BT-Drucksache 16/11077

Einbeziehung von Strafgefangenen in die Sozialversicherung

Vom 24. November 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/11077
16. Wahlperiode 24. 11. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Wolfgang Neskovic, Sevim Dag˘delen, Jan Korte, Kersten
Naumann, Volker Schneider (Saarbrücken) und der Fraktion DIE LINKE.

Einbeziehung von Strafgefangenen in die Sozialversicherung

Strafgefangene unterliegen in der Bundesrepublik Deutschland einer gesetz-
lichen Arbeitspflicht. Unabhängig von der Frage einer angemessenen Entloh-
nung, bedeutet vor allem die bislang unvollständig gebliebene ausdrückliche
Einbeziehung in die Sozialversicherung eine besondere Härte für viele Gefan-
gene und ein uneingelöstes Versprechen der Politik.

Nach der derzeitigen Gesetzeslage sind Strafgefangene zwar ausdrücklich in
die Unfall- und Arbeitslosenversicherung (vgl. § 2 Abs. 2 Satz 2 des Siebten
Buches Sozialgesetzbuch – SGB VII – sowie § 26 Abs. 1 Nr. 4 des Dritten Bu-
ches Sozialgesetzbuch – SGB III), nicht aber in die Kranken- und Rentenversi-
cherung einbezogen.

Das Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden
Maßnahmen der Besserung und Sicherung – Strafvollzugsgesetz (StVollzG) –
vom 16. März 1976 (BGBl. I S. 581) sieht seit dem Zeitpunkt seines Erlasses
eine umfassende Einbeziehung von Strafgefangenen in die Sozialversicherung
vor (vgl. § 190 Nr. 1 bis 10 und Nr. 13 bis 18, §§ 191 bis 193 StVollzG). Ge-
mäß § 198 Abs. 3 StVollzG blieb das Inkrafttreten dieser Vorschriften jedoch
einem besonderen Bundesgesetz vorbehalten. Dieses Gesetz ist nicht ergangen.

Mit der so genannten Föderalismusreform haben sich Änderungen für den
Bereich des Strafvollzuges ergeben. Die Gesetzgebungszuständigkeit steht
nunmehr den Ländern zu. Das StVollzG des Bundes gilt deshalb gemäß Arti-
kel 125a des Grundgesetzes (GG) nur noch insoweit fort, als es nicht durch
Landesrecht ersetzt ist. Inzwischen haben alle Bundesländer für den Bereich
des Jugendstrafvollzuges Gesetze erlassen. Einige Bundesländer haben auch
für den Erwachsenenstrafvollzug eigene Regelungen getroffen. Das StrVollzG
ist in diesen Ländern weitgehend außer Kraft getreten. Unabhängig von dem
politischen Willen hierzu, konnten diese Gesetze schon aufgrund der fehlen-
den Landeskompetenz eine ausdrückliche Einbeziehung von Strafgefangenen
in die Renten- oder Krankenversicherung nicht vorsehen.

Aus dem Fehlen einer ausdrücklichen Einbeziehung in die Renten- und Kran-
kenversicherung folgt die Maßgeblichkeit der allgemeinen Regelungen des So-

zialversicherungsrechts. Anknüpfungspunkt ist dabei die Frage, ob arbeitende
Gefangene in einer Beschäftigung im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V, § 1
Satz 1 Nr. 1 SGB VI in Verbindung mit § 7 SGB IV stehen. Dies wird in der
Regel mit der Begründung verneint, es fehle an dem (ungeschriebenen) Tat-
bestandsmerkmal der „Freiwilligkeit“. Eine Einbeziehung in die Kranken- und
Rentenversicherung wird lediglich bei Vorliegen eines so genannten freien Be-
schäftigungsverhältnisses angenommen (vgl. §§ 39 und 62a StVollzG), das in

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der Praxis des Strafvollzuges jedoch eine Ausnahme darstellt (kritisch hierzu:
die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts – BVerfGE 98, 169, 210).

Der für die allermeisten Gefangenen deshalb weiterhin bestehende Ausschluss
aus der Sozialversicherung ist vom BVerfG – bezogen auf die Rentenversiche-
rung – in einem Urteil vom 1. Juli 1998 für verfassungsgemäß gehalten worden
(BVerfGE 98, 169 ff.). In dieser Entscheidung, die auf Kritik gestoßen ist (vgl.
Pawlita, ZfSH/SGB 1999, 70 – „eigenartige Entkoppelung der Versicherungs-
pflicht der Beschäftigung von ihrer Entgeltlichkeit“), führt das Verfassungs-
gericht aus: „Aus Resozialisierungsgründen kann der Gesetzgeber die Verrich-
tung von Pflichtarbeit auch in der Weise anerkennen, dass er die Gefangenen in
den Schutz der sozialen Sicherungssysteme einbezieht. Eine solche Entschei-
dung kann für bestimmte Gefangene sinnvoll sein. Das Grundgesetz zwingt
allerdings nicht zu einer Ausdehnung auf Pflichtarbeit im Strafvollzug.“

