BT-Drucksache 16/12375

Entwurf eines ... Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips)

Vom 20. März 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/12375
16. Wahlperiode 20. 03. 2009

Gesetzentwurf
der Abgeordneten Wolfgang Neskovic, Sevim Dag˘delen, Ulla Jelpke, Jan Korte,
Kersten Naumann, Petra Pau und der Fraktion DIE LINKE.

Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
(Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips)

A. Problem

Das Staatsstrukturprinzip des Sozialstaats ist im Grundgesetz (GG) nur unzurei-
chend konkretisiert.

Das Grundgesetz enthält das Bekenntnis zum „soziale(n) Bundesstaat“ als unab-
änderliches Grundprinzip (Artikel 20 Absatz 1 GG in Verbindung mit Artikel 79
Absatz 3 GG). Die verfassungsmäßige Ordnung in den Bundesländern muss den
Grundsätzen des „sozialen Rechtsstaates“ im Sinne des Grundgesetzes entspre-
chen (Artikel 28 Absatz 1 GG).

Das schlichte Attribut „sozial“ in Artikel 20 Absatz 1 (und Artikel 28 Absatz 1)
GG vermag den hohen Bedeutungsgehalt dieses Verfassungsprinzips jedoch
nicht in der gebotenen Klarheit im Grundgesetz herauszustellen.

Zwar hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) wichtige Kerninhalte der
bundesdeutschen Sozialstaatlichkeit in gefestigter Rechtsprechung ausgeformt.
Einen hinreichend deutlichen und unmissverständlichen Verfassungstext – als
Eigenwert – vermag diese Rechtsprechung jedoch nicht zu ersetzen. Zudem ist
der vom Bundesverfassungsgericht anzuerkennende politische Entscheidungs-
spielraum des Gesetzgebers zur Umsetzung des Sozialstaatsprinzips seit der
Entstehung des Grundgesetzes sehr verschieden genutzt worden. Nur ein präzi-
ser Verfassungstext, mit dem für eine ausgeprägte Sozialstaatlichkeit Partei er-
griffen wird, vermag diesen Schwankungen im gesetzgeberischen Umgang mit
der Verfassung die nötigen Grenzen zu setzen.

Auch auf das demokratische Gemeinwesen wirkt sich die unzureichende kon-
krete Benennung der Mindestinhalte des Sozialstaatsprinzips im Grundgesetz
negativ aus. Sie begünstigt eine Gesetzgebung, die sich zunehmend von der we-
sentlichen Aufgabe des Staates entfernt: für soziale Gerechtigkeit und sozialen
Frieden zu sorgen. Sparmaßnahmen zu Lasten sozialer Gerechtigkeit und der

Abbau sozialer Sicherung, die im Widerspruch zu den vom Bundesverfassungs-
gericht herausgearbeiteten Inhalte der sozialstaatlichen Ordnung des Grundge-
setzes stehen, lassen die notwendige Einsicht des Gesetzgebers in diese Pflich-
ten vermissen.

Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet nach der Rechtsprechung des Bundesver-
fassungsgerichts den Staat zur Herstellung einer gerechten Sozialordnung.
Schon dies ist aus dem Wortlaut des Grundgesetzes nicht ersichtlich.

Drucksache 16/12375 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Ohne Konkretisierung im Wortlaut des Grundgesetzes verliert der Sozialstaat
seine umfassende verfassungsrechtliche Wirkungsmacht. Die vielgestaltige
Auseinandersetzung in der Gesellschaft und das Ringen um Einfluss auf die
Steuerung staatlicher und gesellschaftlicher Prozesse zur Verwirklichung der
sozialen Demokratie benötigen eine sichere Kenntnis der Grundprinzipien die-
ses Gemeinwesens. Ein Verfassungsinhalt, der der Bevölkerung verborgen
bleibt, ist für die zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung nicht effektiv nutz-
bar. Auch die vom Bundesverfassungsgericht herausgearbeitete Interpretation
des Sozialstaatsprinzips und die Erkenntnisse über dessen Zusammenwirken
mit den Grundrechten sowie anderen Grundprinzipien des Grundgesetzes ma-
chen – wegen der Fülle und der Kompliziertheit der Entscheidungstexte – einen
eindeutig formulierten Verfassungstext nicht entbehrlich.

B. Lösung

Um der überragenden Bedeutung des Sozialstaatsprinzips für das Gemeinwesen
gerecht zu werden, wird dessen wesentlicher Inhalt im Grundgesetz konkreti-
siert.

Die Bedeutung des Sozialstaatsprinzips wird durch eine inhaltliche Konkretisie-
rung in der Präambel und in den Artikeln 3, 15, 19, 20b, 20c und 109 GG her-
vorgehoben. Dies verdeutlicht nicht nur dem Gesetzgeber, der vollziehenden
Gewalt und der Rechtsprechung (vgl. Artikel 20 Absatz 3 GG), sondern auch
der Bevölkerung die sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes. Die Konkre-
tisierungen lassen aufgrund der offenen Formulierung (vorrangig im eingefüg-
ten Artikel 3 Absatz 4 sowie in den eingefügten Artikeln 20b und 109 Absatz 2
GG) eine weitergehende Interpretation des Sozialstaatsprinzips im Einklang mit
Artikel 79 Absatz 3 GG zu, legen jedoch ausdrücklich Mindestinhalte sowie
weitere wesentliche Gehalte der sozialstaatlichen Ordnung fest. Damit wird die
notwendige Klarheit und Erkennbarkeit dieser Inhalte in einem dem Grund-
gesetz angemessenen Maß bestimmt, ohne den Verfassungstext zu überladen.
Die Konkretisierung ist orientiert an der bisherigen Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts, geht jedoch zum Teil darüber hinaus:

Die Präambel des Grundgesetzes wird um die übergeordneten Prinzipien der
Gerechtigkeit und Solidarität ergänzt.

In Artikel 3 Absatz 3 GG wird das Diskriminierungsmerkmal der „sozialen Stel-
lung“ eingefügt. Artikel 3 Absatz 4 GG konkretisiert die Pflicht des Sozialstaats
zur Förderung sozialer Gleichberechtigung und zum Hinwirken auf die Beseiti-
gung bestehender sozialer Nachteile.

Es wird ausdrücklich klargestellt, dass der Staat die Pflicht zur Herstellung einer
gerechten Sozialordnung, insbesondere zum Ausgleich sozialer Gegensätze, zur
Gewährleistung sozialer Sicherheit und zur Absicherung der allgemeinen Le-
bensrisiken hat (Artikel 20b GG). Bei der Gestaltung der Haushaltswirtschaft
hat er den Vorgaben einer gerechten Sozialordnung und einer ausreichenden
Finanzierung von Maßnahmen der sozialen Sicherheit nachhaltig Rechnung zu
tragen (Artikel 109 Absatz 2 GG).

Die Verpflichtung des sozialen Rechtsstaats, einen sozial gerechten Zugang zum
gerichtlichen und außergerichtlichen Rechtsschutz sowie ein sozial gerechtes
Verfahrensrecht zu gewährleisten, findet in Artikel 19 Absatz 5 GG Ausdruck.

Das Grundgesetz wird um Grundsätze erweitert, die die Schranken, Vorausset-
zungen und Verfahren für Privatisierungen regeln, um den durch diese bedingten
verheerenden sozialstaatlichen Folgen wirksam entgegenzutreten. Die Neurege-

lungen verpflichten außerdem in bestimmten Fällen zur (Rück)überführung pri-
vater Unternehmen in die öffentliche Hand.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/12375

C. Alternativen

Keine

D. Kosten

Eine genaue Bestimmung der entstehenden Kosten ist nicht möglich.

Da es sich lediglich um eine Konkretisierung des bereits im Grundgesetz veran-
kerten Grundprinzips des Sozialstaats handelt, ist grundsätzlich nicht mit kon-
kreten Kostenauswirkungen zu rechnen.

Da nur das Ziel, nicht jedoch der Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit und zur
Gewährleistung sozialer Sicherheit festgelegt werden kann und soll, ist eine be-
lastbare Bewertung der Kosten nicht möglich. Der Sozialstaat kostet der öffent-
lichen Hand nicht nur Geld, sondern wirkt sich immer zugleich positiv auf die
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Staates und der Wirtschaft aus.

rechtes Verfahrensrecht gewährleistet.“ (4) Gesetze auf Grund der Absätze 1 bis 3 bedürfen
der Zustimmung des Bundesrates. Seiner Zustim-
5. Folgender Artikel 20b wird eingefügt:

„Artikel 20b

Der Sozialstaat ist zur Herstellung und Erhaltung einer

mung bedürfen ferner Gesetze, die die Auflösung, die
Verschmelzung oder die Aufspaltung von Eisenbahn-
unternehmen des Bundes oder die Stilllegung von
Schienenwegen der Eisenbahnen des Bundes regeln
Drucksache 16/12375 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
(Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips)

Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das
folgende Gesetz beschlossen; Artikel 79 Absatz 2 des
Grundgesetzes ist eingehalten:

Artikel 1

Änderung und Ergänzung des Grundgesetzes

Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
vom 23. Mai 1949 (BGBl. I S. 1) in der im Bundesgesetz-
blatt Teil III, Gliederungsnummer 100-1, veröffentlichten
bereinigten Fassung, zuletzt geändert durch …, wird wie
folgt geändert:

1. In Satz 1 der Präambel werden nach dem Wort „Frieden“
ein Komma und anschließend die Wörter „der Gerechtig-
keit und der Solidarität in“ eingefügt.

2. Artikel 3 wird wie folgt geändert:

a) In Absatz 3 werden nach dem Wort „Herkunft“ ein
Komma und die Wörter „seiner sozialen Stellung“
eingefügt.

b) Folgender Absatz 4 wird angefügt:

„(4) Der Sozialstaat fördert die tatsächliche Durch-
setzung sozialer Gleichberechtigung und wirkt auf die
Beseitigung bestehender sozialer Nachteile hin.“

3. Artikel 15 wird wie folgt geändert:

a) Der bisherige Wortlaut wird Absatz 1.

b) In Absatz 1 werden nach dem Wort „Naturschätze“
ein Komma und die Wörter „Banken, Versicherungs-
unternehmen“ eingefügt.

c) Folgender Absatz 2 wird angefügt:

„(2) Einrichtungen und Unternehmen, die für die
Allgemeinheit wichtige öffentliche Dienste erbringen
oder die Nutzung von Energiequellen oder Wasser
betreffen (Daseinsvorsorgeeinrichtungen), sind durch
ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung
und das nähere Verfahren regelt, in Gemeineigentum
oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft zu über-
führen. Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Ab-
satz 3 Satz 3 und 4 entsprechend.“

4. In Artikel 19 wird folgender Absatz 5 angefügt:

„(5) Allen Menschen wird ein sozial gerechter Zugang
zu gerichtlichem und außergerichtlichem Rechtsschutz
und eine effektive Rechtsverfolgung durch ein sozial ge-

zum Ausgleich der sozialen Gegensätze verpflichtet. Ihm
obliegt es, allgemeine Lebensrisiken für Einzelne und für
Gruppen der Gesellschaft abzusichern.“

6. Folgender Artikel 20c wird eingefügt:

„Artikel 20c

(1) Die Privatisierung von Aufgaben und Eigentum im
Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge und anderer
staatlicher Kernaufgaben ist unzulässig.

(2) Die Privatisierung anderer öffentlicher Aufgaben
oder anderen Eigentums der öffentlichen Hand darf nur
dann mit Zustimmung der zuständigen gewählten Volks-
vertretung des Bundes oder der Länder durch Gesetz oder
der kommunalen Gebietskörperschaft durch Beschluss
erfolgen, wenn sie dem Wohl der Allgemeinheit dient.
Die Bindung der Privaten an Gemeinwohlinteressen und
die demokratische Kontrolle sind im Falle der Aufgaben-
privatisierung sicherzustellen.“

7. In Artikel 73 Absatz 1 Nummer 6a werden die Wörter
„ganz oder mehrheitlich“ gestrichen.

8. Artikel 74 Absatz 1 wird wie folgt geändert:

a) In Nummer 15 werden nach dem Wort „Naturschät-
zen“ ein Komma und die Wörter „Banken und Ver-
sicherungsunternehmen“ eingefügt.

b) Nach Nummer 15 wird folgende Nummer 15a ein-
gefügt:

„15a. die Überführung von Daseinsvorsorgeeinrich-
tungen in Gemeineigentum oder in andere For-
men der Gemeinwirtschaft;“.

