BT-Drucksache 16/12153

Fragwürdige Aussagen eines Parlamentarischen Staatssekretärs zum Staatsangehörigkeitsrecht

Vom 3. März 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/12153
16. Wahlperiode 03. 03. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Ulla Jelpke, Dr. Hakki Keskin, Kersten
Naumann, Wolfgang Neskovic und der Fraktion DIE LINKE.

Fragwürdige Aussagen eines Parlamentarischen Staatssekretärs zum
Staatsangehörigkeitsrecht

Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, Peter
Altmaier, hat in der Fragestunde vom 21. Januar 2009 (Plenarprotokoll 16/199,
S. 21483 ff.) derart fragwürdige Ausführungen vor allem zum Staatsangehörig-
keitsrecht gemacht, dass Grund zur Nachfrage besteht.

So bezeichnete er „das System des Staatsangehörigkeitsrechts der Bundesrepu-
blik Deutschland [als] eines der fortschrittlichsten und modernsten nicht nur der
westlichen Welt, sondern überhaupt“ (a. a. O., 21484). Zur Begründung führte er
unter anderem aus, dass in der Bundesrepublik Deutschland seit einigen Jahren
die deutsche Staatsangehörigkeit mit der Geburt erworben werden könne und die
Betroffenen sich „erst“ im Erwachsenenalter für eine der beiden Staatsangehörig-
keiten entscheiden müssten. Dieser Hinweis auf die so genannte Optionspflicht
für „ius-soli-Kinder“ will aber nicht recht ins Bild des weltweit „modernsten“
Staatsangehörigkeitsrechts passen, denn diese – in der Tat weltweit einmalige –
Regelung wurde unter anderem im Rahmen einer Anhörung des Innenausschus-
ses des Deutschen Bundestages vom 10. Dezember 2007 zum Staatsangehörig-
keitsrecht (vgl. Ausschussprotokoll 16/54) von allen Sachverständigen kritisiert.
Die Einführung von Elementen des ius soli im Staatsangehörigkeitsrecht im Jahr
2000 hingegen bedeutete vor allem ein Nachholen des antiquierten deutschen
Rechts gegenüber dem Standard, der in den meisten anderen westlichen Industrie-
nationen längst galt.

Der Parlamentarische Staatssekretär behauptete im Plenum des Deutschen Bun-
destages weiterhin, „dass es in Deutschland vergleichweise leicht ist, die deut-
sche Staatsangehörigkeit zu erwerben“ (Plenarprotokoll 16/199, S. 21484). An
welchen Kriterien er dies festmachte bzw. mit welchen Ländern er die Bundes-
republik Deutschland dabei verglich, bleibt unklar, denn die Einbürgerungsquote
– aus der hervorgeht, wie viele im Land lebende Nicht-Staatsangehörige sich ein-
bürgern lassen, was einen Rückschluss darauf zulässt, wie „leicht“ es ist, die
Staatsangehörigkeit zu erwerben – ist in der Bundesrepublik Deutschland nied-
riger als in den meisten anderen europäischen Ländern.
Der Parlamentarische Staatssekretär rechtfertigte das Fehlen eines kommunalen
Wahlrechts für Drittstaatsangehörige in der Bundesrepublik Deutschland damit,
„dass in vielen Ländern, in denen es ein kommunales Wahlrecht für Nicht-EU-
Bürger gibt, die Einbürgerung schwieriger als in der Bundesrepublik Deutsch-
land ist, dass es dort jedenfalls nicht die Elemente des Jus Soli gibt […]“ (ebd.).
Diese Behauptung widerspricht aber Erkenntnissen aus der Anhörung des
Innenausschusses des Deutschen Bundestages zum kommunalen Wahlrecht für

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Drittstaatsangehörige vom 22. September 2008 (vgl. Ausschussprotokoll 16/74;
z. B. Stellungnahme von Mehr Demokratie e. V. vom 1. Oktober 2008, Aus-
schussdrucksache 16(4)459G, S. 2). Gerade die Vorreiter beim kommunalen
Ausländerwahlrecht (Einführung vor 1994: Dänemark, Schweden, Finnland,
Niederlande) weisen zugleich die höchsten Einbürgerungsquoten auf. Während
in der Bundesrepublik Deutschland die Einbürgerungsquote im Jahr 2006
1,7 Prozent betrug, lag sie in Schweden bei 10,7 Prozent, in den Niederlanden
bei 4 Prozent, in Finnland bei 3,9 Prozent und in Dänemark bei knapp 3 Prozent
(errechnet aus Eurostat-Angaben).

