von Auftragsspitzen. Hinzu kommen Vorteile bei
der Personalsuche, beim Kündigungsschutz sowie geringere Personalkosten im
engeren Sinne und in der Unternehmensbilanz. Dieser Vorteil soll Zeitarbeit
auch weiterhin attraktiv machen. Ökonomische Anreize, Zeitarbeit als Lohn-
dumping- und Substitutionsinstrument einzusetzen, müssen jedoch konsequent
beseitigt werden. Um dieses Ziel zu erreichen braucht es unter anderem einen
Mindestlohn für die Zeitarbeit und die Geltung des Gleichbehandlungsgrund-
satzes ab dem ersten Tag.
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

dafür Sorge zu tragen, dass die Zeitarbeit wieder auf ihre Funktion als Abfede-
rungsinstrument für Auftragsspitzen konzentriert wird. Hierfür ist es notwendig,
Lohndumping in Zukunft auszuschließen, die Substitution von Stammbeleg-
schaften zu verhindern und den Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmern die

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Arbeitsbedingungen zu sichern, die gerade sie aufgrund des erhöhten Risikos
und der besonderen Flexibilitätsanforderungen verdienen. Dafür ist es erforder-
lich,

1. das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) mit dem Ziel zu ändern, wäh-
rend der Verleihzeiten den Gleichbehandlungsgrundsatz für alle Leiharbeit-
nehmerinnen und -arbeitnehmer ab dem ersten Tag gelten zu lassen. Damit
werden den Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmern unmittelbar das
gleiche Entgelt und die gleichen Arbeitsbedingungen wie vergleichbaren
Arbeitnehmern im Entleihbetrieb gesichert;

2. wie in Frankreich üblich Prämien für Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitneh-
mer gesetzlich zu verankern, um die erhöhten Flexibilitätsanforderungen und
das erhöhte Risiko der Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer im Ver-
gleich zur Stammbelegschaft zusätzlich durch eine Entlohnungskomponente
auszugleichen;

3. die Zeitarbeit als Branche in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufzunehmen
und durch die Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags zwischen
Deutschem Gewerkschaftsbund (DGB) und Bundesverband Zeitarbeit (BZA)
bzw. Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen e. V. (iGZ) einen
Mindestlohn für entleihfreie Zeiten festzulegen;

4. die Empfehlungen der Expertenkommission Finanzierung Lebenslanges Ler-
nen von 2004 umzusetzen und die Tarifpartner in der Zeitarbeit dazu anzure-
gen, einen Branchenfonds einzurichten, der für Leiharbeitnehmer in entleih-
freien Zeiten die Teilnahme an Qualifizierung und Weiterbildung ermöglicht
und zur Regel macht;

5. Maßnahmen zur Verhinderung der Substitution von Stammarbeitnehmer
durch Leiharbeitnehmer zu treffen und insbesondere eine Genehmigungs-
pflicht für die konzerninterne Arbeitnehmerüberlassung einzuführen sowie
Arbeitnehmerüberlassung durch Änderungen in den §§ 9 und 10 AÜG für
unwirksam zu erklären, wenn Stammbelegschaften durch Leiharbeitnehme-
rinnen und -arbeitnehmer ersetzt werden.

Berlin, den 25. März 2009

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Begründung
Mit dem Ersten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt wurden
Befristungsverbot, Synchronisationsverbot und Überlassungshöchstdauer durch
das Prinzip der Gleichbehandlung von Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitneh-
mern und Stammbelegschaft abgelöst. Waren Lohnunterschiede zwischen
Stammpersonal und Leiharbeitnehmern in einem Betrieb vor 2003 ausdrücklich
erlaubt und entsprechend die Regel, so konnte nach 2003 nur noch auf Grund-
lage eines Tarifvertrages vom Gleichbehandlungsgrundsatz abgewichen werden
(bzw. wegen unmittelbar davorliegendem Arbeitslosengeldbezug).

Als Ergebnis der Neuregelung haben sich Ausnahme und Regel jedoch verkehrt.
Der Tarifvorbehalt im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) und die dazu-
gehörige Bezugnahmeklausel wurden umfassend genutzt, um schlechtere Ar-
beitsbedingungen als die der Stammbelegschaften für Leiharbeitnehmerinnen
und -arbeitnehmer zur Anwendung zu bringen. Die Folge davon ist, dass der

Lohnabstand zwischen Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmern nach Exper-
tenschätzungen heute mindestens genau so groß ist wie vor 2003.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/12435

Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Zeitarbeit waren im Auf-
schwung der Jahre 2006 bis 2008 eine wichtige Flexibilitätsreserve der deut-
schen Wirtschaft. Jetzt werden sie besonders hart von der Finanzmarkt- und
Konjunkturkrise getroffen. Sie waren die ersten, die von den Unternehmen nach
Hause geschickt wurden. Die durch den Tarifvorbehalt ausgelöste Abwärts-
spirale der Löhne führt zu einer einseitigen und nicht hinnehmbaren Benach-
teiligung von Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmern, die neben einem er-
höhten Arbeitsplatzrisiko häufig auch noch Dumpinglöhne hinnehmen müssen.
Entsprechend hoch ist der Anteil der Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer
an denjenigen, die ihr Einkommen mit ergänzendem Arbeitslosengeld II auf-
stocken müssen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können.