9. Artikel 87e wird wie folgt geändert:

a) Absatz 3 wird aufgehoben.

b) Die bisherigen Absätze 4 und 5 werden die neuen Ab-
sätze 3 und 4 und wie folgt gefasst:

„(3) Soweit Eisenbahnen des Bundes noch als Wirt-
schaftsunternehmen in privatrechtlicher Organisa-
tionsform geführt werden, gewährleistet der Bund,
dass dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den
Verkehrsbedürfnissen, der demokratischen Kontrolle
und Einflussnahme sowie sozial gerechten Nutzungs-
bedingungen, Rechnung getragen wird. Das Nähere
wird durch ein Bundesgesetz geregelt.
gerechten Sozialordnung, insbesondere zur Armutsbe-
kämpfung, zur Gewährleistung sozialer Sicherheit und

oder Auswirkungen auf den Schienenpersonennah-
verkehr haben.“

Deutscher Bundestag – 16. ucksache 16/12375
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion
Wahlperiode – 5 – Dr

10. Artikel 87f wird wie folgt geändert:

a) In Absatz 1 werden folgende Sätze angefügt:

„Die demokratische Kontrolle und Einflussnahme
und die sozial gerechten Nutzungsbedingungen hin-
sichtlich der Dienstleistungen sind jederzeit zu ge-
währleisten. Artikel 15 Absatz 2 bleibt unberührt.“

b) Absatz 2 Satz 1 wird gestrichen.

c) In Absatz 3 werden die Wörter „Satz 2“ und „einzel-
ne“ gestrichen.

11. Artikel 109 Absatz 2 wird wie folgt gefasst:

„(2) Bund und Länder haben bei ihrer Haushaltswirt-
schaft einer gerechten Sozialordnung, der ausreichen-
den Finanzierung von Maßnahmen sozialer Sicherheit
und den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts nachhaltig Rechnung zu tragen.“

12. Artikel 143a wird aufgehoben.

13. Artikel 143b wird aufgehoben.

Artikel 2

Inkrafttreten

Dieses Gesetz tritt am Tage nach der Verkündung in Kraft.

Berlin, den 19. März 2009

„berührt“ werden (sog. Ewigkeitsklausel). Grundgesetz
Durch auch für die Bevölkerung klare und unmissverständ-
liche Regelungen wird der soziale, demokratische Rechtsstaat
gestärkt. Das Grundgesetz wird so ergänzt, dass es Inhalte

Allen voran die Menschenwürde (Artikel 1 GG), der Gleich-
heitssatz (Artikel 3 GG), die Verfassungsaufträge und -ver-
pflichtungen (Artikel 6 Absatz 2, 4 und 5 GG), die Koali-
Drucksache 16/12375 – 6 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Begründung

A. Allgemeines

I. Überblick

Entgegen der Annahme des Parlamentarischen Rates in den
Jahren 1948/1949 ist das Grundgesetz als „Provisorium“ bis-
her nicht von einer die Lebens- und Sozialordnung ausfüh-
renden Verfassung abgelöst worden. Die Konkretisierung
des Sozialstaatsprinzips allein kann diesen Mangel nicht be-
heben. So bleibt eine von der Bevölkerung frei beschlossene
Verfassung weiterhin notwendig (vgl. Artikel 146 GG). Die
umfassende Ausgestaltung der Lebens- und Wirtschaftsord-
nung soll einer solchen vorbehalten bleiben. Die vorliegende
Grundgesetzänderung beschränkt sich demgegenüber dar-
auf, das Sozialstaatsgebot in wenigen zentralen Inhalten im
Grundgesetz zu konkretisieren.

Eine unbegrenzte und ungesteuerte Wirtschaft gefährdet den
sozialen Frieden und die Gerechtigkeitsvorstellungen im Zu-
sammenleben der Menschen. Das sogenannte freie Spiel der
Kräfte am Markt kann die elementaren Lebensbedürfnisse
der Menschen nicht befriedigen. Aufgrund dieser Erkennt-
nisse nahmen die Mütter und Väter des Grundgesetzes den
Sozialstaat als ein wesentliches Grundprinzip in das Grund-
gesetz auf. Dabei verzichteten sie weitgehend auf eine in-
haltliche Konkretisierung. Die seit dem Inkrafttreten des
Grundgesetzes erfolgten gesellschaftlichen Veränderungen
haben das bereits anfänglich vorhandene Spannungsverhält-
nis zwischen Grundgesetz und Wirklichkeit weiter vertieft.
Es ist davon geprägt, dass die immer bedeutsamer werdende
sozialstaatliche Verpflichtung angesichts sich verstetigender
sozialer Ungerechtigkeit in der Marktwirtschaft keinen hin-
reichend deutlichen Ausdruck im Grundgesetz findet. Dies
muss im Sinne der prinzipiellen Verpflichtung des Staates
zugunsten der menschlichen Würde, der sozialen Gleichbe-
rechtigung und einer gerechten Sozialordnung durch eine
Konkretisierung des Sozialstaats im Grundgesetz aufgelöst
werden. Die offenbar gewordenen Lücken, die auch im Zuge
der Verfassungsreform 1993/1994 nicht geschlossen worden
sind, sind zu beseitigen. Die integrierende Wirkung des
Grundgesetzes wird so verstärkt.

Aufgrund der mangelnden konkretisierenden Ausgestaltung
ist der hohe Wert des Sozialstaatsprinzips nicht hinreichend
deutlich erkennbar. Obwohl es nur in adjektivischer Form als
„sozialer Bundesstaat“ (vgl. Artikel 20 Absatz 1 GG) bzw.
als „sozialer Rechtsstaat“ (vgl. Artikel 28 Absatz 1 Satz 1
GG) Eingang in das Grundgesetz gefunden hat, gehört das
Sozialstaatsprinzip zu den tragenden, in Artikel 20 GG nie-
dergelegten Grundsätzen des staatlichen Gemeinwesens. Die
Bedeutung und der Stellenwert dieses Prinzips spiegeln sich
in Artikel 79 Absatz 3 GG wider. Danach darf das Sozial-
staatsprinzip durch eine Änderung des Grundgesetzes nicht

auch der Bevölkerung ausreichende Grundlage für deren de-
mokratische Einflussnahme. Die Wirkungsmacht des Sozial-
staatsprinzips hängt in großem Maße vom öffentlichen
Bewusstsein des fixierten rechtlichen Grundsatzes ab. Je
stärker dies ist, desto mehr kann die erforderliche Rechtfer-
tigung politischen, gesetzgeberischen Handelns durch demo-
kratische Kontrolle eingefordert werden.

II. Einzelaspekte

1. Zur Funktion und Bedeutung der Konkretisierung
des Sozialstaatsprinzips im Grundgesetz

Das staatliche Gemeinwesen wird in hohem Maße von seiner
Verfassung bestimmt. Von ihr hängt wesentlich ab, ob huma-
ne Werte, wie die Unantastbarkeit der Menschenwürde, Frei-
heit, Gerechtigkeit und Solidarität, als Grundideen des Zu-
sammenlebens umfassend verwirklicht werden können.

Die Funktion der Verfassung gebietet es daher, in Ausfor-
mung des Sozialstaatsprinzips klare Aussagen in das Grund-
gesetz aufzunehmen, welche den Staat hinsichtlich seiner
Aufgaben und Ziele binden. Nach dem Willen des Grundge-
setzes dient der Staat der größtmöglichen freien Entfaltung
der Persönlichkeit und der Achtung der unantastbaren Men-
schenwürde in der sozialen und rechtsstaatlichen Demokra-
tie. Wenn die Interessen und Bedürfnisse der Menschen sich
im Grundgesetz wiederfinden, erhöht dies dessen Akzep-
tanz. Dem dient eine Konkretisierung des Sozialstaatsprin-
zips im Hinblick auf die darin liegenden grundsätzlichen
Festlegungen.

Je deutlicher die sozialstaatlichen Zielvorgaben und Struk-
turprinzipien im Wortlaut des Grundgesetzes zum Ausdruck
kommen, desto präsenter sind sie insbesondere auch dem
Gesetzgeber. Auch hierdurch wird deren Wirkungsmacht ge-
stärkt.

Eine konkretisierende Ausführung der Rechtssätze, die den
Inhalt des Sozialstaatsprinzips bilden, widerspricht nicht der
gebotenen Zurückhaltung hinsichtlich der Detailliertheit des
Grundgesetzes. Vielmehr ergibt sich gerade aus dem Rechts-
staatsgebot ein angemessenes Konkretisierungserfordernis.
Eine präzis formulierte und bestimmte Verfassungsnorm
kann so erfolgreicher in der gesellschaftlichen Praxis umge-
setzt werden.

Der Weg zu einer gerechten Sozialordnung und einem men-
schenwürdigen Dasein für alle Menschen ist in einem de-
mokratischen, pluralistischen Gemeinwesen der Auseinan-
dersetzung der verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte
überlassen. Eine Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips
fördert diese demokratische Auseinandersetzung.

2. Ausformung des Sozialstaats im geltenden
des Sozialstaats selbst konkretisiert. Dies stärkt nicht nur Ge-
setzgebung, Rechtsprechung und Exekutive, sondern bietet

tionsfreiheit (Artikel 9 GG), die Sozialbindung des
Eigentums (Artikel 14 GG) und die Möglichkeit der Enteig-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/12375

nung und Vergesellschaftung (Artikel 14 Absatz 3 und
Artikel 15 GG) bilden wesentliche Inhalte der sozialstaat-
lichen Ordnung des Grundgesetzes. Neben dem Sozialstaats-
prinzip in den Artikeln 20 und 28 GG erwähnt das Grund-
gesetz soziale Aufgaben und Institutionen auch in den
Kompetenznormen (Artikel 73 ff. GG), beim Verwaltungs-
aufbau (Artikel 83 ff. GG) und ferner in den Regelungen
über die Verteilung der Kriegsfolgelasten. In engem Zusam-
menhang mit der sozialstaatlichen Ordnung ist auch die Ver-
pflichtung des Staates auf das „wirtschaftliche Wachstum“
(Artikel 104b Absatz 1 GG) und das „gesamtwirtschaftliche
Gleichgewicht“ (Artikel 109 Absatz 2 GG) zu sehen.

3. Folgen der mangelnden Konkretisierung des Sozial-
staats im Grundgesetz

Obwohl das Grundgesetz das Bekenntnis zum Sozialstaat
enthält, wird dieses oberste Grundprinzip durch den Staat,
vor allem den Gesetzgeber, nicht entsprechend seiner über-
ragenden Bedeutung berücksichtigt. Die gegenwärtige Ge-
setzgebung verteilt Armut zwischen den Armen und Ärme-
ren, anstatt den Wohlstand aller zu fördern.

Die hierdurch herbeigeführte Krise des Sozialstaats stellt
nicht nur ein faktisches soziales, sondern auch ein verfas-
sungsrechtliches Problem dar. Soziale Sicherungssysteme
werden auf ein unerträgliches Maß zurückgestutzt und das
menschliche Bedürfnis nach sozialer Sicherheit dem Markt
überantwortet, der nicht sozial, sondern gewinnorientiert
handelt. Die Folge ist, dass sich ein nur kleiner Teil der Ge-
sellschaft die soziale Sicherheit – als ein Grundbedürfnis
aller Menschen in der Gesellschaft – noch leisten kann. Im-
mer mehr Menschen aber werden durch die Wirtschafts- und
Sozialordnung derzeit daran gehindert, ein menschenwürdi-
ges Dasein zu führen. Der Gesetzgeber entfernt sich von sei-
nem verfassungsrechtlichen Auftrag und dem Strukturprin-
zip sozialstaatlichen Handelns in zunehmendem Maße unter
Verweis auf seinen weiten politischen Gestaltungsspielraum.
Er kommt so seiner Verantwortung für die Gestaltung der
Wirtschafts- und Sozialordnung im Sinne sozialer Gerech-
tigkeit nicht nach.

Durch eine Stärkung und Präzisierung des sozialstaatlichen
Tatbestandes im Grundgesetz kann zugleich mittelbar der
vermehrt anzutreffenden Tendenz des Staates zur Begren-
zung der Freiheitsrechte begegnet werden. Der Staat tendiert
vermehrt zu einer Feindseligkeit gegenüber sozialem Protest
und zur Einschränkung der Freiheitsrechte – neben oder gar
anstelle seiner eigentlich notwendigen und verfassungs-
rechtlich vorgeschriebenen sozialen Aktivität. Eine demo-
kratische Sozialordnung aber kann und wird den Umgang
mit dem von Freiheitsrechten flankierten berechtigten Auf-
begehren gegen sozial ungerechte Zustände immer durch ein
Mehr an sozialer Aktivität und nicht durch ein Weniger an
Freiheitsrechten auszugleichen suchen. Dies ist keine groß-
zügige Entscheidung des Staates unter mehreren verfas-
sungsrechtlich zulässigen Optionen, sondern dies ist ein
durch das Grundgesetz geforderter Prozess, dem die Grund-
rechte zu dienen bestimmt sind.

Ein dritter wichtiger Aspekt, der aus der mangelnden Kon-
kretisierung des Sozialstaatsprinzips folgt, ist die Schwä-
chung demokratischer Willensbildung. Die Bevölkerung, die

festgelegten Ziel des Sozialstaats führen soll, bedarf einer
möglichst umfassenden Kenntnis darüber, welche Ziele die
Gesetzgebung und alle staatliche Gewalt binden. Dieses not-
wendige Wissen vermittelt der gegenwärtige Wortlaut des
Grundgesetzes nicht.