Weiter behauptete der Parlamentarische Staatssekretär, die sinkenden Einbürge-
rungszahlen ließen sich dadurch erklären, „dass diese Zahlen naturgemäß im
Laufe der Zeit schwanken“ (Plenarprotokoll 16/199, S. 21484). Da die Einbür-
gerungszahlen aber seit 2000 kontinuierlich (mit einer Ausnahme im Jahr 2006)
sinken – um insgesamt 40 Prozent –, kann von einer „natürlichen Schwankung“
keine Rede sein. Der Versuch des Parlamentarischen Staatssekretärs, die zurück-
gehende Zahl der Einbürgerungen individualisierend damit zu erklären, dass es
den Betroffenen „freigestellt“ sei, ob sie einen Antrag stellen oder nicht (ebd.),
unterstellt, Ausländerinnen und Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland
würden sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht so häufig einbürgern
lassen wollen wie in anderen Ländern (vgl. auch ebd., 21485). Dabei haben nicht
zuletzt Forschungen im Auftrag des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge
(BAMF) erbracht, dass sich die Einbürgerungsquoten in der Bundesrepublik
Deutschland verdoppeln ließen, wenn z. B. die generelle Möglichkeit der Beibe-
haltung der bisherigen Staatsangehörigkeit bestünde (vgl. Working Paper 17 des
BAMF: „Die Einbürgerung von Ausländern in Deutschland“, S. 29 und 33: Im
Jahr 2002 erklärten knapp 53 Prozent der Befragten ihre Einbürgerungsabsicht
innerhalb der nächsten zwei Jahre, wenn diese Möglichkeit bestünde; ohne die
Möglichkeit der Beibehaltung der bisherigen Staatsangehörigkeit erklärten nur
knapp 24 Prozent ihre entsprechende Einbürgerungsabsicht).

„Wir bemühen uns, den Betroffenen diese Entscheidung [zur Einbürgerung] so
einfach wie möglich zu machen“, betonte der Parlamentarische Staatssekretär
Peter Altmaier (Plenarprotokoll 16/199, S. 21484). Dies steht jedoch im Wider-
spruch zu Äußerungen z. B. seines Fraktionskollegen Stephan Mayer, der für die
CDU/CSU im Deutschen Bundestag erklärte: „Nach unserer Auffassung bedarf
es hoher Hürden, wenn man das Ziel erreichen möchte, deutscher Staatsangehö-
riger zu werden“ (Plenarprotokoll 16/120, S. 12543 f.). Auch der Umstand, dass
erst 2007 mit dem EU-Richtlinienumsetzungsgesetz zahlreiche Verschärfungen
des Staatsangehörigkeitsrechts vorgenommen wurden und Vorschläge zur Er-
leichterung der Einbürgerung (etwa von der Fraktion DIE LINKE., vgl. Bundes-
tagsdrucksache 16/1770) gerade nicht aufgenommen wurden, widerspricht der
Behauptung des Parlamentarischen Staatssekretärs, den Betroffenen solle die
Entscheidung zur Einbürgerung „so einfach wie möglich“ gemacht werden.

Schließlich erklärte der Parlamentarische Staatssekretär, dass es „ein Abkommen
der Staaten des Europarates gibt, in dem das Ziel der Vermeidung von Mehrstaa-
tigkeit formuliert ist … Dieses Übereinkommen gilt nach wie vor, und die Bun-
desrepublik Deutschland fühlt sich diesem Übereinkommen verpflichtet“ (ebd.).
Diese Äußerung ist die überraschendste der vielen fragwürdigen Behauptungen
des Parlamentarischen Staatssekretärs auf nur zwei Drucksachenseiten, denn die
Bundesrepublik Deutschland hat das Übereinkommen über die Verringerung der
Mehrstaatigkeit im Jahr 2002 gekündigt (vgl. Ausschussdrucksache 16(4)311A,
S. 32) und stattdessen das Europäische Übereinkommen zur Staatsangehörigkeit
unterzeichnet und in nationales Recht umgesetzt. Auf der Website des Bundes-
ministeriums des Innern heißt es hierzu: „Ausdrücklich lässt das Übereinkommen
alle Optionen offen, ob ein Vertragsstaat bei der Einbürgerung von Staatsange-

hörigen eines anderen Vertragsstaates Mehrstaatigkeit hinnimmt oder vermeidet“
(www.bmi.bund.de).

