BT-Drucksache 16/1199

Die Welt zu Gast bei Freunden - Für eine offenere Migrations- und Flüchtlingspolitik in Deutschland und in der Europäischen Union

Vom 6. April 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1199
16. Wahlperiode 06. 04. 2006

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dagdelen, Dr. Hakki Keskin, Jan Korte,
Kersten Naumann, Wolfgang Neskovic, Petra Pau und der Fraktion DIE LINKE.

Die Welt zu Gast bei Freunden – Für eine offenere Migrations- und
Flüchtlingspolitik in Deutschland und in der Europäischen Union

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die elf im Jahr 2006 in deutsches Recht umzusetzenden asyl- und aufent-
haltsrechtlichen Richtlinien der Europäischen Union fallen weit hinter ur-
sprünglich liberalere Entwürfe der Europäischen Kommission zur Verein-
heitlichung der unterschiedlichen Rechtssysteme und -inhalte zurück. Insbe-
sondere die deutsche Bundesregierung bzw. ihre Vertretung im Rat wirkte
dabei als „Bremser“ und verhinderte, dass weitergehende europäische Min-
deststandards beschlossen wurden. Forderungen von Nichtregierungsorgani-
sationen, Kirchen, vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen
und auch vom Europäischen Parlament wurden in diesem exklusiven
Einigungsprozess der Regierungen der Mitgliedstaaten weit gehend übergan-
gen. Die Richtlinien der EU sind im Ergebnis nicht von dem Wunsch nach
einer Liberalisierung des Asyl- und Ausländerrechts, sondern von einem
„Geist der Abwehr“ geprägt.

2. Der parlamentarische Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments hat we-
gen der Missachtung aller 174 Änderungsvorschläge der Abgeordneten in
Bezug auf die Richtlinie 2005/85/EG vom 1. Dezember 2005 – die so ge-
nannte Asyl-Verfahrensrichtlinie, die unter anderem (Ausschluss-)Regelun-
gen zu „sicheren“ Herkunfts- und Drittstaaten vorsieht – beim Europäischen
Gerichtshof Klage erhoben.

3. Der vorliegende Referentenentwurf des Bundesministeriums des Innern zur
Umsetzung der besagten EU-Richtlinien (Stand: 3. Januar 2006) bedeutet
eine nochmalige Verschlechterung für Flüchtlinge, Migrantinnen und Mig-
ranten, weil mit ihm die Möglichkeiten oder auch zwingenden Bestimmun-
gen der EU-Richtlinien im Interesse der Menschen und zum Schutz von Asyl
Suchenden nicht oder nur unzureichend genutzt werden, während zugleich
zahlreiche Verschärfungen der nationalen Gesetzeslage enthalten sind, die
mit den umzusetzenden Richtlinien nicht zusammenhängen und folglich
auch nicht mit diesen begründet werden können (etwa die beabsichtigte Ein-
führung ausreichender deutscher Sprachkenntnisse vor einer Einreise als Be-
dingung des Ehegattennachzugs). Die EU-Richtlinien stellen lediglich Min-
deststandards dar und sehen zumeist ausdrücklich vor, dass günstigere Be-
stimmungen durch die Mitgliedstaaten eingeführt oder beibehalten werden
können.

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II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. den vorliegenden Gesetzentwurf vom 3. Januar 2006 grundlegend neu zu
überarbeiten. Dabei soll die Bundesregierung eine Erleichterung der Freizü-
gigkeit auch für Drittstaatenangehörige und eine Verbesserung des Flücht-
lingsschutzes und -verfahrens anstreben, die über die Mindestbestimmungen
der EU-Richtlinien im Interesse der Betroffenen hinausgehen. Die vorliegen-
den Stellungnahmen der nach § 47 Abs. 3 der Gemeinsamen Geschäftsord-
nung der Bundesregierung angehörten Verbände sollten dabei umfassend be-
rücksichtigt werden;

2. sich nicht nur auf nationaler, sondern auf europäischer Ebene zu asyl- und
aufenthaltsrechtlichen Fragen im Sinne dieses Antrags einzusetzen. Ziel ihres
Handelns soll es sein, dass Flüchtlinge und Menschen in Not nicht abgewie-
sen werden und effektiven Schutz erhalten und dass die aufenthalts- und
asylrechtlichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union
möglichst offen ausgestaltet werden. Den Voten des Europäischen Parla-
ments sollte die Bundesregierung dabei maßgeblich Rechnung tragen.