4. Leitlinien des Entwurfs

Die Zurückhaltung des Parlamentarischen Rates in Bezug
auf die Konkretisierung der Sozialstaatlichkeit in der dama-
ligen, als provisorisch empfundenen Situation, ist kein Beleg
für die Richtigkeit einer Enthaltsamkeit des heutigen Grund-
gesetzgebers. Gegenteilig muss festgestellt werden, dass die
Inhalte des Sozialstaatsprinzips nach fast 60-jährigem Be-
stehen des Grundgesetzes darauf drängen, näher ausgestaltet
zu werden.

Die Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips orientiert sich
an der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
richts in seiner über 50-jährigen Auslegungspraxis herausge-
arbeiteten Interpretation des Sozialstaatsprinzips. Durch die
Präzisierung im Text werden die notwendige Offenheit des
Sozialstaatsprinzips und seine Zukunftsorientierung, die ei-
ne Verwirklichung des Sozialstaatsgebots fortschreitend auf
einem höheren und den gesellschaftlichen Verhältnissen ent-
sprechenden Niveau verspricht, nicht beeinträchtigt.

Die Ausformung des Sozialstaats beruht auf der Überlegung,
dass die Sozialverfassung mehr umfasst als Notvermei-
dungs- und sozialpolitische Tätigkeit in engen Grenzen. Der
Sozialstaat kann nicht auf einem Status quo verharren; er
muss sich seiner inneren Logik nach ausdehnen, sowohl
quantitativ als auch qualitativ, um dem Entwicklungsstand
der Gesellschaft entsprechende Entfaltungsmöglichkeiten
und ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen (vgl.
hierzu Klaus Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutsch-
land, Band I, München 1984, S. 892 f.). Dieser Idee folgend,
wird das Sozialstaatsprinzip im Grundgesetz durch Erweite-
rung um sozialstaatliche Aussagen maßvoll konkretisiert,
ohne es dabei zu stark textlich zu belasten.

Die Konkretisierung des Sozialstaats erfolgt in der Präam-
bel, in den Artikeln 3, 15, 19, 20b, 20c und 109 GG. Die we-
sentlichen Mindestinhalte werden aus der ständigen Recht-
sprechung des Bundesverfassungsgerichts entnommen und
vor allem in Artikel 20b GG niedergelegt. Die Konkreti-
sierung des Sozialstaatsprinzips im Wortlaut des Grundge-
setzes dient insoweit der Verstetigung der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts und ggf. der Neuorientie-
rung des Gesetzgebers.

Darüber hinaus wird der Aspekt des Ausgleichs sozialer
Nachteile, der sich als Optimierung von Freiheit und Gleich-
heit ebenfalls dieser Rechtsprechung entnehmen lässt, im
neuen Artikel 3 Absatz 4 GG ergänzt. Die Aussagen zur
Haushaltswirtschaft in Artikel 109 Absatz 2 GG folgen aus
grundsätzlichen Erwägungen in Bezug auf das Sozialstaats-
prinzip. Ergänzend wird in Artikel 3 Absatz 3 GG ein spe-
zielles Gleichbehandlungsgebot bzw. ein Diskriminierungs-
verbot in Bezug auf die „soziale Stellung“ eingefügt.

Schließlich werden Regelungen zur Privatisierung geschaf-
fen:

Privatisierung steht grundsätzlich in einem Spannungsver-

in demokratischen Wahlen entscheidet, welcher „Weg“ als
der geeignete zu dem im Grundgesetz als unveränderlich

hältnis zu Sozialstaats-, Demokratie- und Rechtsstaatsprin-
zip. Insbesondere Daseinsvorsorge und andere staatliche

Drucksache 16/12375 – 8 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Kernaufgaben dürfen deshalb nicht privatisiert werden.
Denn der Staat hat seine sich aus dem Grundgesetz und an-
deren Gesetzen ergebenden Aufgaben selbst zu erfüllen.
Hinsichtlich anderer öffentlicher Aufgaben bleibt eine Priva-
tisierungsentscheidung aber möglich. Sie richtet sich im Ein-
zelfall nach den Belangen des Gemeinwohls und darf nur mit
Zustimmung der gewählten Volksvertretung bzw. Gemein-
devertretung erfolgen. Das Gleiche gilt für die Privatisierung
des Eigentums der öffentlichen Hand. Daher wird Folgendes
geregelt:

● Im Bereich der Daseinsvorsorge und anderer staatlicher
Kernaufgaben ist eine Privatisierung von Eigentum und
von Aufgaben unzulässig (Artikel 20c Absatz 1 GG).
Durch ein ausdrückliches Privatisierungsverbot wird die
Eigenverantwortung des Staates für den Bereich der Auf-
gaben der öffentlichen Daseinsvorsorge und anderer
staatlicher Kernaufgaben in Artikel 20c Absatz 1 GG
herausgestellt.

● Jenseits dieses Bereiches ist die Privatisierung von öf-
fentlichen Aufgaben und von Eigentum der öffentlichen
Hand nur soweit zulässig, als dies dem Wohl der Allge-
meinheit dient (Artikel 20c Absatz 2 GG). Für diesen
Bereich wird ein Zustimmungsvorbehalt für Privatisie-
rungen in Artikel 20c Absatz 2 GG festgelegt. Die Priva-
tisierung im Bereich anderer öffentlicher Aufgaben wird
damit nach Artikel 20c Absatz 2 GG – im Einklang mit
der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungs-
gerichts – nicht generell ausgeschlossen. Wenn es dem
Gemeinwohl im Einzelfall dient, kann eine Privatisie-
rung solcher anderer öffentlicher Aufgaben mit Zustim-
mung der zuständigen gewählten Volksvertretung des
Bundes, der Länder oder der Gemeindevertretung erfol-
gen (Artikel 20c Absatz 2 GG). Die Bindung der Privaten
an Gemeinwohlinteressen ist bei der Privatisierung von
Aufgaben sicherzustellen; die demokratische Kontrolle
ist zu gewährleisten. Für die Privatisierung von Eigentum
der öffentlichen Hand außerhalb des Bereichs von
Artikel 20c Absatz 1 GG wird ebenfalls ein Zustim-
mungsvorbehalt der Volksvertretungen geregelt. Auch
hier ist die Privatisierung nur zulässig, soweit dies tat-
sächlich dem Wohl der Allgemeinheit dient (Artikel 20c
Absatz 2 GG).

Ergänzt wird das Privatisierungsverbot im Bereich der Da-
seinsvorsorge durch den neu eingefügten Artikel 15
Absatz 2 GG. Daseinsvorsorgeeinrichtungen sind danach in
Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft
zu überführen.

In Artikel 15 Absatz 1 GG (Artikel 15 GG der geltenden Fas-
sung), der die Möglichkeit der Sozialisierung regelt, werden
zusätzlich Banken und Versicherungsunternehmen als mög-
liche Gegenstände der Vergesellschaftung aufgenommen.

Die Änderung der Artikel 73, 74, 87e, 87f, 143a und 143b
GG ist eine Folgeänderung der Artikel 15, 20c GG. Die aus
Artikel 15 Absatz 2 GG folgende Verpflichtung zur Über-
führung in Gemeineigentum oder in andere Formen der Ge-
meinwirtschaft bestimmt das weitere Vorgehen im Bereich
der Bahn, Post und Telekommunikationsunternehmen. In
Artikel 87e GG wird der Grundsatz verfolgt, das Eigentum
den Eisenbahnen des Bundes dauerhaft im Eigentum des

Gesetzgebers – unter Wahrung der Gemeinwohlinteressen –
überlassen. Sofern eine Weiterführung in Form eines Wirt-
schaftsunternehmens danach favorisiert wird, sind die Ge-
währleistung der Verkehrsbedürfnisse und auch die demo-
kratische Kontrolle in der gewählten Organisationsform
sicherzustellen. Einfachgesetzliche Folgeänderungen der
Entscheidungen sind gesondert vorzunehmen. In Artikel 87f
GG wird die Möglichkeit des Gesetzgebers geregelt, die be-
reits zu großen Teilen bzw. vollständig vollzogene materielle
Privatisierung der Dienstleistungen der Post und Telekom-
munikation wieder rückgängig zu machen. Dies folgt aus
seiner Verpflichtung, Daseinsvorsorgeeinrichtungen in Ge-
meineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft zu
überführen. Die Einzelheiten solcher Entscheidungen müs-
sen durch Bundesgesetz geregelt werden.

Alle vorgesehenen Änderungen zur Konkretisierung des In-
halts des Sozialstaatsprinzips im Grundgesetz stehen im Ein-
klang mit den Vorgaben des Artikels 79 Absatz 3 GG. Denn
die Ausformung der das Sozialstaatsprinzip konkretisieren-
den Normen bedingt keinerlei systematische oder inhaltliche
Beschränkung des Sozialstaatsprinzips. Auch das Verhältnis
der Verfassungsgrundsätze untereinander wird durch die No-
vellierung nicht tangiert.

B. Einzelbegründung

I. Zu Artikel 1

1. Zur Präambel

Die Ergänzung der Präambel um die Worte „der Gerechtig-
keit und der Solidarität“ beruht auf der Einsicht, dass die Be-
lange und Interessen aller Menschen in der Welt eng zusam-
menhängen. Zur Herstellung und Wahrung des Friedens
bedarf es der Gerechtigkeit und des gegenseitigen Beistands
in der Gemeinschaft. Solidarität und Gerechtigkeit sind die
übergeordneten Prinzipien im menschlichen Dasein, die für
ein friedliches und glückliches Zusammenleben unerlässlich
sind.

Die Präambel als Bestandteil des Grundgesetzes und die da-
rin aufgenommene Verpflichtung zur Gerechtigkeit und So-
lidarität sind als objektiv-rechtliche Bestimmungen bindend.
Die Auslegung anderer Verfassungsvorschriften und einfa-
chen Rechts wird ebenfalls vom Inhalt der Präambel geprägt.

Das Gegenseitigkeitsverhältnis der obersten Prinzipien des
Zusammenlebens der Menschen wird durch die Erweiterung
der Präambel herausgestellt. Die enge Beziehung zwischen
den grundlegenden Prinzipien zeigt sich auch in der Aufzäh-
lung von Frieden und Gerechtigkeit in Artikel 1 Absatz 2
GG. Die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschen-
rechte bilden hiernach die Grundlage dieser vorrangigen
Ziele der menschlichen Gemeinschaft. Zugleich sind Solida-
rität und Gerechtigkeit Grundinhalte der sozialstaatlichen,
rechtsstaatlichen und demokratischen Ordnung. Eine verfas-
sungsrechtliche Stärkung des Solidaritätsgedankens ist ge-
boten, um nationalstaatlichem Egoismus und dessen Aus-
wirkungen (beispielsweise auf die ökologischen Grundlagen
der Menschheit) Grenzen zu ziehen. Die Feststellung ist ins-
besondere im internationalen und europäischen Kontext von
Bundes zu halten. Die Organisationsform der Eisenbahnen
des Bundes bleibt dabei aber weiterhin der Entscheidung des

Bedeutung. Der europäische Verfassungsprozess erfordert
ebenso wie das völkerrechtliche Wirken der Bundesrepublik

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 9 – Drucksache 16/12375

Deutschland auch hier ein Streben nach Verwirklichung von
Solidarität und Gerechtigkeit. Dieses Streben muss anstelle
der vorrangig ökonomischen Orientierung als Grundlage je-
der staatlichen Aktivität stehen.

Die Erweiterung der Präambel des Grundgesetzes greift zu-
gleich eine Initiative der Fraktion der SPD aus dem Jahre
1993 wieder auf (vgl. Bundestagsdrucksache 12/6323).

2. Zu Artikel 3

Zu Absatz 3

Artikel 3 Absatz 3 GG wird als (besonderer) Gleichheitssatz
um das Diskriminierungsverbot hinsichtlich des Merkmals
der „sozialen Stellung“ erweitert. Das spezielle Diskriminie-
rungsverbot begründet grundrechtliche Abwehrrechte und
enthält zugleich eine objektive Wertentscheidung mit Aus-
strahlungswirkung auf die gesamte Rechtsordnung. Es han-
delt sich hierbei um ein allgemeines Menschenrecht. Es be-
steht eine enge Beziehung zwischen sozialer Gerechtigkeit
und der Wahrung der unantastbaren Menschenwürde. Diese
erfordert eine besondere Beachtung des materiellen Gleich-
behandlungsgrundsatzes.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
wird der Begriff der „Herkunft“ in Artikel 3 Absatz 3 GG so
ausgelegt, dass dieser „die von den Vorfahren hergeleitete
soziale Verwurzelung, nicht die in den eigenen Lebens-
umständen begründete Zugehörigkeit zu einer bestimmten
sozialen Schicht meine“ (vgl. BVerfGE 9, 124, [129]). Die
Herkunft könne als soziale Abstammung lediglich einer der
Faktoren sein, welche die gegenwärtige Vermögens- und
Einkommenslage beeinflussen. Das Bundesverfassungs-
gericht legt den Begriff der sozialen Herkunft als
„ständisch-soziale Abstammung und Verwurzelung“ aus
(BVerfGE 48, 281, [287 f.]).

