BT-Drucksache 16/1168

Flexible Konzepte für die Familie - Kinderbetreuung und frühkindliche Bildung zukunftsfähig machen

Vom 5. April 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1168
16. Wahlperiode 05. 04. 2006

Antrag
der Abgeordneten Ina Lenke, Miriam Gruß, Cornelia Pieper, Sibylle Laurischk,
Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, Uwe Barth, Rainer Brüderle,
Angelika Brunkhorst, Patrick Döring, Mechthild Dyckmans, Otto Fricke, Paul K.
Friedhoff, Horst Friedrich (Bayreuth), Dr. Edmund Peter Geisen, Hans-Michael
Goldmann, Joachim Günther (Plauen), Dr. Christel Happach-Kasan, Heinz-Peter
Haustein, Elke Hoff, Gudrun Kopp, Heinz Lanfermann, Horst Meierhofer, Patrick
Meinhardt, Jan Mücke, Burkhardt Müller-Sönksen, Jörg Rohde, Marina Schuster,
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Max Stadler, Dr. Rainer Stinner, Christoph Waitz,
Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Flexible Konzepte für die Familie – Kinderbetreuung und frühkindliche Bildung
zukunftsfähig machen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Familie hat Zukunft. Die Wirklichkeit von Familien hat sich gewandelt, aber die
Bedeutung von Familie ist weiterhin groß und nimmt unter jungen Menschen so-
gar wieder zu. Die Rahmenbedingungen müssen allerdings dringend verbessert
werden. Wir brauchen eine Allianz von Familien- und Bildungspolitik. Grund-
sätze einer kinder- und familienfreundlichen Politik sind:

● die Wahlfreiheit der Lebensgestaltung

● der Freiraum für die Lebensgestaltung

● eigeninitiative und private Organisation vor staatlicher Regelung

● die gleiche Teilhabe von Frauen und Männern.

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen für Familien beginnen in den Köpfen
der Menschen. Kinder- und Familienfreundlichkeit muss wieder verstärkt als
Wert und Einstellung in das Bewusstsein rücken. Nicht nur für die heutigen
Eltern und deren Kinder haben ihre Familien einen hohen Stellenwert. Die
eigene Familiengründung wird auch von vielen jungen Menschen als Lebens-
ziel gesehen.

Familienförderung erfolgt bislang vor allem durch zahlreiche monetäre Leistun-
gen an Eltern, die sich in Höhe, Dauer der Gewährung und Anspruchsvoraus-
setzungen unterscheiden. Die Leistungen in Deutschland für sozial- und fami-
lienpolitische Leistungen zählen zu den höchsten in Europa. 2004 erhielten
Familien 98,8 Mrd. Euro von Bund, Ländern und Gemeinden. Dies entspricht
einem Anteil von 4,5 Prozent am Bruttoinlandsprodukt. Die Familienförderung
der privaten Arbeitgeber lag 2004 bei 2,2 Mrd. Euro. Für das Kindergeld, das bei
dem ersten bis dritten Kind bei 154 Euro und bei jedem weiteren bei 179 Euro