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/12153

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Auf welche Quellen oder Erkenntnisse stützte der Parlamentarische Staatsse-
kretär Peter Altmaier seine Behauptung, in der Bundesrepublik Deutschland
gebe es „als eines der wenigen Länder weltweit einen Rechtsanspruch auf Ein-
bürgerung“ nach einer bestimmten Aufenthaltsdauer (Plenarprotokoll 16/199,
S. 21484), und über welche vergleichende Übersicht zum Einbürgerungsrecht
etwa der Mitgliedstaaten der Europäischen Union verfügt die Bundesregie-
rung, die diese Auffassung belegen kann?

In welchen Mitgliedstaaten der Europäischen Union gibt es keine Rechts-
ansprüche auf Einbürgerung nach einer bestimmten Aufenthaltsdauer?

2. Hält die Bundesregierung die Optionspflicht des Staatsangehörigkeitsrechts
– entgegen der Einschätzung aller Sachverständigen in der Anhörung des
Innenausschusses vom 10. Dezember 2007 zum Staatsangehörigkeitsrecht
(vgl. Ausschussprotokoll 16/54) – wie der Parlamentarische Staatssekretär
Peter Altmaier für „fortschrittlich und modern“ (bitte begründen)?

3. In welchen anderen Ländern der Europäischen Union gibt es nach Kenntnissen
der Bundesregierung seit wann Elemente des ius soli im Staatsangehörigkeits-
recht, und worauf stützte der Parlamentarische Staatssekretär Peter Altmaier
in diesem Zusammenhang seine Einschätzung, die Bundesrepublik Deutschland
habe eines der „fortschrittlichsten und modernsten“ Staatsangehörigkeitsrechts-
systeme überhaupt?

4. Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Parlamentarischen Staatssek-
retärs Peter Altmaier, dass es in der Bundesrepublik Deutschland „vergleichs-
weise leicht“ sei, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben, und wenn ja,
wie wird dies begründet angesichts der im europäischen Vergleich unterdurch-
schnittlichen Einbürgerungsquote in der Bundesrepublik Deutschland bzw.
womit konkret und anhand welcher Kriterien wird diese Auffassung begrün-
det?

5. Auf welche Quellen oder Erkenntnisse stützte der Parlamentarische Staats-
sekretär Peter Altmaier seine Behauptung, in vielen Ländern, in denen es ein
kommunales Wahlrecht für Nicht-EU-Bürger gebe, sei die „Einbürgerung
schwieriger als in der Bundesrepublik Deutschland“ bzw. gebe es „jedenfalls
nicht die Elemente des Jus Soli“ (Plenarprotokoll 16/199, S. 21484)?

a) Über welche vergleichende Übersicht zum Einbürgerungsrecht etwa der
Mitgliedstaaten der Europäischen Union verfügt die Bundesregierung, die
diese Auffassung belegen kann?

b) Wie ist diese Einschätzung damit zu vereinbaren, dass in den Ländern, die
das kommunale Wahlrecht für Drittstaatsangehörige besonders früh einge-
führt haben (Dänemark, Schweden, Finnland, Niederlande), die Einbürge-
rungsquoten etwa zwei bis fünf Mal so hoch sind wie in der Bundesrepublik
Deutschland?

c) In welchen der nachfolgend genannten Länder, die ein weitgehendes Kom-
munalwahlrecht für Nicht-EU-Angehörige eingeführt haben, gibt es keine
Elemente des ius soli im Staatsangehörigkeitsrecht, wie vom Parlamen-
tarischen Staatssekretär Peter Altmaier behauptet: Belgien, Dänemark,
Estland, Finnland, Irland, Luxemburg, die Niederlande, Schweden, Island
und Norwegen?

6. Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Parlamentarischen Staatssek-
retärs Peter Altmaier, die seit dem Jahr 2000 sinkende Einbürgerungszahl sei
damit zu erklären, „dass diese Zahlen naturgemäß im Laufe der Zeit schwan-
ken“ (Plenarprotokoll 16/199, S. 21484), und wenn ja, wie begründet sie dies

angesichts des Umstandes, dass die Einbürgerungszahlen seit 2000 (mit Aus-
nahme des Jahres 2006) kontinuierlich und insgesamt um ca. 40 Prozent ge-

Drucksache 16/12153 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
sunken sind, und mit welcher Entwicklung rechnet die Bundesregierung
für das Jahr 2008, in dem Verschärfungen des Staatsangehörigkeitsrechts
durch das EU-Richtlinienumsetzungsgesetz wirksam wurden?

7. Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Parlamentarischen Staatssek-
retärs Peter Altmaier, die Bundesregierung sei „bemüht“, „den Betroffenen
diese Entscheidung [zur Einbürgerung] so einfach wie möglich zu machen“
(Plenarprotokoll 16/199, S. 21484), und wenn ja, wie ist dies damit vereinbar,
dass mit dem EU-Richtlinienumsetzungsgesetz das Einbürgerungsrecht ver-
schärft wurde und dass Forderungen von Oppositionsfraktionen und zum Teil
auch der SPD nach Einbürgerungserleichterungen (etwa durch die generelle
Zulassung der Mehrstaatigkeit) nicht entsprochen wird?

8. Wie ist es zu erklären, dass sich nach Aussage des Parlamentarischen Staats-
sekretärs Peter Altmaier die Bundesrepublik Deutschland nach wie vor dem
Übereinkommen zur Vermeidung von Mehrstaatigkeit verpflichtet fühlt
(Plenarprotokoll 16/199, S. 21485), obwohl das Übereinkommen zur Verrin-
gerung der Mehrstaatigkeit von der Bundesrepublik Deutschland gekündigt
wurde?

a) Wann genau mit welcher zeitlichen Wirkung wurde dieses Übereinkom-
men zur Verringerung von Mehrstaatigkeit aus welchen Gründen von der
Bundesrepublik Deutschland gekündigt?

b) Wie ist die benannte Äußerung des Parlamentarischen Staatssekretärs
Peter Altmaier damit vereinbar, dass die Bundesrepublik Deutschland im
Jahr 2002 darüber hinaus das Europäische Übereinkommen zur Staats-
angehörigkeit unterzeichnet hat, das nach Auskunft des Bundesministe-
riums des Innern gerade nicht das Ziel der Vermeidung von Mehrstaatig-
keit vorsieht?

c) Wann genau mit welcher zeitlichen Wirkung wurde dieses Übereinkom-
men zur Staatsangehörigkeit aus welchen Gründen von der Bundesrepu-
blik Deutschland unterzeichnet und ratifiziert?

9. Sofern sich aus den obigen Fragen und Antworten ergibt, dass sich der Par-
lamentarische Staatssekretär Peter Altmaier in einem oder in mehreren Punk-
ten bei der Beurteilung und Einordnung des deutschen Staatsangehörigkeits-
rechts im internationalen bzw. europäischen Vergleich geirrt haben sollte,
folgt hieraus, dass sich die Bundesregierung zukünftig für Erleichterungen
des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts einsetzen wird, weil die Auffas-
sung, dieses sei bereits „eines der fortschrittlichsten und modernsten … über-
haupt“, in Kenntnis der Fakten nicht aufrecht erhalten lässt (bitte begründen)?

10. In welcher Weise wird die Bundesregierung die wesentliche Empfehlung des
Direktors des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, Dr. Reiner
Klingholz, berücksichtigen, der nach den dringendsten Forderungen, die sich
aus der stark beachteten und viel diskutierten Studie „Ungenutzte Potentiale“
ergeben, befragt antwortete: „… Und vor allem: Einbürgerung sollte erleich-
tert werden“ (FAZ, 27. Januar 2009)?

11. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dem Umstand, dass
sich laut der Studie „Ungenutzte Potentiale“ der Integrationserfolg bei Mi-
grantinnen und Migranten mit erfolgter Einbürgerung deutlich verbessert?

Berlin, den 2. März 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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