Das eingefügte Merkmal der „sozialen Stellung“ soll eine
vorhandene Lücke schließen. Nicht nur die Herkunft, son-
dern auch die „in den eigenen Lebensumständen begründete
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht“ bildet
einen Anknüpfungspunkt für diskriminierendes Verhalten.
Die soziale Stellung ist zugleich eine gesellschaftliche Zu-
schreibung und eine Lebensrealität, die Diskriminierung in
Form von Benachteiligung nach sich zieht. Die Zuordnung
zu einer bestimmten Schicht resultiert aus verschiedenen
Faktoren wie beispielsweise dem Beruf, der beruflichen
Stellung, der Verankerung in Institutionen oder Vereinigun-
gen, dem Vermögen oder der Bildung. Die familiäre Her-
kunft (soziale Herkunft) kann ebenfalls als ein Faktor die so-
ziale Stellung mitbestimmen. Die soziale Stellung wird nicht
allein von den Einkommensverhältnissen beeinflusst. Diese
stellen jedoch einen wesentlichen Faktor dar. Die soziale
Stellung kann je nach den Umständen auch eine Bevorzu-
gung nach sich ziehen. Daher werden beide Alternativen er-
fasst.

Es kann für die Beurteilung der Verwerflichkeit einer Be-
nachteilung – im Sinne einer diskriminierenden Wirkung –
keinen Unterschied machen, ob sie auf der sozialen Herkunft
und damit auf der sozialen Stellung der Vorfahren oder auf
der eigenen sozialen Stellung des Betroffenen beruht. Meist
geht die Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft

Dass die soziale Stellung vielfach auf die Herkunft zurück-
führbar ist, liegt an der nicht überwundenen Diskriminierung
wegen der sozialen Herkunft in Deutschland.

Der Aussagegehalt der bisher in Artikel 3 Absatz 3 GG ent-
haltenen Diskriminierungsverbote wird nach neuerer Recht-
sprechung des Bundesverfassungsgerichts dahingehend in-
terpretiert, dass diese Merkmale grundsätzlich nicht als
Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Ungleichbehandlung
herangezogen werden dürfen. Dies soll auch dann gelten,
wenn eine Regelung nicht auf eine nach Artikel 3 Absatz 3
verbotene Ungleichbehandlung angelegt ist, sondern in ers-
ter Linie andere Ziele verfolgt (vgl. BVerfGE 85, 191, [206]).
Entscheidend für eine Diskriminierung ist dabei nicht der
zielgerichtete Eingriff. Entscheidend ist die Diskriminie-
rungswirkung bei der betroffenen Person (vgl. BVerfG, Ur-
teil vom 28. Jannuar 1992, NJW 1992, 964, 965; BVerfG,
Beschluss vom 27. November 1997, NJW 1998, 1215 f.).

Eine Ungleichbehandlung zum Ausgleich vorhandener
Nachteile (insbesondere durch den Gesetzgeber) steht dem
speziellen Gleichbehandlungsgrundsatz wegen Artikel 3
Absatz 4 GG nicht entgegen.

Das Merkmal der „sozialen Stellung“ hat bereits in die Lan-
desverfassung Bremens als spezielles Diskriminierungsver-
bot Eingang gefunden (Artikel 2 der Landesverfassung der
Freien Hansestadt Bremen). Der Begriff ist darüber hinaus in
zahlreichen Bundesgesetzen (z. B. in § 36 des Gerichts-
verfassungsgesetzes, den §§ 18, 31 des Bundesentschädi-
gungsgesetzes) in dem jeweiligen spezifischen Zusammen-
hang verwendet worden. Darüber hinaus verwendet das
Bundesverfassungsgericht in zahlreichen Entscheidungen
den Begriff (vgl. nur BVerfG NJW 1977, 241ff.; BVerfG
NJW 1973, 1739, [1741]).

Zu Absatz 4

Die Verantwortung des Staates zum Ausgleich sozialer Ge-
gensätze ergibt sich aus dem Ziel und Inhalt des Sozialstaats-
gebots, einen Ausgleich zwischen Freiheit und Gleichheit
herbeizuführen.

Im sog. KPD-Urteil vom 17. August 1956 (1 BvL 2/51) führ-
te das BVerfG hierzu aus: „Vorzüglich darum ist das Sozial-
staatsprinzip zum Verfassungsgrundsatz erhoben worden; es
soll schädliche Auswirkungen schrankenloser Freiheit ver-
hindern und die Gleichheit fortschreitend bis zu dem ver-
nünftigerweise zu fordernden Maße verwirklichen.“ (vgl.
BVerfGE 5, 85, [197 f.]).

Das Sozialstaatsprinzip legt dem Staat damit die Verantwor-
tung auf, sein Handeln auf eine materielle Gleichheit der
Menschen anstelle einer nur formalen Gleichbehandlung
auszurichten. Artikel 3 Absatz 4 GG führt diesen Gedanken
konsequent in Bezug auf die Durchsetzung sozialer Gleich-
heit und Gleichberechtigung aus.

Der Staat darf sich nicht auf eine rein formale Gleichbehand-
lung zurückziehen. Vielmehr erweitert das Sozialstaatsgebot
den Rechtsgedanken des Artikels 3 Absatz 1 GG zu dem
Auftrag des Staates, eine Ungleichheit in den sozialen Le-
bensbedingungen und -verhältnissen durch eine gezielte
rechtliche Ungleichbehandlung des jeweils sozial Unglei-
chen faktisch auszugleichen. Soziale Gleichheit in allen Le-
einher mit derjenigen aufgrund der sozialen Stellung; es gibt
aber viele Bereiche, in denen die Herkunft keine Rolle spielt.

bensbereichen herzustellen ist darüber hinaus vorrangiges
Ziel des Sozialstaates als eine Schlussfolgerung aus dem

Drucksache 16/12375 – 10 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Auftrag zum Streben nach sozialer Gerechtigkeit. Mit dem
hier niedergelegten Fördergrundsatz wird demnach eine ge-
zielte Ungleichbehandlung zum Ausgleich vorhandener so-
zialer Nachteile verfassungsrechtlich gerechtfertigt.

Durch die Ergänzung des Artikels 3 Absatz 4 GG wird das
Sozialstaatsprinzip insoweit konkretisiert, als der Sozialstaat
Maßnahmen zur Erreichung der tatsächlichen sozialen
Gleichberechtigung zu ergreifen hat. Insbesondere sind
Rechtsnormen zu schaffen, die die Lebensverhältnisse von
sozial Benachteiligten verbessern. Dies zielt nicht auf
„Gleichmacherei“, sondern auf eine Optimierung der Frei-
heitsrechte. „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung
sozialer Gleichberechtigung“ soll gegenüber anderen,
schwächeren Formulierungen einen verbindlichen Verfas-
sungsauftrag verdeutlichen. Ziel ist es, eine reale Anglei-
chung der sozialen Lebensverhältnisse der Menschen zu er-
reichen und somit vorhandene soziale Nachteile mit dem
Ziel der sozialen Gleichberechtigung auszugleichen.

Soziale Gleichheit drückt sich unter anderem in einem
gleichberechtigten Zugang aller Menschen zu den ökonomi-
schen, sozialen, kulturellen und bildungsbezogenen Ange-
boten und Entfaltungsmöglichkeiten der Gesellschaft aus.
Teilhabe, Kreativität und individuelle Entfaltung dürfen
nicht an der sozialen Stellung in der Gesellschaft scheitern.
Diese Vorgabe dient zugleich der Achtung und dem Schutz
der Menschenwürde.

Dabei ist der Gesetzgeber nicht nur zu einer sachgerechten,
nicht willkürlichen Auswahl verpflichtet, er ist auch an die
spezifischen Wertentscheidungen der Verfassung gebunden.
Was gleich und was ungleich, was sachgerecht oder was
sachwidrig ist, muss also in spezifischer Weise am Sozial-
staatsprinzip gemessen werden; es kommt entscheidend auf
die „soziale Gleichheit“ an (vgl. (BVerfGE 36, 237, [248])
– Sondervotum Rupp-v. Brünneck).

Durch Artikel 3 Absatz 4 GG wird der Sozialstaat zugleich
verpflichtet, nicht auf einem einmal erreichten Niveau ste-
hen zu bleiben, sondern stets aufs Neue aktiv zu werden und
soziale Nachteile – soweit dies im Rahmen seiner Möglich-
keiten steht – zu beseitigen. Die Berücksichtigung der sozia-
len Auswirkungen von Gesetzen auf Einzelne und Gruppen
in der Gesellschaft wird als Verpflichtung des Staates beson-
ders herausgestellt.

Artikel 3 Absatz 4 GG normiert einen konkreten Verfas-
sungsauftrag als Verfassungsauftrag und Staatsziel und führt
für sich genommen keinen Individualanspruch für die
Betroffenen auf ein ganz bestimmtes staatliches Handeln
herbei. Der Weg zur Umsetzung der Pflicht des Staates zur
Förderung sozialer Gleichberechtigung, wie auch die Um-
setzung der Verpflichtung zur Beseitigung bestehender so-
zialer Nachteile, obliegt vorrangig dem Gesetzgeber. Dieser
hat den Verfassungsauftrag als Ziel staatlichen Handelns in
Abwägung mit anderen verfassungsrechtlichen Grund-
rechtspositionen umzusetzen.

Die Auslegung des neuen Artikels 3 Absatz 4 GG kann an
der des strukturähnlichen Artikels 3 Absatz 2 Satz 2 GG ori-
entiert werden. Der Staat hat diejenigen Einflussnahmemög-
lichkeiten auszuschöpfen, die ihm in Wahrung des verhält-
nismäßigen Ausgleichs zwischen Grundrechtspositionen

teile sind zugleich Instrumente zur Durchsetzung der sozial-
staatlichen Verpflichtung aus Artikel 20 Absatz 1 GG. Im
Zusammenhang mit der aufgrund historischer Entwicklung
weit verbreiteten Geschlechtsdiskriminierung wurde die Er-
kenntnis gewonnen, dass allein ein Diskriminierungsverbot
in Artikel 3 Absatz 3 GG nicht automatisch eine wirkliche
Verbesserung in den Lebensverhältnissen der Betroffenen
herbeiführt. Diese Einsicht ist auf die ebenfalls aufgrund der
gesellschaftlichen Entwicklung weit verbreitete Diskrimi-
nierung von Menschen wegen ihrer sozialen Stellung über-
tragbar. Der Staat muss nicht nur jede Diskriminierung we-
gen der sozialen Stellung unterlassen, sondern er hat darüber
hinaus gleichermaßen aktiv soziale Nachteile zu beseitigen,
um die tatsächliche Durchsetzung sozialer Gleichberechti-
gung zu verwirklichen.

3. Zu Artikel 15

Zu Absatz 1 Nummer 3 Buchstabe b

In Artikel 15 Absatz 1 GG werden die „Banken“ und „Versi-
cherungsunternehmen“ klarstellend aufgenommen. Diese
können in Gemeineigentum oder in andere Formen der Ge-
meinwirtschaft überführt werden. Unter einem engen Pro-
duktionsmittelbegriff sind nach wirtschaftsphilosophischer
Auffassung diese Bereiche wirtschaftlicher Betätigung nach
dem bisherigen Verfassungstext nicht erfasst. Die Frage ist
juristisch umstritten (vgl. zum juristischen Streitstand Kom-
mentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutsch-
land, Reihe Alternativkommentare, Band 1, 2. Auflage,
Artikel 14/15, Rn. 241 f.). In Artikel 160 der Verfassung des
Freistaates Bayern sind – einem engen Produktionsmittel-
begriff folgend – auch die „Großbanken und Versicherungs-
unternehmen“ neben den Produktionsmitteln gesondert auf-
geführt.

Artikel 160 Absatz 2 der Verfassung des Freistaates Bayern
lautet: „Für die Allgemeinheit lebenswichtige Produktions-
mittel, Großbanken und Versicherungsunternehmungen kön-
nen in Gemeineigentum übergeführt werden, wenn die
Rücksicht auf die Gesamtheit es erfordert. Die Überführung
erfolgt auf gesetzlicher Grundlage und gegen angemessene
Entschädigung.“

Da Banken und Versicherungsunternehmen angesichts ihrer
überragenden volkswirtschaftlichen Bedeutung, die sich
durch die derzeitige Finanzkrise erneut in Erinnerung ge-
bracht hat, von der Möglichkeit der Sozialisierung auf jeden
Fall nicht ausgenommen sein sollen, werden diese in den
Geltungsbereich des Artikels 15 Absatz 1 GG klarstellend
aufgenommen.