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liegt, und den steuerlichen Kinderfreibetrag sind in diesem Jahr 36,1 Mrd. Euro
veranschlagt. Der zum 1. Januar 2005 eingeführte Kinderzuschlag von maximal
140 Euro für 36 Monate richtet sich an gering verdienende Eltern, aus deren
Einkommen sie ihren eigenen Bedarf, jedoch nicht den ihrer Kinder abdecken
können und andernfalls auf Arbeitslosengeld II angewiesen wären. Das Erzie-
hungsgeld – das künftig in ein Elterngeld mit Einkommensersatzfunktion um-
gewandelt werden soll – wird einkommensabhängig gewährt. Die Höhe der
Leistung beträgt beim Regelbezug von zwei Jahren 300 Euro monatlich; bei der
sog. Budgetvariante werden für ein Jahr 450 Euro monatlich gewährt. In einigen
Bundesländern wird im Anschluss an den grundsätzlich zweijährigen Bezug von
Bundeserziehungsgeld Landeserziehungsgeld gewährt. Mit der Elternzeit kann
eine unbezahlte Freistellung von der Arbeit bis zur Vollendung des dritten
Lebensjahres eines Kindes in Anspruch genommen werden. Der Anteil der
Väter, die hiervon Gebrauch gemacht haben, lag 2004 bei 4,9 Prozent. Unter-
haltsvorschuss erhält ein Kind für längstens 72 Monate, wenn es beim allein
erziehenden Elternteil lebt, die Zahlungen des anderen Elternteils unterhalb des
Regelbetrages bleiben und das Kind das zwölfte Lebensjahr noch nicht voll-
endet hat. Darüber hinaus ist die Einführung eines Elterngeldes mit Einkom-
mensersatzfunktion geplant. Dieses soll – unter Anrechnung des Mutterschafts-
geldes – grundsätzlich für die Dauer von zwölf Monaten gewährt werden, wobei
zwei Monate vom jeweils anderen Elternteil zu nehmen sind („Väter-Monate“).
Das Angebot an Kindertagesstättenplätzen ist in den neuen Bundesländern – ins-
besondere in Sachsen-Anhalt – sehr gut ausgebaut; in den westlichen Bundes-
ländern fehlen oft Plätze.

Trotz der hohen finanziellen Leistungen weist Deutschland eine der niedrigsten
Geburtenraten innerhalb der Europäischen Union auf. Die Kinderzahlen in
Deutschland gehen zurück. Das Jahr 1964 war mit 1,36 Millionen das gebur-
tenstärkste; seither hat sich die Zahl der Geburten fast halbiert. Zunächst wurde
dieser Rückgang kaum wahrgenommen, da die Lebenserwartung in den letzten
30 Jahren um ca. acht Lebensjahre angestiegen ist, und in Deutschland mittler-
weile zwölf Millionen Menschen mit Migrationshintergrund leben. Statistisch
liegt die Geburtenrate bei 1,3 Kindern pro Frau. Das durchschnittliche Alter der
Frau bei Geburt des ersten Kindes liegt bei 29,9 Jahren. Die Zahl der Mehrkind-
familien ist rückläufig. Jede zehnte Familie mit Kindern ist eine ausländische
Familie und in einigen Großstädten haben bereits mehr als 40 Prozent der Kin-
der und Jugendlichen einen Migrationshintergrund. In den alten Bundesländern
leben über 40 Prozent der 35- bis 39-jährigen Akademikerinnen ohne Kinder.
Die Frage der Bildung und Betreuung von Kindern spielt hierbei eine wichtige
Rolle. Nach der jüngsten Analyse des Instituts für Arbeits- und Berufsforschung
(IAB) sind Frauen unter 30 Jahren mit 43 Prozent fast genauso stark in
Leitungsfunktionen vertreten wie gleichaltrige Männer; ihr Anteil sinkt jedoch
ab der Geburt des ersten Kindes bis zum Alter von 40 Jahren auf knapp über
20 Prozent. Aus dem „Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und
die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland – Zwölfter Kinder-
und Jugendbericht –“ (Bundestagsdrucksache 15/6014) ergibt sich, dass für die
Entwicklung je nach Alter unterschiedliche Angebote erforderlich sind. So geht
man davon aus, dass das Interaktionssystem Familie in der Lage ist, dem Kind
im ersten Lebensjahr die Bildungsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen, die
es braucht, um soziale Anschlussfähigkeit und kulturelle Teilhabefähigkeit zu
erwerben. Ab dem zweiten, spätestens jedoch ab dem dritten Lebensjahr sollte
das Kind die Möglichkeit haben, seinen Sozialraum durch regelmäßige Kon-
takte zu Erwachsenen außerhalb der Familie und zu gleichaltrigen Kindern zu
erweitern.