III. Die geplanten Gesetzesänderungen im Zusammenhang mit der Umsetzung
der EU-Richtlinien lehnt der Deutsche Bundestag insbesondere in folgenden
Punkten ab:

a) die Einschränkung des Ehegattennachzugs (durch die Forderung nach deut-
schen Sprachkenntnissen vor der Einreise eines Ehegatten, durch die Einfüh-
rung eines Mindestalters von 21 Jahren und durch die Erhebung des pauscha-
len „Scheinehen“-Verdachts zur Gesetzesnorm);

b) die Umsetzung der so genannten Qualifikationsrichtlinie zum Flüchtlings-
schutz und -verfahren (Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004), die nach
Auffassung etwa des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen
in zahlreichen Punkten unzureichend ist;

c) die Ausweitung von Haftgründen und Inhaftierungsmöglichkeiten, zumal der
grundrechtlich zwingende Richtervorbehalt nicht gewahrt bleibt (regelmä-
ßige „Zurückweisungshaft“ auf Verdacht, „Durchbeförderungshaft“ ohne
richterliche Anhörung, Festnahmekompetenz und Abschiebungshaftanord-
nung durch die Ausländerbehörden);

d) den unzureichenden Schutz von Opfern des Menschenhandels, der Zwangs-
arbeit und der Zwangsprostitution, die nur dann bzw. nur so lange ein zeitlich
begrenztes Aufenthaltsrecht erhalten sollen, wie sie als Zeugen/Zeuginnen
im Rahmen eines Strafprozesses benötigt werden;

e) die Verschärfungen von Anforderungen zur Statusverbesserung im Rahmen
des Aufenthaltsgesetzes, insbesondere soweit diese nicht von den EU-Richt-
linien gefordert werden (etwa hinsichtlich der Erteilung einer Niederlas-
sungserlaubnis oder einer Aufenthaltserlaubnis zu Studienzwecken).

Darüber hinaus fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf,

die Umsetzung der EU-Richtlinien zum Anlass zu nehmen, um insbesondere in
folgenden Punkten gesetzgeberisch initiativ zu werden:

f) Klarstellung der gesetzlichen Regelungen zur Vermeidung von Kettendul-
dungen (§ 25 Abs. 4 und 5 AufenthG) und Verankerung einer dauerhaften
Bleiberechtsregelung im Aufenthaltsgesetz.

g) Entkriminalisierung der humanitären Hilfe für Statuslose („Illegale“) und Si-
cherung ihrer fundamentalen Menschenrechte; Aufhebung der behördlichen
Meldepflicht (§ 87 Abs. 2 AufenthG); Schaffung von Legalisierungsmög-
lichkeiten.

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h) Abschaffung diskriminierender Gesetze (Asylbewerberleistungsgesetz) und
diskriminierender Vorschriften, etwa in Bezug auf die Beschränkung der
räumlichen Bewegungsfreiheit von Asyl Suchenden und Geduldeten und auf
ihre Zwangsunterbringung in entpersönlichenden Massenunterkünften (z. B.
in so genannten Ausreiseeinrichtungen).

i) Beseitigung der Abschiebungshaft oder zumindest ihre radikale Einschrän-
kung (z. B. auf maximal drei Monate; keine Inhaftierung von Kindern, El-
tern, psychisch oder physisch Kranken, alten Menschen; Bereitstellung einer
anwaltlichen Vertretung usw.).