Durch die Einfügung eines weiteren Absatzes in Artikel 15
GG wird der bisherige Wortlaut zu Absatz 1. Eine inhaltliche
Änderung über die klarstellende Einfügung der Banken und
Versicherungsunternehmen hinaus ist nicht damit verbun-
den.

Zu Absatz 2 Nummer 3 Buchstabe c

Der neu eingefügte Absatz 2 des Artikels 15 GG entspricht
zum Teil spiegelbildlich dem mit Artikel 20c Absatz 1 GG
eingeführten Privatisierungsverbot, geht jedoch auch da-
rüber hinaus. Während Artikel 20c Absatz 1 GG eine Priva-
möglich sind. Maßnahmen zur Förderung sozialer Gleichbe-
rechtigung und zur Beseitigung bestehender sozialer Nach-

tisierung von Eigentum im Bereich der Daseinsvorsorge
(und der staatlichen Kernaufgaben) für unzulässig erklärt,

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 11 – Drucksache 16/12375

schafft Artikel 15 Absatz 2 GG die Voraussetzungen dafür,
dass jedes Eigentum an Daseinsvorsorgeeinrichtungen in
Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft
überführt werden muss (Sozialisierung). Sowohl Artikel 20c
Absatz 1 GG als auch Artikel 15 Absatz 2 GG anerkennen
damit den unabdingbaren Zusammenhang zwischen Ge-
meinwohl und öffentlichem Eigentum in Bezug auf Daseins-
vorsorgeeinrichtungen.

Es handelt sich hierbei um eine Verpflichtung des Staates zu
konkretem gesetzgeberischem Handeln. Die dafür erforder-
liche Gesetzgebungskompetenz wird in Artikel 74 GG gere-
gelt. Das nähere Verfahren ist ebenso wie Art und Ausmaß
der Entschädigung einem Gesetz vorbehalten. Die Entschä-
digung richtet sich ebenso wie in Artikel 15 Absatz 1 GG
nach Artikel 14 Absatz 3 Satz 3 und 4 GG.

Vom Wortlaut des Artikels 15 Absatz 2 GG werden beispiels-
weise Daseinsvorsorgeeinrichten insbesondere in den Be-
reichen der Energie-, Wasser-, Wohnungs-, Verkehrsinfra-
struktur-, Kommunikations- und Gesundheitsvorsorge und
Bildungseinrichtungen erfasst.

Die Überführung von Unternehmen in Staatseigentum oder
in das Eigentum anderer Gebietskörperschaften ist dabei
ebenso möglich wie andere Formen des Gemeineigentums
oder der Gemeinwirtschaft (vgl. hierzu AK-GG, Rittstieg,
Band 1, 2. Auflage, Artikel 14/15, Rn. 232 ff.).

Im Gegensatz zu Artikel 15 Absatz 1 GG (bisheriger Wort-
laut des Artikels 15 GG) hat der Gesetzgeber hier nicht die
Wahl, ob er eine Überführung des Eigentums vornimmt. Es
sind jedoch das Verfahren, der Zeitpunkt und andere erfor-
derliche Regelungen zu normieren. Darüber hinaus hat der
Gesetzgeber nach billiger Abwägung der betroffenen Grund-
rechtspositionen mit den Interessen der Allgemeinheit Art
und Ausmaß der Entschädigung durch Gesetz zu regeln. Die
Frage des „Ob“ der Sozialisierung steht mithin nicht im Er-
messen des Gesetzgebers. Die Frage des „Wie“ obliegt dem-
gegenüber seiner Gestaltungsprärogative.

Die hier vorgenommene Verfassungsänderung steht nicht im
Widerspruch mit dem Wortlaut der geltenden EU-Verträge
und des derzeit nicht in Kraft getretenen Vertrags von Lissa-
bon, wonach das europäische Primärrecht die verfassungs-
rechtlichen Eigentumsordnungen der Mitgliedstaaten unbe-
rührt lässt: vergleiche hierzu Artikel 295 EGV und Artikel 345
des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union.
Im Übrigen sehen auch Artikel 43 der italienischen Verfas-
sung und die Präambel der französischen Verfassung die
Möglichkeit vor, bestimmte Unternehmen (wie hier die
Daseinsvorsorgeeinrichtungen) in Gemeineigentum zu über-
führen.

4. Zu Artikel 19

Zu Absatz 5

Die Erweiterung des Artikels 19 GG um einen neuen
Absatz 5 trägt dem Umstand Rechnung, dass der soziale
Rechtsstaat nicht nur einen formell gleichen Zugang zum
Rechtsweg und eine formelle Gleichbehandlung durch die
staatliche Gewalt erfordert, sondern zugleich eine Berück-
sichtigung und den Ausgleich der sozialen Nachteile.

Daher wird das Grundrecht auf einen sozial gerechten Zu-
gang zu gerichtlichem und außergerichtlichem Rechtsschutz

Das Grundgesetz gebietet nach der Rechtsprechung des Bun-
desverfassungsgerichts eine weitgehende Angleichung der
Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Ver-
wirklichung des Rechtsschutzes (vgl. BVerfG vom 13. März
1990 – 2 BvR 94/88, NJW 1991, 413). Dies ergibt sich aus
Artikel 3 Absatz 1 GG i. V. m. dem Rechtsstaatsgrundsatz,
der in Artikel 20 Absatz 3 GG allgemein niedergelegt ist und
für den Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt in
Artikel 19 Absatz 4 GG seinen besonderen Ausdruck findet.
Es ist ein zentraler Aspekt der Rechtsstaatlichkeit, die eigen-
mächtiggewaltsame Durchsetzung von Rechtsansprüchen
grundsätzlich zu verwehren. Die streitenden Parteien werden
auf den Weg vor die Gerichte verwiesen (vgl. BVerfGE 54,
277, 292, NJW 1959, 715 f.). Dies bedingt zugleich, dass der
Staat Gerichte einrichtet und den Zugang zu ihnen jedermann
in grundsätzlich gleicher Weise eröffnet. Daher ist es gebo-
ten, Vorkehrungen zu treffen, die auch Unbemittelten einen
weitgehend gleichen Zugang zu Gerichten ermöglichen
(vgl. BVerfGE 50, 217; NJW 1979, 1345).

Die weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten
und Unbemittelten im Bereich des Rechtsschutzes folgt nach
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch aus
Artikel 3 Absatz 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip
(BVerfGE 9, 124 [131] = NJW 1959, 715; zuletzt: Artikel 3
Absatz 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaats- und dem
Rechtsstaatsprinzip – Artikel 20 Absatz 1, 3 GG – BVerfG, 1
BvR 2310/06 vom 14. Oktober 2008, in: NJW 2009, 209 ff.).

Der Zugang zu den Gerichten und zu qualifizierter außerge-
richtlicher Rechtsberatung muss allen Menschen gleicher-
maßen offenstehen. Eine nur weitgehende Angleichung ge-
nügt nicht, um den Grundprinzipien der Sozial- und
Rechtsstaatlichkeit umfassend Rechnung zu tragen. Daher
wird ein grundrechtlicher Leistungsanspruch im Grundge-
setz konkretisiert.

Wie der Staat im Einzelnen den hier festgelegten Leistungs-
anspruch umsetzt, unterliegt seiner Gestaltungsprärogative.
So wäre beispielsweise ein generell gebührenfreier Zugang
für alle Menschen denkbar. Zulässig wäre gleichfalls die
Entbindung sozial Schwacher von Gebühren oder die Finan-
zierung etwaiger Gebühren für diese Bevölkerungsgruppe
durch den Staat. Die Entscheidung hierüber obliegt dem Ge-
setzgeber. Ein gleicher, sozial gerechter Zugang muss jedoch
durch die gewählte Umsetzung gewährleistet sein.

Die Schaffung sozial gerechter Zugangsbedingungen und
vor allem eines sozial gerechten Verfahrensrechtes ist eine
wichtige Bedingung und Ausdruck sozialer Rechtsstaatlich-
keit. Gerade hierin wird der Unterschied offenbar, der zwi-
schen der Gleichbehandlung unter rein formellen Gesichts-
punkten einerseits und der materiellen Gerechtigkeit im
Sinne des sozialen Rechtsstaats andererseits liegt.

Das sozial angemessene Verfahrensrecht gleicht sozial be-
dingte Nachteile aus, um ein Höchstmaß an rechtstaatlicher,
grundrechtskonformer Gerechtigkeit und effektiver Rechts-
verfolgung zu verwirklichen. Dabei werden alle bestehenden
sozialen Barrieren abgebaut, die zwischen den Beteiligten
bestehen und sie daran hindern, sich vor Gericht und im be-
hördlichen Verfahren auf Augenhöhe zu begegnen.

Angesichts der rechtlichen Durchdringung nahezu aller Le-

und eine effektive Rechtsverfolgung durch ein sozial gerech-
tes Verfahrensrecht im Grundgesetz verankert.

bensbereiche und der häufig hohen Komplexität und wech-
selseitigen Verknüpfung der einschlägigen Regelungen sind

Drucksache 16/12375 – 12 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

die Rat begehrenden Bürgerinnen und Bürger im Falle man-
gelnder Einkünfte oder Vermögens bereits im außerprozes-
sualen Bereich auf einen Ausgleich dieses sozialen Nachteils
angewiesen (vgl. BVerfG, 1 BvR 2310/06 vom 14. Oktober
2008, a. a. O.).

Sozialgerechtes Verfahrensrecht hat die Aufgabe, eine Mo-
bilisierung des Rechts für jede und jeden, unabhängig von
den durch die soziale Stellung oder anderen Faktoren
begründeten Fähigkeiten, Kenntnissen und finanziellen
Möglichkeiten zu begründen. In der Regel stehen in den Ver-
fahren vor Arbeits-, Sozial-, Verwaltungs- oder Finanzge-
richten, aber auch in Verwaltungsverfahren einzelne (evtl.
darüber hinaus sozial benachteiligte) Personen einer „Orga-
nisation“ mit großer Wissens- und Handlungsmacht (Arbeit-
geber, Behörde, Sozialversicherungsträger) gegenüber. Die-
ses Ungleichgewicht muss durch das Verfahrensrecht
ausgeglichen werden. Das sozialgerechte Verfahrensrecht
unterstützt die schwächere Partei mit konkreten Maßnah-
men; beispielsweise: durch umfassende Aufklärungs-, Bera-
tungs- und Hinweispflichten des Gerichts oder der Behör-
den, durch Heilungsmöglichkeiten für Verfahrensverstöße,
die typischerweise auf rechtliche Unerfahrenheit zurückzu-
führen sind, durch Verfahrenspfleger oder Verfahrensbei-
stände.

5. Zu Artikel 20b

Die Formulierung greift teilweise die bisherige Rechtspre-
chung des Bundesverfassungsgerichts und die überwiegende
Ansicht in der Literatur zum Aussagegehalt des Sozialstaats-
prinzips zentral auf.

Die Verankerung der Mindestinhalte des Sozialstaatsprin-
zips fügt sich nahtlos in das bestehende Regelungsgefüge
ein; die Kodifizierung erfolgt systematisch in Artikel 20b
GG.

Das Bundesverfassungsgericht stellt im Urteil vom 18. Juli
1967 fest, dass das Sozialstaatsprinzip den Staat verpflichte,
„für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit für
eine gerechte Sozialordnung zu sorgen“ (vgl. BVerfG in
BVerfGE 22, 180 [204]). Es führt (a. a. O.) weiter aus, dass
der Staat dieses Ziel in erster Linie im Wege der Gesetzge-
bung zu erreichen suchen werde. Artikel 20 Absatz 1 GG be-
stimme nur das Ziel, die gerechte Sozialordnung; er lasse
aber für das Wie, d. h. für die Erreichung des Ziels, alle Wege
offen.

Bereits in einer sehr frühen Entscheidung legt das Bundes-
verfassungsgericht dar, der Gesetzgeber „sei gewiß zu so-
zialer Aktivität, insbesondere dazu verpflichtet, sich um ei-
nen erträglichen Ausgleich der widerstreitenden Interessen
und um die Herstellung erträglicher Lebensbedingungen“ zu
bemühen (vgl. BVerfGE 1, 97 [105]). Der Einzelne muss
sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen
lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des so-
zialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebe-
nen Sachverhalt allgemein Zumutbaren ziehe, sofern dabei
die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibe (vgl.
BVerfGE 4, 7 [15 ff.]).

Entscheidende Aussagen zur Auslegung des Sozialstaatsge-
bots bietet überdies die Entscheidung zum KPD-Verbot

Aufgabe der Anpassung und Verbesserung und des sozialen
Kompromisses angelegt sein; sie muß insbesondere Miss-
bräuche der Macht hemmen.“ Darüber hinaus sei als ein lei-
tendes Prinzip aller staatlichen Maßnahmen der Fortschritt
zu „sozialer Gerechtigkeit“ aufgestellt worden; eine Forde-
rung, die im Grundgesetz mit seiner starken Betonung des
„Sozialstaats“ noch einen besonderen Akzent erhalten habe.

