BT-Drucksache 16/1204

Auswirkungen des Zuwanderungsgesetzes sofort evaluieren

Vom 6. April 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1204
16. Wahlperiode 06. 04. 2006

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dagdelen, Dr. Hakki Keskin, Jan Korte,
Kersten Naumann, Wolfgang Neskovic, Petra Pau und der Fraktion DIE LINKE.

Auswirkungen des Zuwanderungsgesetzes sofort evaluieren

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Im Koalitionsvertrag wurde zwischen den die Regierung tragenden Parteien
CDU, CSU und SPD eine Evaluation des Zuwanderungsgesetzes mit Blick
auf das Problem der so genannten Kettenduldungen angekündigt. Die Be-
fürchtungen vieler Flüchtlingsinitiativen und karitativer Organisationen, dass
dies misslingen würde, haben sich leider bestätigt. Immer noch halten sich
200 000 Menschen in Deutschland mit einer so genannten Duldung auf,
davon fast 50 000 seit mehr als zehn Jahren. Die im Zuwanderungsgesetz
verankerten rechtlichen Möglichkeiten haben Kettenduldungen nicht ver-
hindert oder beendet. In einer ähnlich prekären Lage wie die „geduldeten Per-
sonen“ befinden sich Asylsuchende, die sich fünf Jahre und länger in
Deutschland aufhalten, ohne dass das Ende ihres Asylverfahrens in Aussicht
steht. Diesen droht außerdem, dass sie nach Beendigung ihres Asylverfahrens
ebenfalls lediglich mit einer Duldung in Deutschland bleiben dürfen und sich
dieser Status verstetigt.

2. Ansätze für eine Integrationspolitik haben mit dem Zuwanderungsgesetz eine
gesetzliche Basis erhalten. Zu begrüßen ist, dass mit dem Zuwanderungsge-
setz ein Recht auf entsprechende Maßnahmen eingeführt wurde. Ein wichti-
ger Aspekt der Integration ist dabei das Erlernen der deutschen Sprache. Die
Angebote sind jedoch unzureichend. Größeres Augenmerk hat der Gesetzge-
ber seinerzeit auf Sanktionen gegen jene Zuwanderer gerichtet, denen eine
Verweigerungshaltung unterstellt wird. Die bisher geschaffenen Möglichkei-
ten für Zugewanderte und bereits länger hier lebende Migrantinnen und Mi-
granten sind daher nicht ausreichend, weder im Hinblick auf die Bedarfsde-
ckung noch im Hinblick auf die materiellen Voraussetzungen, Sprachkurse in
angemessener Qualität zu gewährleisten. Es ist nicht möglich, gezielt auf das
vorhandene Bildungsniveau der Kursteilnehmer/-innen einzugehen. Die
Quote derjenigen, die den abschließenden Sprachtest nicht bestehen, ist auch
deshalb entsprechend hoch.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. zum 1. Juni 2006 einen schriftlichen Bericht zur Evaluation zum Problem der
„Kettenduldungen“ und von Menschen, die sich seit fünf Jahren und mehr in
einem Asylverfahren befinden, vorzulegen. Diese Evaluation stellt dar:

a) Gründe, die zu wiederholten Verlängerungen von Duldungen führen;

Drucksache 16/1204 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

b) Gründe, die zu solch unverhältnismäßig langen Asylverfahren führen;

c) Art und Weise, wie die Gesetze und Verordnungen, mit denen das Ziel der
Abschaffung der Kettenduldung erreicht werden sollte, von den Aus-
länderbehörden angewandt werden, insbesondere § 25, Abs. 4 und 5
AufenthG;

d) Möglichkeiten, wie Asylverfahren zugunsten der Betroffenen verkürzt
werden können;

e) die Zahl der direkt und indirekt betroffenen Minderjährigen (also Minder-
jährige, die unbegleitet eingereist sind, zurückgelassen wurden oder die in
Deutschland geboren wurden und deren Erziehungsberechtigte sich mit
einer Duldung in Deutschland aufhalten);

f) wie viele der Betroffenen trotz der dem entgegenstehenden Restriktionen
im Aufenthaltsrecht Zugang zum Arbeitsmarkt haben.

2. in der bereits laufenden Evaluation der Integrationskurse folgende Fragestel-
lungen ausdrücklich zu berücksichtigen:

a) qualitative Untersuchungen: zur Zielgruppenorientiertheit der Kurse, ins-
besondere in Bezug auf bereits vorhandene Sprachkenntnisse, das allge-
meine Bildungsniveau und die Berufsfeldorientierung der Teilnehmen-
den; Erfolg der sprachlichen Vermittlung jenseits reiner Testergebnisse;
Bedeutung der Kosten solcher Sprachkurse in der individuellen Entschei-
dung bei zugangsberechtigten Migrantinnen und Migranten;

b) die Positionen von Trägern der Sprachkursangebote und Sprachlehrer/-in-
nen, insbesondere bezogen auf ihre Stellungnahme zum fachfremden Ver-
waltungsaufwand, pädagogische Bedenken hinsichtlich der Größe der
Sprachkurse und die immer weiter sinkende Vergütung der Sprachlehrer/-
innen;

