BT-Drucksache 16/11938

Gaza-Krieg

Vom 12. Februar 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/11938
16. Wahlperiode 12. 02. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Norman Paech, Monika Knoche, Wolfgang Gehrcke,
Heike Hänsel, Inge Höger und der Fraktion DIE LINKE.

Gaza-Krieg

Fast genau ein Jahr nach der Nahostkonferenz von Annapolis hat Israel am
27. Dezember 2008 seinen Krieg gegen Gaza begonnen. Die erste Bilanz der
drei Wochen dauernden Militäroffensive ist erschreckend: Nach Angaben der
UN vom 19. Januar 2009 wurden 1 340 Palästinenser und Palästinenserinnen
getötet, darunter sind 460 Kinder und 106 Frauen. 5 320 Menschen wurden
verletzt, darunter 1 855 Kinder, wobei ein Großteil der Verletzungen schwer-
wiegend ist. Doch täglich steigen die Zahlen immer noch. Die Vereinten Natio-
nen gehen davon aus, dass es sich bei der Hälfte aller Todesopfer um Zivilisten
handelt. 90 000 Menschen wurden aus ihrem Zuhause vertrieben. Auf Israels
Seite gab es 13 Todesopfer, davon sind vier Zivilisten, und 183 Verletzte.

UN-Generalsekretär Ban Ki-moon zeigte sich bei seiner Pressekonferenz an-
lässlich seines Besuchs im Gazastreifen zwei Tage nach Ausrufung des Waffen-
stillstandes entsetzt und schockiert über das Ausmaß der Zerstörung.

Nach Angaben von Human Rights Watch (HRW) und dem Ex-Pentagon-Exper-
ten Marc Garlasco hat sich die israelische Regierung mehrerer Kriegsverbre-
chen in Gaza schuldig gemacht. Human Rights Watch hat mehrere Fälle doku-
mentiert, bei denen Frauen und Kinder umgebracht worden sein sollen. Nach
Marc Garlasco ist der massive Einsatz von konventioneller Artillerie in dicht
besiedelten Wohngebieten ein weiteres Indiz dafür, dass Israel sich der Kriegs-
verbrechen schuldig gemacht hat. Israel stünden wesentlich präzisere Ge-
schosse zur Verfügung, als die in Gaza eingesetzten.

Israel wird ferner vorgeworfen, in ihrer Militäroffensive Phosphorbomben ver-
wendet zu haben. Nach internationalem Recht ist der Einsatz von Phosphor-
munition nur in offenem Gelände gestattet. Eine Fact-finding-Mission von
Human Rights Watch hat im Gazastreifen mit der Untersuchung der Vorwürfe
begonnen. Bereits in den ersten Tagen haben HRW-Experten eindeutige Indi-
zien dafür gefunden, dass die weißen Phosphor enthaltenden Geschosse auch in
dicht besiedelten Stadtteilen und beim Beschuss des UN-Warenlagers in Gaza
Stadt eingesetzt wurden.

Die UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, fordert unab-

hängige und transparente Untersuchungen um Verstöße gegen das humanitäre
Völkerrecht zu ermitteln und Verantwortlichkeiten festzustellen. Ebenso ver-
langen der UNO-Sonderbeauftragte für das besetzte Westjordanland und den
Gazastreifen, Richard Falk, und der Außenbeauftragte der EU, Javier Solana,
unabhängige Ermittlungen.

Nach Angaben des Internationalen Roten Kreuzes (IRK) befinden sich in Gaza
in den Ruinen, im Boden oder anderswo scharfe Bomben, Panzergranaten und

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Geschosse, die dringend entschärft werden müssen. Besonders gefährdet sind
Kinder und Heranwachsende. Kürzlich wurden von Blindgängern im Osten von
Gaza Stadt zwei Kinder in den Tod gerissen. Internationale Expertise und
Unterstützung bei der sofortigen Entfernung aller Geschosse sind dringend not-
wendig, da in Gaza die finanziellen und technischen Mittel fehlen. Die Kon-
vention über bestimmte konventionelle Waffen (CCW) von 1980 sieht vor, dass
die Vernichtung von nicht explodierter Munition Aufgabe der kriegführenden
Parteien ist oder von ihnen bezahlt werden muss.

Nach Informationen der UNO sollen Hamas-Polizisten Hilfsgüter für die Zivil-
bevölkerung beschlagnahmt haben.

