BT-Drucksache 16/11277

Zweifel an der Einstufung Griechenlands als "sicherem Drittstaat" im Asyl- bzw. Dublin-II-Verfahren

Vom 3. Dezember 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/11277
16. Wahlperiode 03. 12. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Wolfgang Neskovic, Sevim Dag˘delen, Jan Korte,
Kersten Naumann, Petra Pau und der Fraktion DIE LINKE.

Zweifel an der Einstufung Griechenlands als „sicherem Drittstaat“
im Asyl- bzw. Dublin-II-Verfahren

Im November 2008 berichtete der Europareferent der Flüchtlingshilfsorganisa-
tion PRO ASYL Karl Kopp von seinen Recherchen zur Situation von Flüchtlin-
gen und aus der Bundesrepublik Deutschland rücküberstellten Asylsuchenden in
Griechenland („The situation in Greece is out of control“, Ergebnisse einer
Recherchereise vom 20. bis 28. Oktober 2008). Demnach gibt es in Griechen-
land kein geregeltes Asylverfahren, das auch nur annähernd den Anforderungen
der Genfer Flüchtlingskonvention oder der entsprechenden EU-Asylrichtlinien
entspräche. Auch die Einstufung Griechenlands als „sicheres Drittland“ im
Sinne von Artikel 16a Absatz 2 des Grundgesetzes (GG) steht damit in Zweifel,
wie auch bereits mehrere deutsche Verwaltungsgerichte in Einzelfallentschei-
dungen festgestellt haben.

Das Asylverfahren in Griechenland besteht aus zwei Stufen, wobei die erste
Stufe faktisch keine ist, weil alle (!) 8 387 im Jahr 2008 in der ersten Instanz ent-
schiedenen Asylanträge ohne individualisierte Begründung abgelehnt wurden.
Unterschieden wird lediglich zwischen „unbegründeten“ und „offensichtlich un-
begründeten“ Asylanträgen. Die Prüfung erfolgt durch die Polizei. Dabei sind
keine Dolmetscher anwesend, der gesamte Schriftverkehr erfolgt auf Grie-
chisch. Der Repräsentant des UNHCR in Griechenland, Giorgos Tsarbopoulos,
befindet: „Dies ist schlicht eine Verletzung aller Prinzipien und Schutzstandards
der Genfer Flüchtlingskonvention und anderer Konventionen“.

Die Betroffenen müssen gegen die Ablehnung des Asylantrags innerhalb von 10
bzw. 30 Tagen Widerspruch einlegen, wovon sie jedoch häufig nichts wissen,
weil sie nur auf Griechisch darüber aufgeklärt wurden. Zudem wurden seit An-
fang August 2008 faktisch keine Verfahren in der zweiten Instanz mehr durch-
geführt, die de facto das eigentliche Asylverfahren darstellt. Erst ab November
war die Wiederaufnahme der Anhörung und Bearbeitung von etwa 60 Fällen in
der Woche geplant. Der Zugang zur zentralen Ausländer- und Asylbehörde in
Athen, wo Widerspruch gegen die Entscheidungen der ersten Instanz eingelegt
werden kann, wird den Betroffenen häufig verwehrt, zeitweise war die zentrale
Ausländer- und Asylbehörde in Athen gänzlich geschlossen.
Auch die Art der Aufnahme der Schutzsuchenden erfüllt nach Ansicht der Ex-
perten nicht die Mindestbedingungen, die die EU-Richtlinien formulieren. Die
Betroffenen bekommen in der Praxis weder Unterkunft noch Tagegeld für ihre
täglichen Bedürfnisse. Ende Oktober 2008 waren tausende Asylbewerber auf
Athener Stadtgebiet obdachlos, darunter über 100 Familien. Im ersten Halbjahr
2008 sind ca. 58 000 Flüchtlinge und Migranten an den EU-Außengrenzen Grie-

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chenlands angekommen, viele von ihnen werden in Haftlagern auf den griechi-
schen Inseln interniert. Zu den Internierten gehören auch Familien mit Neuge-
borenen, kranke und alte Menschen und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.
In der Nähe des Gesundheitsministeriums hat sich ein männlicher Straßenstrich
etabliert, wo sich auch minderjährige Flüchtlingskinder aus Afghanistan prosti-
tuieren.