j) Erarbeitung eines Flüchtlingsrechts, das der Neu-Orientierung der EU-Richt-
linie an der Schutzbedürftigkeit der Flüchtlinge, den Anforderungen der GFK
und den Empfehlungen des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Na-
tionen entspricht (vgl. dessen Stellungnahme vom Januar 2006); Rückkehr zu
einem „fairen“ Asylverfahren mit umfassenden Beratungsmöglichkeiten,
ausreichenden Rechtsmittelfristen und Rechtsmittelbehelfen usw.; genereller
Verzicht auf Widerrufe von Flüchtlingsanerkennungen bei geänderten Lage-
bedingungen.

Berlin, den 6. April 2006

Ulla Jelpke
Sevim Dagdelen
Dr. Hakki Keskin
Jan Korte
Kersten Naumann
Wolfgang Neskovic
Petra Pau
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Die ins deutsche Recht umzusetzenden elf Richtlinien der Europäischen Union
zu asyl- und aufenthaltsrechtlichen Fragen spiegeln in wesentlichen Teilen die
Bemühungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union wider, ihre jeweili-
gen restriktiven nationalen Sonderregelungen möglichst beizubehalten. Viele
dieser nationalen Regelungen wurden deshalb als „Kann“- oder Ausnahmebe-
stimmungen in die Richtlinien mit aufgenommen, und sie wirken nun als „An-
reiz“ für die übrigen Mitgliedstaaten, ihre Gesetzeslage diesen Mindestvorgaben
anzugleichen, d. h. sie inhaltlich restriktiver auszugestalten. Auf diese Gefahr
des „downgradings“ insbesondere der Asylstandards hatte der Hohe Flücht-
lingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) von Beginn an hingewiesen,
und in Bezug auf Slowenien hat sich diese Gefahr zuletzt verwirklicht (so der
Sprecher des UNHCR, Ron Redmond, in einer Mitteilung vom 10. Februar
2006).

Insbesondere die deutsche Bundesregierung bzw. ihre Vertretung im Rat hat ur-
sprünglich weitergehende Vorschläge der Europäischen Kommission zurückge-
wiesen und ihre nationalen Besonderheiten vielfach als „europäische Norm“
durchgesetzt (etwa in Bezug auf die „Residenzpflicht“ und Arbeitsverbote für
Asyl Suchende; nicht durchsetzen konnte sich Deutschland hingegen mit seiner
isolierten Position zur Staatlichkeit der Verfolgung). Vorschläge und Einwände
des Europäischen Parlaments, von Flüchtlingsverbänden oder auch des UNHCR
wurden im Prozess der europäischen „Harmonisierung“ des Asyl- und Aufent-
haltsrechts weit gehend nicht beachtet und übergangen. Die Klage des Europäi-
schen Parlaments gegen die am 1. Dezember 2005 vom Rat beschlossene Asyl-

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„Verfahrensrichtlinie“ ist hierfür ein eindrücklicher Beleg. Der SPD-Europaab-
geordnete Wolfgang Kreissl-Dörfler begrüßte die Klageerhebung und rechnet
im Übrigen damit, dass der Gerichtshof die Richtlinie „kippen“ wird. Der wenig
transparente politische Entscheidungsprozess, der von den Exekutiven (d. h. In-
nenministerien) der Mitgliedstaaten dominiert wurde und der sich über legisla-
tive Kontrollen leichtfertig hinwegsetzte, ist einer der Gründe dafür, warum die
Europäische Union von vielen Bürgern und Bürgerinnen nicht als „ihre“ politi-
sche Bezugseinheit wahrgenommen und empfunden wird. Prof. Dr. Kippels be-
klagt (in: InfAuslR 1/2005, 1 ff., insbesondere 5 ff.) die „politische Strategie der
Bundesregierung“, die mit zahlreichen Voten dazu beigetragen habe, dass Stan-
dards im Asyl- und Zuwanderungsbereich europaweit „auf den kleinsten ge-
meinsamen Nenner“ herabgesenkt wurden.