Trotz des derzeitigen Waffenstillstands kann die Gewalt jeden Tag wieder von
Neuem eskalieren, wenn die vitalen Interessen der palästinensischen Bevölke-
rung, die Blockade aufzuheben und endlich die Zweistaatenlösung auf Grund-
lage der Kernbeschlüsse der UNO umzusetzen, nicht dringend und ernsthaft an-
gegangen werden. Nach dem Regierungswechsel in den USA und im Vorfeld
der Neuwahlen in Israel sind entschiedene Friedensinitiativen, insbesondere
auch durch den UN-Sicherheitsrat selbst, unverzichtbarer Ausdruck der Verant-
wortung der Weltgemeinschaft für dauerhaften Frieden, Sicherheit und Ent-
wicklung im Nahen Osten. Allerdings hat dauerhafter Frieden in der Region
nur eine Chance, wenn die arabischen Anrainerstaaten, insbesondere Ägypten,
Jordanien, Libanon und Syrien, in Friedensgespräche mit einbezogen werden.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass es sich bei der israelischen
Militäroffensive und dem Bombardement des Gazastreifens um die Aus-
übung des Selbstverteidigungsrechts nach Artikel 51 der UNO-Charta wegen
palästinensischer Raketenbeschüsse handelt?

Wenn ja, wie beurteilt sie die Ausübung dieses Rechts durch Israel mit den
nun offenbar gewordenen Folgen im Hinblick auf den völkerrechtlichen
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit?

2. a) Stimmt es, dass die Bundesregierung den Gazastreifen als nach wie vor
von Israel besetztes Gebiet ansieht?

b) Wenn ja, teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass es sich zwischen
Israel und den Palästinensern um einen internationalen bewaffneten Kon-
flikt handelt?

c) Wenn nein, warum nicht?

3. Ist der Bundesregierung bekannt gewesen, dass der Waffenstillstand vom
Juni 2008 spätestens im November 2008 von der israelischen Armee gebro-
chen wurde, als diese in den Gazastreifen eindrang und sechs Menschen
tötete und die Kassam-Raketenabschüsse als Reaktion auf diese Gewalttat
erfolgte?

Wenn ja, welche diplomatischen Anstrengungen hat sie angesichts dieser
Vorkommnisse unternommen?

4. Wie begründet die Bundesregierung ihre Haltung, trotz Vorwürfen unabhän-
giger internationaler Beobachter, Israel habe sich Kriegsverbrechen und
Menschenrechtsverletzungen im jüngsten Krieg im Gazastreifen schuldig
gemacht, die Bildung einer Internationalen Kommission zur Untersuchung
dieser Vorwürfe zu blockieren?

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5. a) Wird die Bundesregierung, auch im Rahmen der EU, eine Liste aller mit
deutschen und EU-Hilfsgeldern aufgebauten Entwicklungsprojekte im
Gazastreifen erstellen, die durch die israelischen Bombardierungen zer-
stört wurden?

Wenn nein, weshalb nicht?

b) Wenn ja, werden die Bundesregierung und die EU dafür gegenüber der
israelischen Regierung Schadenersatzforderungen erheben?

Wenn nein, weshalb nicht?

6. Wie könnte nach Auffassung der Bundesregierung die israelische Regie-
rung internationalem Recht folgend zur Verantwortung gezogen werden,
wenn sich die Vorwürfe bestätigen, dass Israel in seiner Militäroffensive
Phosphorbomben verwendet hat?

7. a) Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über den Einsatz
uranhaltiger Munition durch die israelische Armee bei der Militäroffen-
sive in Gaza vor?

b) Falls keine Kenntnisse vorliegen, wie gedenkt die Bundesregierung sich
Kenntnisse zu verschaffen?

8. a) Was unternimmt die Bundesregierung, um die Öffnung der Grenzen
nach Gaza durch die israelische Regierung zu erreichen, um die Versor-
gung der Menschen in Gaza mit lebensnotwendigen Gütern zu gewähr-
leisten, die während der Blockade über die auch für den Waffenschmug-
gel genutzten Tunnel erfolgte?

b) Wie bewertet sie die US-amerikanische Forderung nach Öffnung der
Grenzen zu Israel?