Die EU-Richtlinien über die Anerkennung und Aufnahme von Asylsuchenden
sind zwar formal mittlerweile umgesetzt. Faktisch hat das jedoch keine Auswir-
kungen. Entgegen den Richtlinien werden gegen Asylsuchende freiheitsentzie-
hende Maßnahmen durchgeführt. Aus der Bundesrepublik Deutschland rück-
überstellte Asylbewerber bekommen am Flughafen die Ablehnung des Asylge-
suchs (auf Griechisch) ausgehändigt. Aus den dargelegten Gründen haben sie
kaum eine Chance, wirksam Widerspruch einzulegen. Ihnen droht in der Folge
die Abschiebung. Viele Flüchtlinge melden sich gar nicht bei den Behörden und
vergrößern damit das Heer der Papierlosen in Europa. Alle aus der Bundesrepu-
blik Deutschland rücküberstellten Flüchtlinge, mit denen Karl Kopp sprechen
konnte, waren obdach- und mittellos.

Griechenland ist, so das eindeutige Ergebnis der Recherchereise, objektiv mit
den aktuellen Anforderungen im Asylbereich überfordert und verletzt systema-
tisch die Asyl- und Menschenrechte von Flüchtlingen.

Der Direktor der Diakonie Österreich, Michael Chalupka, hat den jüngsten Be-
richt von PRO ASYL zum Anlass genommen, in einer Pressemitteilung vom
18. November 2008 die sofortige Aussetzung von Rücküberstellungen nach
Griechenland zu fordern – und dies ist seit Monaten schon auch die Forderung
des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen.

Human Rights Watch hat am 26. November 2008 ebenfalls einen Bericht über
die Lage von Asylsuchenden in Griechenland vorgelegt, der den Titel „Stuck in
a revolving door“ (Gefangen in einer Drehtür) trägt. Die dort wiedergegebenen
Berichte von Flüchtlingen, die bei Nacht über die griechisch-türkische Grenze
gezwungen werden oder deren Boote im Mittelmeer versenkt werden, können
nur als erschütternd bezeichnet werden. Human Rights Watch spricht von einer
systematischen Festnahmepraxis gegenüber Schutzsuchenden, die unter
schlechten Bedingungen in überfüllten Lagern inhaftiert würden. „Griechenland
verweigert schutzbedürftigen Personen Hilfe und misshandelt sie in der Haft“,
befindet Bill Fredlick, Direktor der Abteilung Flüchtlingspolitik von Human
Rights Watch (www.dailynet.de/International/30655.php).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Ist der Bundesregierung der jüngste Bericht von PRO ASYL zur Lage von
Asylsuchenden in Griechenland bekannt, und wie bewertet sie diesen Be-
richt?

2. Ist der Bundesregierung der Bericht von Human Rights Watch zur Lage von
Asylsuchenden und Migranten an der griechisch-türkischen Grenze zur EU
bekannt, und wie bewertet sie diesen Bericht?

3. Welche eigenen Erkenntnisse hat die Bundesregierung, zum Beispiel aus den
Berichten von in der Ägäis im Rahmen von FRONTEX-Operationen einge-
setzten deutschen Beamten oder dem an den deutschen Auslandesvertretun-
gen eingesetzten Personal?

4. Welche Schlussfolgerungen werden aus diesen Berichten gezogen, und wel-
che konkreten Maßnahmen hat die Bundesregierung in die Wege geleitet?

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5. Sind der Bundesregierung weitere Einzelschicksale von nach Griechenland
überstellten Asylsuchenden bekannt, wie sie in den Anlagen des Berichts von
PRO ASYL dargelegt werden, und wenn ja, bitte im Einzelnen darlegen?

6. Hat die Bundesregierung die deutschen Auslandsvertretungen in Griechen-
land angewiesen, einzelne Schicksale von aus der Bundesrepublik Deutsch-
land nach Griechenland überstellten Asylsuchenden zu untersuchen oder zu
dokumentieren?

Wenn ja, wann, aus welchem Anlass, mit welchen Ergebnissen?

Wenn nein, warum nicht?

7. Wie viele Personen wurden seit Januar 2008 nach Griechenland überstellt,
und wie viele Übernahmeersuche an Griechenland wurden im gleichen Zeit-
raum gestellt (bitte nach Monaten und den jeweils zehn häufigsten Her-
kunftsstaaten der Betroffenen auflisten)?