Das Sozialstaatsprinzip „begründet die Pflicht des Staates,
für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen (vgl. etwa
BVerfGE 5, 85 [198] = NJW 1956, 1393; BVerfGE 22, 180
[204] = NJW 1967, 1795; BVerfGE 27, 253 [283] = NJW
1970, 799; BVerfGE 35, 202 [235 f.] = NJW 1973, 1226).
Bei der Erfüllung dieser Pflicht kommt dem Gesetzgeber ein
weiter Gestaltungsspielraum zu (vgl. BVerfGE 18, 257 [273]
= NJW 1965, 195; BVerfGE 29, 221 [235] = NJW 1971,
365).“

Das Sozialstaatsprinzip verlangt staatliche Vorsorge und
Fürsorge für Einzelne oder für Gruppen der Gesellschaft, die
auf Grund persönlicher Lebensumstände oder gesellschaftli-
cher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Ent-
faltung behindert sind (vgl. BVerfGE 35, 202 [236];
BVerfGE 45, 376 [387]).

In einer neueren Entscheidung vom 17. Oktober 2007 findet
sich eine diese ständige Rechtsprechung bestätigende Auf-
fassung zu den Mindestinhalten des Sozialstaatsprinzips:
„Aus ihm ergibt sich auch ein Auftrag an den Gesetzgeber,
für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze zu sorgen (vgl.
BVerfGE 22, 180 [204]; 100, 217 [284]). Insoweit ist etwa
die Sozialversicherung ein besonders prägnanter Ausdruck
des Sozialstaatsprinzips (BVerfGE 28, 324 [348]). Dieses
gebietet staatliche Fürsorge für Einzelne oder Gruppen, die
aufgrund ihrer persönlichen Lebensumstände oder gesell-
schaftlicher Benachteiligung an ihrer persönlichen oder so-
zialen Entfaltung gehindert sind (vgl. BVerfGE 100, 217
[284]).“ (vgl. BVerfG; Urteil vom 17. Oktober 2007,
DVBl. 2007, 1555 ff.).

Die trotz der zitierten Entscheidungen insgesamt eher zu-
rückhaltende Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
richts veranlasste Verfassungsrichterin W. Rupp-v. Brünneck
in einem Sondervotum im Urteil vom 12. Dezember 1973
einmal zu folgender Aussage: „Obwohl das Sozialstaatsprin-
zip zu den tragenden Verfassungsgrundsätzen gehört, kenn-
zeichnet die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
eine gewisse Scheu, diesen Grundsatz für die verfassungs-
rechtliche Prüfung fruchtbar zu machen. Dies liegt – neben
möglichen anderen Gründen – wesentlich an der vergleichs-
weisen Unbestimmtheit dieses Prinzips, wobei freilich Ursa-
che und Wirkung umkehrbar sind: Gerade diese mangelnde
Berücksichtigung verhindert, daß das Sozialstaatsprinzip
verfassungsrechtlich näher erfaßt und deutlicher konturiert
wird.“ (abweichende Meinung in BVerfGE 36, 237, (248)).

Die hier erfolgende Konkretisierung trägt dazu bei, im Sinne
einer Fruchtbarmachung des Sozialstaatsprinzips die not-
wendige verfassungsrechtliche Konturierung zu unterstüt-
zen.

Weil Artikel 20b GG lediglich kodifiziert, was ohnehin vom
Grundprinzip des „sozialen Bundesstaats“ (Artikel 20 Ab-
satz 1 GG) umfasst ist, bewegt sich die Grundgesetzänderung
(BVerfGE 5, 85 [197 ff.]): „Die staatliche Ordnung der frei-
heitlichen Demokratie muß demgemäß systematisch auf die

im zulässigen Rahmen des Artikels 79 Absatz 3 GG. Die
Unabänderlichkeitsklausel (Artikel 79 Absatz 3 GG) wird in

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 13 – Drucksache 16/12375

Bezug auf die in Artikel 20 GG niedergelegten Grundsätze
durch die Verfassungserweiterung nicht berührt, da die Aus-
gestaltung der geänderten bzw. eingefügten Artikel das hier
in Frage stehende Sozialstaatsprinzip nicht einschränkt, son-
dern durch offene Konkretisierung erweitert. Artikel 79
Absatz 3 GG wird auch nicht durch die besondere Betonung
des Sozialstaatsprinzips im Verfassungstext berührt. Viel-
mehr sichert die Ausgestaltung, dass das Verhältnis der sich
gegenseitig in ihrer Wirksamkeit verstärkenden Prinzipien
des Sozialstaats, Rechtsstaats und der Demokratie bekräftigt
und damit die freiheitlich-demokratische Grundordnung ge-
festigt wird.

6. Zu Artikel 20c

Zahlreiche grundsätzliche Erwägungen sprechen gegen die
Privatisierung:

● Das Sozialstaatsprinzip bildet eine Schranke für Privati-
sierungen. Denn aus der Verpflichtung des Staates zum
Ausgleich sozialer Gegensätze ergibt sich zugleich die
Verpflichtung, über die für diesen Ausgleich erforderli-
chen Mittel zu verfügen. Der Staat begibt sich durch die
Privatisierung im Bereich der Daseinsvorsorge (für den
Bereich der Gefahrenabwehr gilt insoweit nichts anderes)
der zur Verwirklichung der Herstellung einer gerechten
Sozialordnung erforderlichen Handlungs- und Gestal-
tungsspielräume. Die Verantwortung aus dem Sozial-
staatsprinzip verbietet es, dass sich der Staat zur Wahr-
nehmung dieser Aufgaben solcher privater Dritter
bedient, die er nicht voll beherrscht und die er nicht so
einsetzen kann, wie wenn er die Aufgabe noch in eigener
Verantwortung erfüllen würde (vgl. zur Problematik:
Richter am Bundesverfassungsgericht Dr. Siegfried
Broß, Vortrag am 22. Januar 2007 in Stuttgart vor dem
„Neuen Montagskreis“ und ders. in: Universitas: Orien-
tierung in der Wissenswelt, 2007, S. 995 ff. ). Die Souve-
ränität des Staatswesens muss zum Schutz der Grund-
rechtsträger erhalten bleiben.

● Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverfas-
sungsgerichts (vgl. obige Ausführungen zu Artikel 20b
GG – neu) ist der Staat verpflichtet, die sozialen Gegen-
sätze auszugleichen und Vor- und Fürsorge für einzelne
und Gruppen der Gesellschaft zu betreiben. Daraus folgt
zugleich, dass er sich der realen Möglichkeiten hierzu
nicht begeben darf. Der erforderlichen und vor allem
rechtstaatlich lenkbaren und demokratischen Kontrolle
unterliegenden Mittel darf sich der Staat ebenso wenig
wie der grundsätzlichen Verpflichtung zur Erfüllung der
Aufgaben entledigen. Privatisierung bewirkt darüber hi-
naus eine Verschlechterung des sozialgerechten Zugangs
zu Daseinsvorsorgeleistung, weil Private das Angebot
nach den Gesetzen des Marktes formulieren, um Profite
zu realisieren. Dies widerspricht der sozialstaatlichen
Verpflichtung. Der Staat soll gerade in die Wirtschafts-
und Sozialordnung eingreifen, um soziale Gerechtigkeit
herzustellen und zu erhalten.

● Die Wege zum Ziel des Ausgleichs sozialer Gegensätze
und sozialer Gerechtigkeit werden im demokratischen
Gemeinwesen durch die hierfür gewählten und legiti-
mierten Organe bestimmt. Demokratisch nicht legiti-

Richtlinien der Politik und die Entwicklung des Gemein-
wesens. Der Staat wird letztlich erpressbar.

● Die Aufgabenverlagerung oder die Übertragung staatli-
chen Eigentums ist im Bereich staatlicher Aufgaben mit
einem Ausfall, zumindest aber einer deutlichen Beein-
trächtigung demokratischer Kontrolle und der Bindung
an die Verfassung, insbesondere an die Grundrechte und
das Sozialstaatsprinzip verbunden (vgl. hierzu Gusy,
ZRP 1998, 265 ff.).

● Das Rechtsstaatsprinzip verlangt, dass jede staatliche Tä-
tigkeit gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern durch in-
stitutionelle und andere Vorkehrungen so ausgestaltet ist,
dass allein das Gesamtinteresse und die Freiheitsrechte
des Einzelnen, nicht aber das wirtschaftliche Eigeninter-
esse der handelnden Personen maßgebliche Richtschnur
sind (vgl. W. Däubler, Privatisierung als Rechtsproblem,
S. 78 ff. [82]).

● Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass mit der Priva-
tisierung öffentlicher Aufgaben Korruption und Schat-
tenwirtschaft wachsen (vgl. Siegfried Broß, in: Univer-
sitas: Orientierung in der Wissenswelt, 2007, S. 995 ff.).
Wenn sich der Staat der Erfüllung öffentlicher Aufgaben
dadurch entzieht, dass er substantielle Teile des Gemein-
wesens privatisiert und letztlich ungebunden durch priva-
te Dritte erfüllen lässt, dann entsteht zudem die Gefahr,
dass der Staat seine Macht zur Selbstdefinition verliert
und sich letztlich selbst in Frage stellt.

● Dem Gemeinwohl widerspricht das Streben nach reiner
privater Gewinnmaximierung, die im Zentrum der
Folgen von Privatisierung stehen. Fürsorgepflicht und
Gewinnmaximierung schließen sich gegenseitig aus.
Öffentliche Aufgaben sind im Gegensatz zu privatwirt-
schaftlicher Betätigung auf den Staat und die seiner um-
fassenden Fürsorge anvertrauten Menschen ausgerichtet.

● Die bisher vorgenommenen Privatisierungen lassen dar-
über hinaus erkennen, dass der Schutz der Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer sowie soziale Interessen der
Allgemeinheit nicht angemessen gewahrt werden. Die
wichtigen Kernaufgaben, derer der Staat sich entledigt,
werden von Privaten allein unter der Maßgabe des Ge-
winnstrebens erfüllt. Soziale Nachteile sind hierdurch für
die Bevölkerung unausweichlich.

Die Regelungen in Artikel 20c GG greifen die Bedenken
sachgerecht auf und normieren je nach betroffenem Aufga-
benbereich Zulässigkeit und Anforderungen an die Privati-
sierung. Ein generelles Vermögensprivatisierungsverbot für
alle Aufgabenbereiche wird mit dem neuen Artikel 20c GG
nicht geschaffen.

a) Zu Absatz 1

Der Staat führt Aufgaben, die ihm aus dem Grundgesetz
(und den Gesetzen) erwachsen, grundsätzlich eigenständig
aus. Privatisierung in ihren verschiedenen Formen ist nur
dann zulässig, wenn dies dem Gemeinwohl dient. Im Be-
reich der öffentlichen Daseinsvorsorge und für andere staat-
liche Kernaufgaben stellt sich aufgrund des unabdingbaren
Gemeinwohlbezugs der Aufgaben die Privatisierung daher
mierte Private bestimmen bei Privatisierung anstelle des
Staats in wichtigen Bereichen des Gemeinwesens die

stets als unzulässig dar. Dies wird ausdrücklich im
Artikel 20c Absatz 1 GG geregelt.

Drucksache 16/12375 – 14 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Die Privatisierung staatlichen oder kommunalen Eigentums
im Bereich der Daseinsvorsorge ist nach herrschender Mei-
nung (anders Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgeset-
zes, S. 102) grundsätzlich zulässig. Nach der Rechtspre-
chung des Bundesverfassungsgerichts besteht nach dem
Grundgesetz bisher kein Verfassungssatz, der die Veräuße-
rung rein erwerbswirtschaftlicher Unternehmen des Bundes
generell verbietet (vgl. BVerfG, Urteil vom 17. Mai 1961 –
1 BvR 561,579/60, 114/61 in: NJW 1961, 1107 [1108]).

Die Privatisierung von Eigentum der öffentlichen Hand,
welches der Erfüllung von Aufgaben der öffentlichen Da-
seinsvorsorge oder anderer staatlicher Kernaufgaben dient,
ist nach Artikel 20c Absatz 1 GG immer unzulässig. Dies
folgt aus dem engen Funktionszusammenhang zwischen die-
sem Eigentum und den staatlichen Aufgaben. Weder diese
Aufgaben (Artikel 20c Absatz 1 GG) noch das dem der Er-
füllung derselben dienende Eigentum darf privatisiert wer-
den. Dabei ist es nicht zweckmäßig, die Aufgaben statisch
festzulegen.