9. a) Was will die Bundesregierung vor dem Hintergrund, dass die Konven-
tion über bestimmte konventionelle Waffen (CCW) von 1980 vorsieht,
dass die Vernichtung von nicht explodierter Munition Aufgabe der
kriegführenden Parteien ist oder von ihnen bezahlt werden muss, unter-
nehmen, damit Israel die Verpflichtung erfüllt?

b) Sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit von Israel Reparation für
Gaza zu verlangen, um die Kriegsschäden zu beheben?

10. Welche diplomatischen Anstrengungen hat die Bundesregierung unter-
nommen, um das demokratische Recht der Pressefreiheit gegenüber Israel
zu vertreten, damit während der Militäroffensive Journalistinnen und Jour-
nalisten Zutritt zum Gazastreifen erhalten?

11. a) Welche Schritte sind für die Bundesregierung denkbar, um die Hamas
zu einem politischen Prozess zu verpflichten und deren politische Posi-
tionen gerade auch bezüglich Israel korrigiert zu bekommen?

b) Wenn sie weiterhin eine Einbeziehung der Hamas ablehnt, mit welcher
Alternative?

12. Welche Anstrengungen wird die Bundesregierung unternehmen, um auf
den UN-Sicherheitsrat und seine fünf ständigen Mitglieder einzuwirken,
die einschlägigen Resolutionen der Vereinten Nationen und ihres Sicher-
heitsrates durch- und umzusetzen?

13. a) Wie will die Bundesregierung als Teil der EU im Nahostquartett stärker
auf die Ausarbeitung und Umsetzung einer politischen Lösung Einfluss
nehmen?

b) Welche Rolle misst die Bundesregierung der Türkei zu, in diesem Kon-

flikt im Sinne einer Lösung zu wirken?

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14. Welche Anstrengungen wird die Bundesregierung unternehmen, um die
arabischen Anrainerstaaten, insbesondere Ägypten, Jordanien, Libanon
und Syrien, in die Friedensgespräche mit einzubeziehen?

15. a) Was unternahm und unternimmt die Bundesregierung, um ihrer Ver-
pflichtung aus der Resolution 1325 zum Schutz von Frauen und Mäd-
chen in Kriegs- und Krisengebieten im Gazastreifen nachzukommen?

b) Wie wird die Bundesregierung sich dafür einsetzen, dass der Schutz von
Kindern und Frauen ein Schwerpunkt bei der zukünftigen Friedens-
sicherung wird, und wird sie die Beteiligung von Frauen für alle Berei-
che der Friedenssicherung einfordern?

c) Wird die Bundesregierung insbesondere die Beteiligung von israeli-
schen und palästinensischen überparteilichen Frauen-Friedensinitiati-
ven, wie z. B. die Koalition für Frieden, an der Ausgestaltung und Um-
setzung von Lösungsvorschlägen für den palästinensisch-israelischen
Konflikt fordern?

16. Ist der Bundesregierung bekannt, ob Israel die De-facto-Kontrolle über die
Gasvorkommen vor der Küste des Gazastreifens übernommen hat, und
wenn ja, welches Konfliktpotenzial misst sie dieser Tatsache bei?

17. Über welche Kenntnisse verfügt die Bundesregierung, die die Meldung der
israelischen Presse (Haaretz, 15. Januar 2009) bestätigen, dass bei den
Waffenstillstandsverhandlungen von israelischer Seite versucht werden
soll, die Palästinenser zu bewegen, auf ihre Rechte an den Off-shore-Gas-
vorkommen zu verzichten?

18. Wie ist die Bundesregierung aktiv geworden, und was wird sie unterneh-
men, um Verletzungen des jetzigen Waffenstillstands zu verhindern, der
zunächst von Gaza und danach von Israel aus erfolgte?

19. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Androhung der
Hamas, die Raketenbeschüsse auf Israel nicht zu verhindern, solange die
Blockade des Gazastreifens anhält, und welche Initiativen werden diesbe-
züglich von ihr ausgehen?

20. Ist die Hamas-Führung nach Kenntnis der Bundesregierung bei Öffnung
der Grenzen nur zu einem befristeten oder zu einem dauerhaften Waffen-
stillstand bereit?

Und wie wird die eine bzw. andere Antwort von der Bundesregierung be-
wertet?

21. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über Hilfsgüterbeschlagnah-
mung durch die Hamas, und welche Initiativen im Interesse der Zivilbevöl-
kerung im Gazastreifen hat sie unternommen bzw. will sie diesbezüglich
unternehmen?

Berlin, den 11. Februar 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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