8. Hält die Bundesregierung angesichts des Berichts von PRO ASYL an ihrer
Aussage fest, dass „für nach der Dublin-II-Verordnung nach Griechenland
überstellte Asylbewerber grundsätzlich Zugang zum Asylverfahren besteht“
(vgl. Bundestagsdrucksache 16/8861, Antwort zu Frage 2b)?

a) Versteht sie unter „grundsätzlich(em) Zugang“ auch das Führen eines Ver-
fahrens ausschließlich in griechischer Sprache für die meist aus dem Irak
oder Afghanistan stammenden Asylbewerber?

b) Versteht sie unter „grundsätzlich(em) Zugang“ die automatische Ableh-
nung des Asylbegehrens von „Dublin-Überstellten“ beim Eintreffen am
Athener Flughafen?

c) Versteht sie unter „grundsätzlich(em) Zugang“, dass der Widerspruch ge-
gen den Ablehnungsbescheid bei der zuständigen Behörde nur bei
Intervention durch Flüchtlingshilfsorganisationen oder den Ombudsmann
des griechischen Innenministeriums überhaupt möglich ist?

d) Ist der Bundesregierung eine Bewertung der Frage des „grundsätzlichen
Zugangs“ zum Asylverfahren durch Einrichtungen der EU oder die Kom-
mission bekannt, und was ist ihr Inhalt?

e) Stimmt die Bundesregierung den Fragestellern zu, dass ein Zugang zum
Asylverfahren nach dem einschlägigen internationalen und EU-Recht
nicht nur „grundsätzlich“, sondern in jedem Einzelfall bestehen muss?

f) Inwieweit ist nach Einschätzung der Bundesregierung die Tatsache, dass
2008 sämtliche Asylanträge in erster Instanz abgelehnt wurden, ein Hin-
weis darauf, dass nicht von einem „grundsätzlichen Zugang“ zum Asyl-
verfahren die Rede sein kann?

g) Kann nach Auffassung der Bundesregierung von einem effektiven Zugang
zum Asylverfahren gesprochen werden, wenn allein in Athen tausende
Asylsuchende, darunter Familien mit Kindern, obdachlos sind, und damit
Schriftstücke zum Asylverfahren nicht zustellbar sind?

h) Inwieweit sieht sich die Bundesregierung in der Verantwortung dafür, dass
aus der Bundesrepublik Deutschland rücküberstellte Asylsuchende in
Griechenland absehbar der Obdachlosigkeit überantwortet werden?

9. War nach Kenntnis der Bundesregierung die zentrale Ausländer- und Asylbe-
hörde in Athen vom 21. September bis zum 26. Oktober 2008 geschlossen,
wie in dem Bericht von PRO ASYL ausgeführt wird?

Wenn ja, wie bewertet die Bundesregierung die Mitteilung des Leiters des
Rechts- und Konsularreferats der Deutschen Botschaft in Athen an PRO
ASYL (s. den Bericht, S. 4), mit der auf der Grundlage unkritisch übernom-

mener Auskünfte der Behörde selbst der Eindruck erweckt wurde, der
Zugang zur Behörde sei immer möglich gewesen?

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10. Stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, dass angesichts der
steigenden Zugangszahlen, der steigenden Zahl noch nicht bearbeiteter
Anträge und dem anvisierten Tempo von nur ca. 60 geprüften Fällen in der
zweiten Instanz pro Woche von einer Verschärfung der Lage in Griechen-
land auszugehen ist, und wenn ja, welche Schlussfolgerungen zieht sie hier-
aus, und wenn nein, warum nicht?

11. Wie verantwortet es die Bundesregierung, dass trotz der offenkundigen Über-
forderung der griechischen Asylbehörden und weiter zunehmender Aufnah-
mezahlen die Zahl der Überstellungen aus der Bundesrepublik Deutschland
nach Griechenland im Rahmen der Dublin-II-Verordnung seit Jahren immer
weiter steigt (2006: 108, 2007: 141, bis 31. August 2008: 171)?