Da der Umfang der dem Staat obliegenden Aufgaben und da-
mit der Umfang der Daseinsvorsorgeaufgaben ebenso wie
der anderen staatlichen Kernaufgaben nicht statisch ist, son-
dern sich in Abhängigkeit von den durch das Grundgesetz
festgelegten Normen nur zukunftsoffen ergibt, werden die
entsprechenden Aufgaben aus den für die Steuerungsfähig-
keit des Staates und für das Gemeinwohl unabdingbaren Be-
reichen nicht abschließend aufgezählt oder hier näher defi-
niert.

Daseinsvorsorge als eine wesentliche Verpflichtung des So-
zialstaats, die zu den staatlichen Aufgaben zählt, die auf-
grund der engen Verbindung zum Gemeinwohl einer Priva-
tisierungsschranke unterfallen sollen, meint wichtige
Infrastrukturbereiche, die für die Sicherung der Vorausset-
zungen eines menschenwürdigen Daseins erforderlich sind.
Hierzu zählen insbesondere Einrichtungen, die der Mensch
als Einzelner oder in der Gruppe zur Verwirklichung seiner
Person und Individualität bedarf und die er als Einzelperson
regelmäßig nicht selbsttätig zur Verfügung stellen kann (Bei-
spiel: Elektrizität, Wasserversorgung etc.). Zum anderen sind
hierzu Bereiche öffentlicher Tätigkeit zu rechnen, in denen
in der Gesellschaft sozial Benachteiligte nicht die gleichen
Voraussetzungen und die gleichen Chancen für ihre per-
sönliche Entfaltung hätten, gäbe es keinen ausgleichenden
Sozialstaat, der diese Voraussetzungen schafft.

b) Zu Absatz 2

Unter Privatisierung im Sinne des Artikels 20c Absatz 2 GG
ist die Übertragung öffentlicher Aufgaben oder von Eigen-
tum der öffentlichen Hand auf Private zu verstehen. In die-
sem Fall bedarf es nach der (klarstellenden) Regelung einer
Zustimmung der jeweiligen Volksvertretung oder Gemein-
devertretung (vgl. Schriftenreihe der ötv, Zur Privatisierung
öffentlicher Dienstleistungen, Band 9, Rechtsfragen der Pri-
vatisierung öffentlicher Dienstleistungen, 1980, S. 18).

aa) Zur Vermögensprivatisierung

Die Zulässigkeit einer Privatisierung von Eigentum jenseits
des Bereichs der staatlichen Kernaufgaben hängt von der Zu-
stimmung der zuständigen Volksvertretung des Bundes oder

sem Bereich dem Wohl der Allgemeinheit dienen. Diese
Voraussetzung der Zulässigkeit der Privatisierung wird aus-
drücklich in Artikel 20c Absatz 2 GG eingefügt. Die durch
eine Privatisierung erfolgende Preisgabe der Verfügungsbe-
fugnis über das Eigentum der öffentlichen Hand stellte sich
ohne die Wahrung des Gemeinwohlbelangs als undemokra-
tischer und sozialstaatswidriger Akt dar.

Mit der Zustimmung wird zudem die Information der Öf-
fentlichkeit, sodass auch die zur Privatisierungsentscheidung
führenden Gründe erkennbar werden. Vertragliche Vereinba-
rungen zwischen den Beteiligten bergen die Gefahr der Um-
gehung der notwendigen Informationsrechte der Öffentlich-
keit.

Mit der gewählten Formulierung in Artikel 20c Absatz 2 GG
wird zum Ausdruck gebracht, dass die Volksvertretungen
dem Gemeinwohl dienende Entscheidung zu treffen und da-
her eine Einzelfallprüfung vorzunehmen haben. Dabei sind
nicht nur haushaltswirtschaftliche Aspekte unter Nachhaltig-
keitsgesichtspunkten einzubeziehen, sondern insbesondere
auch sozialstaatliche Aspekte wie der soziale, bedarfsge-
rechte Zugang der Bevölkerung zu dem Eigentum. Auch die
notwendige demokratisch legitimierte Einflussnahme auf
den Umgang mit dem Eigentum und die arbeitsrechtlichen
Folgen für die in einem Unternehmen Beschäftigte sind in
die Bewertung einzustellen.

Die Prüfung des Gemeinwohls führt der die Entscheidung
treffenden Volksvertretung die mögliche Tragweite der Pri-
vatisierung vor Augen. In der Vergangenheit bei Privatisie-
rungsentscheidungen stark motivierend ins Auge gefasste
(kurzfristige) Haushaltsvorteile sind unter Nachhaltigkeits-
gesichtspunkten weniger stark zu gewichten. Dies folgt auch
aus einer Zusammenschau mit dem neu formulierten
Artikel 109 Absatz 2 GG, der eine gerechte Sozialordnung
und damit den Ausgleich sozialer Gegensätze als wesent-
liche, die Haushaltswirtschaft steuernde Ziele beinhaltet. Da
generell Nachhaltigkeitsgesichtspunkte in die Abwägung
einzustellen sind, muss auch die Prognose hinsichtlich der
Auswirkungen einer Privatisierungsentscheidung dieser An-
forderung genügen.

Privatisierung kann einen sozial ungerechten Zugang zu
Leistungen bewirken, wenn und soweit Private den Zugang
zu den betroffenen Vermögenswerten allein nach wirtschaft-
lichen Kriterien gestalten. Ob die Privatisierung dennoch
dem Wohl der Allgemeinheit dient, hat die jeweilige gewähl-
te Volksvertretung zu prüfen. Sie ist dazu berufen, das Ge-
meinwohl zu verfolgen und entsprechende Entscheidungen
zu treffen (vgl. hierzu BVerfG Urteil vom 10. März 1981 –
1 BvR 92/71, 1 BvR 96/71 NJW 1981, 1257 f.).

bb) Zur Aufgabenprivatisierung

Sowohl die Aufgabenprivatisierung (auch materielle Privati-
sierung genannt) als auch die Organisationsprivatisierung
(auch formelle Privatisierung genannt) bedürfen einer ge-
setzlichen Grundlage oder eines Gemeinderatsbeschlusses
(vgl. hierzu Schriftenreihe der ötv, Zur Privatisierung öffent-
licher Dienstleistungen, Band 9, Rechtsfragen der Privatisie-
rung öffentlicher Dienstleistungen, 1980, S. 18). Die Ent-
scheidung zur Privatisierung einer Aufgabe ist nur dann
Landes durch Gesetz oder der kommunalen Gebietskörper-
schaft durch Beschluss ab. Die Privatisierung muss in die-

zulässig, wenn die Privatisierung dem Wohl der Allgemein-
heit dient.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 15 – Drucksache 16/12375

Die Zustimmung der jeweiligen Volksvertretung ist insbe-
sondere deswegen erforderlich, weil die Exekutive ansons-
ten im Bereich der formellen Privatisierung (Organisa-
tionsprivatisierung) ohne einen Parlamentsvorbehalt die
Kontrollmöglichkeiten des Parlaments schwächen und mit-
hin die Reichweite der eigenen Kontrolle begrenzen könnte
(vgl. hierzu Gusy, ZRP 1998, 265 [267]). Die Rechtsstellung
des Staates wandelt sich durch den Vorgang der Privatisie-
rung von einer staatsrechtlichen zu einer gesellschaftsrecht-
lichen Position; dies mit der Folge, dass die Aufsichtsrechte
des Parlaments von einer nahezu unbeschränkten Kontrolle
zu einer lediglich durch die Formen des Gesellschaftsrechts
beschränkten Kontrolle minimiert werden.

In den Bereichen, die im öffentlichen Interesse liegen, ohne
staatliche Kernaufgaben zu sein, mag die Abwägung der be-
teiligten Interessen unter Wahrung des Gemeinwohls nicht
zwingend zu dem Ergebnis führen, dass die Aufgabe allein
durch den Staat durchgeführt werden kann und muss. Dann
ist die Privatisierung unter der Maßgabe der Gemeinwohl-
übereinstimmung und der Einhaltung des Zustimmungs-
erfordernisses möglich. In diesem Fall ist dennoch die Wah-
rung der öffentlichen Interessen durch die Bindung der
Privaten an das Interesse des Gemeinwohls und durch die
Sicherstellung einer demokratischen Kontrolle zu gewähr-
leisten. Der Staat wird durch die Privatisierung nicht aus
seiner Verantwortung entlassen. Ihn trifft eine Gewähr-
leistungsverantwortung. Wenn er sich entscheidet, im öffent-
lichen Interesse liegende Aufgaben aus der Hand zu geben,
muss er durch Kontrolle sichern, dass die Aufgabe von Pri-
vaten entsprechend erfüllt wird.

7. Zu Artikel 73 Absatz 1 Nummer 6a

Die mit dem Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom
20. Dezember 1993 (BGBl. I S. 2089) vorgenommenen Än-
derungen zur Ermöglichung einer materiellen Privatisierung
im Hinblick auf die Eisenbahnen des Bundes sind teilweise
zurückzunehmen.

Die Streichung der Formulierung „ganz oder mehrheitlich“
ist erforderlich, weil eine Privatisierung des Eigentums nicht
zulässig ist. Das Eigentum an den Eisenbahnen des Bundes
verbleibt samt Schienenwegen im Eigentum des Bundes.

8. Zu Artikel 74 Absatz 1

Zu Nummer 15

Die in Artikel 15 Absatz 1 GG neu eingefügten möglichen
Gegenstände der Sozialisierung „Banken und Versiche-
rungsunternehmen“ werden in den vorhandenen Kompe-
tenztitel Artikel 74 Absatz 1 Nr. 15 GG eingefügt.

Zu Nummer 15a

Die in Artikel 74 Absatz 1 GG eingefügte Nummer 15a führt
den Kompetenztitel für die aus Artikel 15 Absatz 2 GG
folgende Verpflichtung des Staates zur Überführung von
Daseinsvorsorgeeinrichtungen ein. Während Nummer 15 für
den Bereich des bisherigen Artikels 15 GG (neuer Artikel 15
Absatz 1 GG) die Gesetzgebungskompetenz regelt, wird

9. Zu Artikel 87e

Die mit dem Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom
20. Dezember 1993 (BGBl. I S. 2089) vorgenommenen Än-
derungen zur Ermöglichung einer materiellen Privatisierung
im Hinblick auf die Eisenbahnen des Bundes sind zurückzu-
nehmen.

a) Artikel 87e Absatz 3 GG wird gestrichen. Die Regelun-
gen sind wegen Artikel 20c Absatz 1 GG obsolet. Die
Eisenbahnen des Bundes müssen wegen der hohen Be-
deutung für die öffentliche Daseinsvorsorge in Bundes-
eigentum bleiben. Hierzu zählen nicht nur die Erbringung
der Eisenbahnverkehrsleistung, sondern auch das Betrei-
ben der Eisenbahnverkehrsinfrastruktur (vgl. zum Be-
griff der Eisenbahnen des Bundes Windthorst in: Sachs,
Grundgesetz, 3. Aufl. 2002, Artikel 87e Rn. 39).

Durch Bundesgesetz kann entschieden werden, ob der
Verkehr der Eisenbahnen des Bundes in öffentlich-recht-
licher oder privatrechtlicher Organisationsform betrieben
wird. Die Eisenbahnen des Bundes stehen jedoch unge-
achtet dieser Tatsache immer im Eigentum des Bundes.
Die Entscheidung über die Organisationsprivatisierung
erfolgt auf der Grundlage der Gemeinwohlinteressen.
Hierzu zählen die in Artikel 87e Absatz 3 GG (neu) näher
ausgeführten Kriterien.

b) Artikel 87e Absatz 3 GG (neu) gibt für den (derzeit gege-
benen) Fall der Führung der Eisenbahnen des Bundes in
privatrechtlicher Form vor, dass der Bund das Wohl der
Allgemeinheit gewährleisten muss, insbesondere dazu
deren Verkehrsbedürfnissen Rechnung zu tragen hat. Die
Gewährleistungsverantwortung für das Gemeinwohl
ergibt sich für den Bund bereits aus allgemeinen Grund-
sätzen. Da die Verkehrsangebote auch durch privat-
rechtlich organisierte Erbringung von Verkehrsdienstleis-
tungen der Eisenbahnen des Bundes abgesichert werden
können, hat der Bund in diesem Fall die Gewährleis-
tungsverantwortung dafür zu tragen, dass die Verkehrs-
bedürfnisse der Allgemeinheit gewahrt sind. In diesem in
der Vergangenheit beschrittenen und für die Regelung zu-
grunde zu legenden Weg der formellen Privatisierung
müssen die Obliegenheiten zwingend erfüllt werden.

Artikel 87e Absatz 3 GG (neu) ist nur solange einschlä-
gig und erhält daher nur solange Wirkungskraft, wie die
Überführung der Eisenbahnen des Bundes in Gemein-
eigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft
nicht gemäß Artikel 15 Absatz 2 GG in bestimmter Wei-
se umgesetzt ist. Da dort kein genauer Verfahrensablauf
festgelegt wird, ist daher für eine Übergangszeit die Gel-
tung des Artikels 87e Absatz 3 GG erforderlich.