Die Haus- und Flächentarifverträge, die der Christliche Gewerkschaftsbund mit
der Bundesvereinigung Deutscher Dienstleistungsunternehmen (BVD) und ein-
zelnen Zeitarbeitsfirmen abgeschlossen hat, haben mit Stundenlöhnen von unter
5 Euro pro Stunde für ein unverantwortliches Lohndumping in der Zeitarbeit
gesorgt und die Tarifabschlüsse des DGB mit dem iGZ und dem BZA unter-
laufen und unter massiven Druck gesetzt. Schon allein deshalb dürfen die Tarif-
abschlüsse des Christlichen Gewerkschaftsbundes nicht zum Maßstab für die
Festsetzung von Mindestentgelten in der Zeitarbeit werden. Dies wäre überdies
problematisch, weil die Tariffähigkeit der Tarifgemeinschaft Christlicher Ge-
werkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen (CGZP) angesichts
mangelnder Mitglieder und mangelnder Sozialmächtigkeit ernsthaft bezweifelt
wird und der gerichtlichen Klärung harrt. Vorschläge der Fraktion der CDU/
CSU, Mindestentgelte unter Bezugnahme auch auf die Tarifverträge der christ-
lichen Gewerkschaften im AÜG festzuschreiben, sind deshalb abzulehnen.

Der Tarifvorbehalt hat auch zur Substitution von Stammbelegschaften durch
Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer geführt. Unter anderem in Kranken-
häusern, in Zeitungsredaktionen, im Druck- und Verlagswesen und auch im
Handel sind Stammbelegschaften dauerhaft durch Leiharbeiter ersetzt worden.
Oftmals wurde durch die Gründung von eigenen Leiharbeitsfirmen in bestimm-
ten Unternehmen und Konzernen das Ziel verfolgt, das Tarifniveau der einschlä-
gigen Branchentarifverträge auf Dauer zu umgehen. Daraus resultieren nicht nur
schlechte Arbeitsbedingungen für die Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitneh-
mer, sondern auch ein massiver Druck auf die Stammbelegschaften, die dadurch
berechtigterweise ihre Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen als akut gefährdet
ansehen.

Um diese unerwünschten Entwicklungen zu stoppen, ist es erforderlich, dem
Gleichbehandlungsgrundsatz uneingeschränkt Geltung zu verschaffen. Neben
der Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes sollen zusätzlich mit Prämien für
die Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer deren erhöhtes Arbeitsmarkt-
risiko und ihre erhöhte Flexibilität kompensiert werden. Durch Aufnahme der
Zeitarbeitsbranche in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz muss zudem ein Min-
destlohn für entleihfreie Zeiten auf Grundlage des Tarifvertrags zwischen DGB
und BZA sowie iGZ festgeschrieben werden. Die Tarifpartner in der Zeitarbeits-
branche müssen außerdem die Empfehlungen der Expertenkommission Finan-
zierung Lebenslanges Lernen von 2004 umsetzen und einen Branchenfonds zur
Finanzierung von Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen während
entleihfreier Zeiten einrichten. Frankreich kann hier Vorbild sein. Dort werden
von den Zeitarbeitsfirmen 2 Prozent der Gesamtlohnsumme in einen Weiter-
bildungsfonds eingebracht.

Die Attraktivität der Zeitarbeit für entleihende Unternehmen darf in Zukunft
nicht mehr in erster Linie aus dem tieferen Lohnniveau der Zeitarbeit resultie-
ren. Tatsächlich bietet die Zeitarbeit für die Unternehmen andere, mindestens

ebenso wichtige Flexibilitätsvorteile. Dazu zählen vor allem die kurzfristige
Verfügbarkeit bei Auftragsspitzen, der Wegfall von Suchaufwand für Personal,

Drucksache 16/12435 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
die Vermeidung des Kündigungsschutzes, geringere Personalkosten im engeren
Sinne (z. B. keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall) sowie ein geringeres Per-
sonalbudget in der Bilanz (Leiharbeit taucht in der Bilanz in der Regel als Sach-
aufwand auf). Insofern gilt auch umgekehrt: Die Zeitarbeit muss nicht auf Lohn-
dumping und Substitutionsprozesse bauen, um als Brücke aus Arbeitslosigkeit
in reguläre Beschäftigung zu funktionieren.

Dass Zeitarbeit nicht auf niedrige Lohnniveaus angewiesen ist, um für Unter-
nehmen als Flexibilitätsreserve und für Arbeitnehmer als mögliche Brücken-
funktion attraktiv zu sein, zeigt ein Blick ins Ausland. In Frankreich war der An-
teil der Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer an allen Erwerbstätigen mit
2,4 Prozent im Jahr 2006 fast doppelt so hoch wie in Deutschland (1,3 Prozent),
trotz uneingeschränkter Geltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes, Weiterbil-
dungsfonds und 10-prozentiger Prämie für Leiharbeitnehmerinnen und -arbeit-
nehmer.

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