12. Ist die Bundesregierung in Anbetracht der verfahrensrechtlichen Einschrän-
kungen im Asylverfahren und der zahlreichen dokumentierten Menschen-
rechtsverletzungen gegenüber Flüchtlingen (angefangen bei ihrer regelmä-
ßigen Internierung) weiterhin der Ansicht,

a) dass es sich bei Griechenland um einen sicheren Drittstaat im Sinne von
Artikel 16a Absatz 2 des Grundgesetzes (GG) handelt, und wie begrün-
det die Bundesregierung diese Haltung?

Welche Instrumente gibt es derzeit, die automatische Einschätzung von
EU-Staaten als „sichere Drittstaaten“ zu suspendieren?

b) dass Rücküberstellungen nach Griechenland im Rahmen der Dublin-II-
Verordnung verantwortbar sind, und wie begründet sie ihre Haltung ange-
sichts des Umstandes, dass die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2007
mit 0,2 Asylanträgen pro 1 000 Einwohnern nur ein Fünftel der Asyl-
anträge des Durchschnitts in der EU (0,98 Anträge pro Einwohner) zu
bearbeiten hatte (vgl. Bundestagsdrucksache 16/8861, Frage 5a und b)?

c) Inwiefern berücksichtigt die Bundesregierung jüngste Meldungen (dpa
vom 24. November 2008) darüber, dass in Athen Rechtsradikale wahllos
Migranten angegriffen haben und Hunderte Menschen deshalb in Panik
aus der Region fliehen mussten, in Zusammenhang mit Rückführungs-
entscheidungen?

13. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Feststellung
des VG Schleswig-Holstein (6 B 30/08, B. v. 8. Juli 2008, S. 5), wonach die
„gebotene Reaktion der Bundesregierung nach § 26a AsylVfG“ auf die
schlagartige Veränderung der maßgeblichen Verhältnisse im Drittstaat (ge-
meint ist Griechenland) „noch aussteht“?

14. Hat es nach der Auskunft des griechischen Dublin-Büros, seit dem 8. Juni
2008 sei das so genannte Abbruchverfahren bei Rücküberstellungen nach
Griechenland (Asylverfahren von weitergereisten Asylbewerbern gelten
automatisch als abgebrochen) eingestellt worden, weitere Auskünfte zur
diesbezüglichen Ausgestaltung des Asylverfahrens in Griechenland gege-
ben?

15. Berichtet das Dublin-Büro in Athen über die formale Ausgestaltung des
Asylverfahrens oder fertigt es regelmäßig Berichte auch über die tatsäch-
liche Durchführung von Asylverfahren an, und was ist deren Inhalt?

16. Gab es formal im Rahmen von Ministerratstagungen oder den Sitzungen
des Ausschusses der Ständigen Vertreter (AStV) Hinweise von griechischer
Seite, angesichts der Belastungen durch steigende Flüchtlingszahlen (allein
auf Lesbos 11 001 von Januar bis Oktober 2008, gegenüber 1 766 im Jahr
2006) nicht mehr für die ordnungsgemäße Durchführung von Asylverfah-
ren garantieren zu können, und wie haben die deutschen Vertreter auf diese

Hinweise reagiert?

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17. Welche konkreten Initiativen sind bisher angestoßen worden oder in Pla-
nung, diejenigen Mitgliedstaaten der EU konkret zu unterstützen, „deren
nationales Asylsystem vor allem aufgrund ihrer geografischen oder demo-
grafischen Lage einem besonderen und unverhältnismäßigen Druck aus-
gesetzt ist“ (Europäischer Pakt zu Einwanderung und Asyl, beschlossen
vom Europäischen Rat am 15. und 16. Oktober 2008)?

18. Welche konkreten Initiativen sind bisher angestoßen worden oder in Pla-
nung, um auf einer „freiwilligen und koordinierten Basis eine bessere Um-
verteilung der Personen“, die als schutzbedürftig gelten, zwischen den EU-
Staaten zu ermöglichen?

19. Ist der Bundesregierung bekannt, dass der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte in mehreren „Eil“- bzw. „Hängeentscheidungen“ („rule 39“)
Rücküberstellungen im Rahmen der Dublin-II-Verordnung nach Griechen-
land untersagt hat, und wenn ja, um wie viele Entscheidungen gegen welche
Länder handelt es sich, worauf stützen sich die Entscheidungen inhaltlich,
was besagen sie genau, und welche Schlussfolgerungen zieht die Bundes-
regierung aus diesen Entscheidungen?

Berlin, den 2. Dezember 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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