Inhaltlich atmen die Richtlinien, trotz mancher Verbesserungen im Detail, den
„Geist der Abschottung“. Es wird insbesondere die Zielrichtung erkennbar, dass
die Europäische Union mittel- und langfristig die Aufgabe der Aufnahme und des
Schutzes von Asyl Suchenden und Flüchtlingen abzuwehren und den jeweilig
durchreisten Transitstaaten aufzubürden versucht. Diese Länder, vor allem in
Nordafrika und Osteuropa, sind hiermit jedoch strukturell überfordert. Die Neu-
regelung „sicherer“ Herkunfts- und Drittstaaten auf europäischer Ebene und die
Festschreibung möglichst abschreckender Lebens- und Unterbringungsbedingun-
gen für Flüchtlinge durch die EU-Richtlinien bedeuten, dass sich die Mitglied-
staaten der EU ihren internationalen Verpflichtungen tendenziell entziehen wol-
len, obwohl die Hauptlast der Aufnahme von Asyl und Schutz Suchenden ohnehin
traditionell von den direkten Nachbarstaaten der Herkunftsländer getragen wird.

Auch die Rechte von so genannten Drittstaatenangehörigen, d. h. von Men-
schen, die nicht aus Mitgliedstaaten der EU kommen, werden durch die Richt-
linien und insbesondere durch den Gesetzentwurf des Bundesministeriums des
Innern massiv eingeschränkt. Dies betrifft vor allem die geplanten Einschrän-
kungen des Ehegattennachzugs, die vielfach als Verstoß gegen Artikel 6 des
Grundgesetzes und Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention an-
gesehen werden.

Angesichts des Umstands, dass die Zahl der in Deutschland um Schutz nachsu-
chenden Flüchtlinge sich auf einem „historisch“ niedrig zu nennenden Niveau
befindet und Deutschland zugleich mittel- und langfristig auf Einwanderung an-
gewiesen ist, vor allem aber angesichts des Grundsatzes der Unteilbarkeit von
Menschenrechten und der zwingenden Verpflichtung zu einem wirksamen
Schutz von Flüchtlingen ist es dringend an der Zeit, die in den letzten beiden
Jahrzehnten geschaffenen Restriktionen im Bereich des Flüchtlings-, aber auch
im Aufenthaltsrecht wieder zurückzunehmen.

Die Bundesregierung jedoch nutzt den Umstand, dass die EU-Richtlinien in na-
tionales Recht umgesetzt werden müssen (bzw. schon hätten umgesetzt werden
müssen), dafür, um weitere Verschlechterungen im Ausländer-, Asyl- und auch
Staatsangehörigkeitsrecht vorzuschlagen, die sich zum Teil nicht einmal aus den
Richtlinien ableiten lassen.

Viele der beteiligten bundesweiten Fachverbände mahnen stattdessen überfällige
Änderungen der nationalen Gesetzeslage (etwa zur Beendigung von Ketten-
duldungen) an, die jedoch nicht in dem Gesetzentwurf enthalten sind. Die neu
zu regelnden Gesetzesinhalte sind hoch komplex, und zahlreiche Verbände haben
ausdrücklich moniert, dass die ihnen eingeräumte Zeit zur Stellungnahme zu kurz
gewesen sei, um den vorliegenden Gesetzentwurf umfassend und substantiiert
prüfen zu können. Dennoch kann bei der Überarbeitung des Gesetzentwurfs auf
die zahlreich eingegangenen, äußerst qualifizierten Stellungnahmen der Ver-
bände zurückgegriffen werden. Auch die Forderung einiger Verbände nach einer
öffentlichen Anhörung zum Gesetzentwurf unterstützen wir nachdrücklich.

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