Die Möglichkeiten demokratischer Kontrolle und Ein-
flussnahme ebenso wie die Bereitstellung sozial gerech-
ter und dauerhaft gewährleisteter Nutzungsbedingungen,
als auch sozial angemessene Arbeitsbedingungen für die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wirtschaftspoliti-
sche Aspekte der Allgemeinheit (wie der Erhalt von Ar-
beitsplätzen), die ökologische Nachhaltigkeit, die Steue-
rung von Verkehrsbedürfnissen und alle weiteren im
konkreten Kontext einschlägigen Gemeinwohlinteressen
sind im Falle der privatrechtlichen Organisation der Bun-
diese in Artikel 74 Absatz 1 Nummer 15a GG für den neuen
Artikel 15 Absatz 2 GG geregelt.

deseisenbahnen gesetzlich sicherzustellen. Die Organisa-
tionsform, in der das Wohl der Allgemeinheit am effek-

Drucksache 16/12375 – 16 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

tivsten gewährleistet werden kann, wird vom
Gesetzgeber gewählt. Wenn (wie aktuell oft der Fall) eine
demokratische Einflussnahme auf ein privatrechtlich ge-
führtes Unternehmen nur schwer möglich ist oder andere
der oben genannten Kriterien zu der Einschätzung füh-
ren, dass eine Führung in privatrechtlicher Organisations-
form dem Gemeinwohlinteresse und dem Prinzip der
sozialen Gerechtigkeit nicht förderlich ist, dann ist der
öffentlich-rechtlichen Organisationsform (beispielsweise
als Anstalt des öffentlichen Rechts) der Vorzug zu geben.

Die in Artikel 87e Absatz 3 GG (neu) ausgeführte Ver-
pflichtung ist zwar auch bei der öffentlich-rechtlichen
Organisationsform einschlägig. In diesem Falle ergibt
sich die Verpflichtung jedoch aus der in dieser Organi-
sationsform verstärkten Gemeinwohlbindung bereits
zwangsläufig.

Das Nähere wird durch ein Bundesgesetz mit Zustim-
mung des Bundesrates (vgl. Artikel 187e Absatz 4 Satz 1
GG) geregelt.

c) Artikel 87e Absatz 4 Satz 2 GG wird an die Rechtslage
angepasst, wonach gemäß Artikel 20c Absatz 1 GG eine
Übertragung von Schienenwegen an Dritte nicht möglich
ist.

10. Zu Artikel 87f

Der Artikel 87f Absatz 1 GG wird in Abhängigkeit zu den
Artikeln 20c, 15 Absatz 2 GG geändert. Die demokratische
Kontrolle und Einflussnahme sowie sozialgerechte Nut-
zungsbedingungen sind hinsichtlich der zu erbringenden
Dienstleistungen zu gewährleisten. Dabei dürften die beson-
deren grundrechtlichen Anforderungen in diesem sensiblen
Bereich eine entscheidende Orientierungshilfe bei der Aus-
gestaltung der rechtsstaatlichen, demokratischen Kontroll-
und Einflussnahmemöglichkeiten sein. Insbesondere den Er-
fordernissen des Datenschutzes und des Fernmeldegeheim-
nisses ist in jedem Fall Rechnung zu tragen.

Die im bisherigen Absatz 2 festgeschriebene Verpflichtung,
Dienstleistungen ausschließlich in privatwirtschaftlicher
Form zu erbringen, wird gestrichen.

Mittel- bis langfristig müssen die gesellschaftlichen Fragen,
die Privatisierungen in diesem Bereich aufwerfen (demokra-
tische Kontrolle, sozial gerechter Zugang, der Sicherung der
grundrechtskonformen Versorgung aller Menschen in der
Bevölkerung mit entsprechenden Infrastrukturleistungen,
die im Technologiezeitalter immer wichtiger für die Persön-
lichkeitsentfaltung der Einzelnen und deren menschenwür-
digen Dasein sind) durch den Gesetzgeber selbst beantwortet
werden. Artikel 87f Absatz 1 GG berücksichtigt nur die der-
zeitige Organisation der Unternehmen. Nach Artikel 15
Absatz 2 GG sind die Unternehmen in Gemeineigentum
oder andere Formen der Gemeinwirtschaft zu überführen.

11. Zu Artikel 109 Absatz 2

Die Haushaltswirtschaft muss die Umsetzung der sozial-
staatlich bedingten Aufgaben ermöglichen, also die Erfül-
lung und Erfüllbarkeit derselben gewährleisten. Unter nach-
haltigen Gesichtspunkten wird eine dauerhafte Herstellung
und Sicherung einer gerechten Sozialordnung gefördert,

Die Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern ist nach dem
neuen Artikel 109 Absatz 2 GG gehalten, dem Ziel einer ge-
rechten Sozialordnung, der ausreichenden Finanzierung von
Maßnahmen sozialer Sicherung und den Erfordernissen des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts nachhaltig Rech-
nung zu tragen.

Die Erweiterung der Ziele der Haushaltswirtschaft ist ledig-
lich klarstellend. Der Staat ist nach dem Grundgesetz ver-
pflichtet, seine Aufgaben zu finanzieren und die sozialstaat-
lichen Verpflichtungen hierbei umfassend zu beachten. Die
Klarstellung verfolgt aber das Ziel, die Verpflichtungen aus
dem Sozialstaatsprinzip eindeutig und klar im Grundgesetz
zu verankern, um deren erhöhte Relevanz für den Haushalts-
gesetzgeber zu verdeutlichen. Nachhaltigkeit meint in die-
sem Zusammenhang die Verpflichtung von Bund und Land,
die Haushaltswirtschaft auf das langfristig und immer wie-
der neu zu verwirklichende Ziel einer gerechten Sozialord-
nung und der Finanzierbarkeit von Maßnahmen sozialer
Sicherung auszurichten.

Darüber hinaus legt die Formel der Berücksichtigung der ge-
rechten Sozialordnung dem Staat das auch durch Steuer- und
Finanzpolitik zu erreichende Ziel nahe, ungerechte Einkom-
mens- und Vermögensverteilung zu vermeiden (vgl.
Brun-Otto Bryde, Steuerverweigerung und Sozialstaat, in:
Festschrift zum 70. Geburtstag von Professor Dr. Friedrich
von Zezschwitz, Baden-Baden 2005, S. 330). Die Senkung
von Steuern darf die Leistungsfähigkeit des Sozialstaats
nicht beeinträchtigen, sondern muss sie gegenteilig fördern
(vgl. Brun-Otto Bryde, a. a. O., S. 327).

Angesichts einer aktuellen OECD-Studie, die belegt, dass
sich die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland seit
der Jahrtausendwende im internationalen Vergleich deutlich
stärker geöffnet hat, ist die ausdrückliche Erwähnung der ge-
rechten Sozialordnung in den Grundsätzen der Haushalts-
wirtschaft unabdingbar. Die Einkommensunterschiede und
der Anteil armer Menschen an der Bevölkerung nahmen in
der Bundesrepublik Deutschland schneller zu als in den
meisten anderen Ländern der Organisation für wirtschaft-
liche Zusammenarbeit und Entwicklung (vgl. OECD-Studie
„Mehr Ungleichheit trotz Wachstum?“ unter http://
www.oecd.org/dataoecd/45/27/41525386.pdf).

Wie der Staat seine Haushaltswirtschaft genau und im Ein-
zelnen ausgestaltet, um den in Artikel 109 Absatz 2 GG ge-
nannten Erfordernissen zu genügen und eine sozial gerechte
Gesellschaftsordnung auch durch Maßnahmen der Haus-
haltspolitik zu gestalten, ist der demokratischen Willensbil-
dung überlassen. Fest steht jedoch, dass der Staat keine
Haushaltswirtschaft betreiben darf, die die sozialen Aspekte
nicht entsprechend berücksichtigt.

Die Argumentation, für soziale Anstrengungen des Staates
seien nicht genügend finanzielle Mittel aufzubringen, ist mit
der Verpflichtung des Staates zur Herstellung einer gerech-
ten Sozialordnung, zum Ausgleich sozialer Gegensätze und
zur Gewährleistung sozialer Sicherheit aus Artikel 20
Absatz 1 GG (vgl. Artikel 20b GG – neu) nicht zu verein-
baren. Eine sozialgerechte Steuergesetzgebung, die eine ver-
antwortliche Umverteilung des gesellschaftlichen Reich-
tums zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins
wenn die Haushaltswirtschaft dem ausdrücklich verpflichtet
ist.

ermöglicht, ist Bestandteil der Verantwortung des Sozial-
staats.

antwortung, aus der Recht und Pflicht zur Gesellschaftsge-
staltung folgen. Zur Erfüllung seiner Aufgaben hat er nicht
nur das Recht, sondern auch die Pflicht, sich mit den notwen-
digen Mitteln auszustatten und die Aufgabenerfüllung nicht
an öffentlicher Armut scheitern zu lassen (vgl. Brun-Otto
Bryde, a. a. O., S. 326).

Der Schutz der Bürger gegen elementare Lebensrisiken ge-
hört zum verfassungsrechtlich festen Grundbestand. Daher
ist der Steuerstaat zunehmend zur Sicherung des Sozialstaa-

ser Stelle nicht weiter regelungsbedürftig.

13. Zu Artikel 143b

Es handelt sich um eine Folgeänderung zur Änderung des
Artikels 87f GG.

II. Zu Artikel 2

Die Vorschrift regelt das Inkrafttreten des Gesetzes.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 17 – Drucksache 16/12375

Der Bezug zur Finanzierung des Staates wird oft mit der Be-
zeichnung der Bundesrepublik Deutschland als „Steuer-
staat“ dargestellt. Dies pointiert die aus dem Sozialstaat
folgende Pflicht des Staates: nicht nur in Bezug auf die sozial
differenzierte Besteuerung der Bürgerinnen und Bürger, son-
dern gerade auch in Bezug auf die Beschaffung der finan-
ziellen Mittel zur Finanzierung der durch die Verpflichtung
zu sozialer Aktivität entstehenden Pflichten des Staates.
Neben den staatlich organisierten Versicherungsgemein-
schaften sind Steuern wichtigstes monetäres Mittel zur Ver-
wirklichung des Steuerstaats (vgl. hierzu auch Kirchhof in:
JZ 1979, 153 ff.).

Zur Frage der Finanzierung des Sozialstaats führte das Bun-
desverfassungsgericht aus, das Sozialstaatsprinzip enthalte
ein „Gebot sozialer Steuerpolitik“ (vgl. BVerfG, Urteil vom
24. Januar 1962 – 1 BvR 845/58, NJW 1962, 435 [437]). Die
Besteuerungsfunktion des Staates ist zugleich ein legitimes
Mittel einer – mit der verfassungsrechtlichen Wertordnung
übereinstimmenden – Wirtschaftssteuerung. Dabei ist Steu-
erpolitik eines sozialen Rechtsstaates stets zugleich Gesell-
schaftspolitik, die die schwächeren Schichten der Bevölke-
rung schont oder schützt (vgl. BVerfG, Urteil vom 24. Januar
1962 – 1 BvR 845/58, in NJW 1962, 435 [436]).

Der Sozialstaat des Grundgesetzes hat eine Gemeinwohlver-

tes gefordert. Das Grundgesetz gibt nicht vor, wie der Ge-
setzgeber seinen sozialpolitischen Auftrag definiert und wel-
che Steuerpolitik er einschlägt. Erst durch die Erhebung von
Steuern wird der Staat zu Sozialleistungen befähigt und kann
bedrohliche Entwicklungen der Eigentumsverteilung auch
umverteilend korrigieren. Dem Gesetzgeber ist hierbei so-
wohl für die Einschätzung der sozialen Konfliktlagen als
auch für die Mittel, um auf diese zu reagieren, von der Ver-
fassung ein weiter sozialpolitischer Entscheidungsraum zu-
gedacht (vgl. hierzu Böckenförde, Sondervotum in BVerfGE
93, 121 [164]).

12. Zu Artikel 143a

Artikel 143a GG, der mit dem Gesetz zur Änderung des
Grundgesetzes vom 20. Dezember 1993 (BGBl. I S. 2089)
eingefügt wurde, weist dem Bund ausschließliche Gesetzge-
bungskompetenz hinsichtlich aller Angelegenheiten zu, die
sich aus der Umwandlung der in bundeseigener Verwaltung
geführten Bundeseisenbahnen in Wirtschaftsunternehmen
ergeben. Der Anwendungsbereich dieser Norm ist mit der
bereits erfolgten Umwandlung der Bundeseisenbahnen in
ein Wirtschaftsunternehmen durch das Gesetz über die
Gründung einer Deutschen Bahn AG teilweise bereits entfal-
len. Die Zuweisung von Beamtinnen und Beamten ist an die-

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