Deutschland steht angesichts der demografischen Entwicklung vor großen ge-
sellschaftspolitischen Herausforderungen. Der Altersquotient wird in den nächs-
ten Jahren bis auf 77,8 Prozent im Jahr 2050 stark ansteigen. 100 Menschen im

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erwerbsfähigen Altern stehen dann 78 ältere Menschen gegenüber; auf eine Per-
son, die 60 Jahre ist oder älter, kommen 1,3 Menschen im Alter zwischen 20 und
59 Jahren. Mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG), das bis 2010 zum Ziel
hat, 230 000 Plätze für die unter Dreijährigen zu schaffen, und dem Investitions-
programm „Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB) in Höhe von vier Mrd.
Euro für den Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen sind erste Schritte zu einem
Wandel in der Familienpolitik eingeleitet worden. In Schweden werden 80 Pro-
zent des letzten Nettoeinkommens als Elterngeld (Teil der sog. Elternversi-
cherung) gezahlt; ein Bezug ist über einen Zeitraum von 480 Tagen möglich
(80 Prozent werden nur für einen Zeitraum von 390 Tagen gezahlt). Anschlie-
ßend werden vor allem Dienstleistungen wie etwa Kinderkrippen, Kindergärten
oder Tagesmütter gefördert.

Im Sinne einer Chancengleichheit und pädagogischer Erkenntnisse muss früh-
kindliche Bildung mittelfristig im Rahmen des bundesrechtlichen Rechtsan-
spruchs auf einen Kindergartenplatz halbtags zwischen dem 3. Lebensjahr und
der Einschulung ohne Entgelt möglich sein.

Das letzte Kindergartenjahr vor der Einschulung soll so schnell wie möglich zu
einem für die Eltern kostenfreien Angebot entwickelt werden. Die Bundesländer
werden aufgefordert, für alle Kinder einen frühen Besuch der Schule möglich zu
machen. Dies kann z. B. durch die Einführung einer verbindlichen „Startklasse“
oder durch eine frühere Einschulung ab fünf Jahren für Kinder mit entsprechen-
der Reife geschehen.

Auch in Deutschland müssen jetzt endlich schnell die Weichen für eine zu-
kunftsweisende Familienpolitik gestellt werden, um den Standort Deutschland
auch für Familien attraktiv zu machen.

II. Die Bundesregierung wird aufgefordert,

1. einen Kinderbetreuungsgipfel einzuberufen, um in einer gemeinsamen Kraft-
anstrengung zusammen mit Ländern und Kommunen ein ganzheitliches
Konzept für flexible Modelle für die Familie und Kinderbetreuung zu erstel-
len;

2. unter Einbeziehung der regionalen Unterschiede und der Flexibilisierung der
Arbeitswelt die zahlreichen finanziellen Leistungen der Familienförderung
auf ihre Effizienz und Wechselwirkung mit Blick auf den Ausbau von Betreu-
ungsangeboten zu überprüfen und transparent zu gestalten;

3. noch vor der sitzungsfreien Zeit im Sommer 2006 konkrete Vorschläge und
einen Gesetzentwurf zur Umgestaltung des Erziehungsgeldes vorzulegen;

4. im Zusammenhang mit einer großen Steuerreform die steuerliche Förderung
von Familien deutlich zu vereinfachen und transparenter zu machen;

5. im Zusammenhang mit einer großen Steuerreform im Rahmen einer Reform
der direkten Steuern den Freibetrag von Kindern auf den von Erwachsenen
anzuheben;

6. dafür Sorge zu tragen, dass die tatsächlich für die Kinderbetreuung in Privat-
haushalten und außer Haus anfallenden Aufwendungen zur Betreuung eines
zum Haushalt des Steuerbürgers gehörenden Kindes als Sonderaufwendun-
gen bis zu einer Obergrenze von 12 000 Euro berücksichtigungsfähig sind;