c) die Notwendigkeit, das bestehende Angebot – Anzahl von Kursen und
Stundenzahl der Kurse – zu erweitern und die Förderung so auszustatten,
dass die Teilnehmenden deutlich verbesserte Lernbedingungen vorfinden;

d) Vergleich mit ähnlichen Kursen in anderen EU-Staaten, vor allem bezogen
auf Finanzierung, Stundenzahl, Differenzierung des Angebots in Bezug
auf Sprach- und Bildungsniveau der Teilnehmenden;

e) die Möglichkeiten einer sinnvollen Verknüpfung von (vor-)schulischer
Spracherziehung und Sprachkursen für die Erziehungsberechtigten im
Rahmen von Integrationskursen;

f) das Erreichen der vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorgege-
benen Lernziele in den Orientierungskursen.

Berlin, den 5. April 2006

Ulla Jelpke
Sevim Dagdelen
Dr. Hakki Keskin
Jan Korte
Kersten Naumann
Wolfgang Neskovic
Petra Pau
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/1204

Begründung

Vor dem Hintergrund einer Zahl von 200 000 Personen, die sich mit einer Dul-
dung oder einer Aufenthaltsgestattung, also mit einem unsicheren Status und
ständiger Angst vor Abschiebung derzeit in Deutschland aufhalten, erscheint es
wenig zielführend, wenn eine entsprechende Evaluation nicht bald stattfindet.
Dass das Problem der Kettenduldungen nicht gelöst ist, bedarf vor dem Hinter-
grund dieser Zahlen keiner weiteren Evaluation. Daher sollte diese sich vor
allem der Frage widmen, in wie fern eine restriktive Auslegung der derzeit be-
stehenden „Kann“-Bestimmungen in § 25 Abs. 4 und 5 AufenthG durch die
Ausländerbehörden wesentlicher Grund für diese Kettenduldungen ist. Der oft
angegebene Hauptgrund für Kettenduldungen, der häufige Verweis von interes-
sierter Seite auf „Verletzung der Mitwirkungspflichten bei der Passbeschaffung“
und Ähnliches ist an dieser Stelle nicht statthaft. Aus den von der Bundesregie-
rung vorgelegten Zahlen geht ein Hinweis darauf zumindest nicht hervor.

Zu untersuchen ist in diesem Zusammenhang auch, warum trotz stetig abneh-
mender Zahlen von Asylbewerbern und -bewerberinnen und ihrer massenhaften
Abweisung im Schnellverfahren (wegen „offensichtlich unbegründeter“ oder
„offensichtlich unbeachtlicher“ Asylanträge) immerhin über 50 000 Menschen
seit über zehn Jahren mit einer Aufenthaltsgestattung in Deutschland leben. Hier
ist die Praxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zu unter-
suchen. Die Härtefallregelung nach § 23a hat sich dabei als wenig hilfreich er-
wiesen. Der Zugang zu den entsprechenden Härtefallkommissionen auf Länder-
ebene ist oft nur schwer zu erreichen, und selbst im Falle eines positiven Ent-
scheids können die Landesinnenminister die Erteilung einer Aufenthaltserlaub-
nis mit ihrem Veto noch verhindern.

Zur Evaluation der Sprachkurse stellte eine gemeinsame Resolution von Anbie-
tern von Sprachkursen, Migrantenverbänden und Lehrkräften im Rahmen einer
gemeinsamen Auswertung auf Initiative der GEW Bayern fest: „Die vorgese-
hene Evaluation der Kurse im Jahr 2007 ist überflüssig, die Probleme liegen auf
dem Tisch, Handlungsbedarf besteht sofort.“ Kritisiert werden vor allem der
hohe, unvergütete Verwaltungsaufwand, die geringe Vergütung für die Kurse
überhaupt, die zu große Klassen notwendig macht, die Begrenzung der Stunden-
zahl auf 630. Weiter aus der Resolution: „Wenn die Politik die Sprachkurse chro-
nisch unterfinanziert und die Kursangebote zynisch den Kräften des Markts
überlässt, wird man nicht Integration fördern, sondern im Gegenteil über Jahr-
zehnte gewachsene Strukturen und Erfahrungen im Bereich der Deutschkurse
für Migrantinnen und Migranten kaputtmachen.“ Die Abbrecherquote ist nicht
zuletzt aufgrund der skizzierten materiellen Rahmenbedingungen, in denen die
Kurse stattfinden, enorm hoch. Eine effektive Sprachvermittlung findet nicht
statt. Hinzuzufügen ist, dass für Migrantinnen und Migranten, die häufig nur in
gering qualifizierten und niedrig bezahlten Jobs tätig sind, auch die niedrig
scheinenden Kursgebühren eine hohe Hürde bedeuten oder eine Teilnahme
faktisch unmöglich machen.

Eine Evaluation kann dennoch sinnvoll sein, um den Bedarf richtig einzuschät-
zen und die Kritik der professionellen Anbieter von Sprachkursen, die nicht pro-
fitorientiert, sondern aus echtem Interesse handeln, in die Neukonzeptionierung
der Förderkonzepte integriert werden können.

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