7. gemeinsam mit Ländern und Kommunen ein bedarfsgerechtes, an Qualitäts-
standards orientiertes, qualitativ hochwertiges Angebot von Betreuungsplät-
zen ab Ende des Mutterschutzes (8 Wochen nach der Geburt) zu schaffen und
grundsätzlich einen Ganztagsplatz in Krippen, Kindertagesstätten und Schu-
len (Hort) für Kinder berufstätiger Mütter und Väter anzubieten;

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8. auf eine bessere Vereinbarkeit von Studium und Kindererziehung durch
kompakte Ausbildungsmodule und Kooperationen der Ausbildungsstätten
mit Kinderbetreuungseinrichtungen hinzuwirken;

9. mit privaten Initiativen wie Elterngruppen oder -vereinen oder betriebs-
nahen bzw. betrieblichen Einrichtungen zusammen mit Ländern und Kom-
munen Wege zu finden, um private Initiativen anzuregen und zu unterstüt-
zen und Best-Practice-Beispiele entsprechend bekannt zu machen;

10. die private Tagespflege als gleichrangiges Angebot neben der so genannten in-
stitutionellen Betreuung in Krippen unbürokratisch, bundeseinheitlich und mit
einem unabhängigen Bewertungssystem der Qualitätssicherung zu fördern;

11. anhand von Modellprojekten zusammen mit den Ländern, Gemeinden und
den Betrieben Best-Practice-Beispiele für flexible Arbeitszeiten und fle-
xible Betreuungsangebote sowie den Aufbau eines kommunalen Netz-
werkes für Betreuung unter Einbeziehung der Betreuung schulpflichtiger
Kinder durch Ganztagsschulen oder Tageseinrichtungen für Kinder im
schulpflichtigen Alter zu evaluieren und bekannt zu machen;

12. anzuregen, bürokratische Hemmnisse für Kindertageseinrichtungen (z. B.
Anforderungen an die räumliche Ausstattung) zu überprüfen und gegebe-
nenfalls aufzuheben;

13. gemeinsam mit den Ländern darauf einzuwirken, die Einrichtungen von Be-
triebskindergärten durch flexible und vereinfachte gesetzliche Vorgaben zu
erleichtern;

14. den Übergang von der Objekt- zur Subjektförderung, d. h. von einer Förde-
rung der Einrichtung hin zur Förderung der Kinder bei gleichzeitiger Bereit-
stellung eines ausreichenden Angebots einzuleiten, um den Wettbewerb der
Einrichtungen um eine wirklich gute Qualität ihrer Bildungs- und Betreu-
ungsangebote in Gang zu setzen;

15. die Familienförderung des Bundes um die Finanzierung von Pro-Kopf-
Zuweisungen zu ergänzen, um die Kommunen finanziell zu entlasten und um
eine sinnvolle Förderung von Familien mit kleinen Kindern zu gestalten;

16. im Zusammenwirken mit den Bundesländern sich dafür einzusetzen, die
Bildung und Erziehung insbesondere im frühkindlichen Alter zu verbessern.
Dies soll insbesondere durch ein System der Akkreditierung oder Zertifizie-
rung von Tageseinrichtungen gewährleistet werden;

17. die Bildungsforschung im Hinblick auf eine verstärkte Evaluation der pä-
dagogischen Arbeit und der Leistungsfähigkeit von Tageseinrichtungen zu
verstärken;

18. sich dafür einzusetzen, dass die Ausbildung von Erzieherinnen auf hohem
Niveau in allen Bundesländern konzeptionell und strukturell reformiert
wird. Die Ausbildung muss neben der bisherigen sozialpädagogischen Aus-
richtung ein verstärktes bildungspolitisches Paradigma enthalten. Mindes-
tens die Leiterin einer Tageseinrichtung sollte eine Ausbildung auf Fach-
hochschulniveau haben;

19. den Teilerlass wegen Kinderbetreuung gemäß § 18b Abs. 5 des Bundesaus-
bildungsförderungsgesetzes mit dem Ziel zu überprüfen, die Grenze für die
Freibeträge und die Berufstätigkeit der Eltern deutlich anzuheben.

Berlin, den 5. April 2006

Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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