Viele Gefangene, denen die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung in der
Regel nicht geläufig sein dürfte, empfinden die Pflicht zur Arbeit bei gleich-
zeitigem Ausschluss aus den Sozialversicherungssystemen als vom Staat ver-
anlasste „Schwarzarbeit“. Kritik wird auch von Praktikern in der Justiz geübt.
So bedauert der Deutsche Richterbund in einer Stellungnahme vom 28. April
2004 die fehlende Sozialversicherungspflicht speziell für den Jugendstrafvoll-
zug: „Gerade für Gefangene im Jugendstrafvollzug erscheint es wichtig, ihnen
nicht bereits zu Beginn ihres Arbeitslebens Nachteile insbesondere bei der
Rentenversicherung aufzubürden, die sie nach dem Ende des Strafvollzuges
nicht mehr ausgleichen können.“

Aus Sicht der Fragesteller sind darüber hinaus die folgenden erheblichen
Rechtsnachteile für alle Strafgefangenen hervorzuheben:

– Da während der Zeit der Strafhaft keine Beiträge zur Rentenversicherung
gezahlt werden und diese Zeit auch nicht als Berücksichtigungs-, Anrech-
nungs-, oder Zurechnungszeit (§§ 57 bis 59 SGB VI) gilt, führt die Strafhaft
trotz Heranziehung zur Arbeit dazu, dass ein unter Umständen erheblicher
Teil der Lebensarbeitszeit für die Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenen-
versorgung ausfällt. Neben Einbußen in der Rentenhöhe scheitern Renten-
ansprüche so häufig an der Nichterfüllung von Wartezeiten (§ 50 Abs. 2
bis 5 SGB VI).

– Es kann die Anwartschaft auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähig-
keit wegen der Nichterfüllung der besonderen versicherungsrechtlichen Vor-
aussetzungen verloren gehen (§ 43 Abs. 1 Nr. 2, § 44 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI).

– Darüber hinaus wirkt sich vor allem der Verlust des Krankenversicherungs-
schutzes negativ auf die zuvor nach § 10 SGB V mitversicherten Angehöri-
gen aus, die den Versicherungsschutz verlieren.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Hält die Bundesregegierung die Einbeziehung von Strafgefangenen in die
Sozialversicherung für sinnvoll (bitte begründen)?

2. In welchen Ländern der Europäischen Union unterliegen Strafgefangene
einer Arbeitspflicht?

In welchen dieser Länder und in welcher Höhe der jeweiligen Entlohnung
sind die ihrer Pflicht nachkommenden Gefangenen in die jeweiligen Systeme
der sozialen Sicherheit einbezogen (bitte aufgeschlüsselt nach den einzelnen
Ländern darstellen)?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/11077

3. Sind der Bundesregierung Länder außerhalb der Europäischen Union be-
kannt, in denen zwangsweise arbeitende Strafgefangene in die jeweiligen
Systeme der sozialen Sicherheit einbezogen sind?

Falls ja, welche sind das?

4. Welche Bedeutung für die gemäß §§ 190 ff. StVollzG beabsichtigte Ein-
beziehung von Strafgefangenen in den Schutzbereich der Sozialversiche-
rung besitzen nach Auffassung der Bundesregierung die mit der Föderalis-
musreform auf die Länder übergegangene Gesetzgebungszuständigkeit im
Bereich des Strafvollzuges und die ersten – das Strafvollzugsgesetz des
Bundes weitgehend ersetzenden – erlassenen Ländergesetze?

5. Welche Gründe sind nach Auffassung der Bundesregierung maßgebend
dafür, dass arbeitende Untersuchungshäftlinge nicht gemäß der allge-
meinen Vorschriften (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V, § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI in
Verbindung mit § 7 SGB IV) als sozialversicherungspflichtig angesehen
werden?

6. Ist der Bundesregierung das Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH)
vom 20. Januar 2005 (Az.: C-302/02) bekannt, in dem das Gericht aus-
führt, dass eine Person die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne der Verord-
nung Nr. 1408/71 in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 1386/2001 vom
5. Juni 20001 besitzt, wenn sie auch nur gegen ein einziges Risiko bei
einem der in Artikel 1 Buchstabe a dieser Verordnung genannten allgemei-
nen oder besonderen Systeme der sozialen Sicherheit – unabhängig vom
Bestehen eines Arbeitsverhältnisses – pflichtversichert oder freiwillig ver-
sichert ist?

Ist die Nichtinkraftsetzung der Renten- und Krankenversicherungspflicht
für die Arbeitsleistung von Strafgefangenen nach Auffassung der Bundes-
regierung mit diesem Urteil vereinbar?

7. Wie viele Petitionen zur Problematik der fehlenden Einbeziehungen von
Strafgefangenen in der gesetzlichen Rentenversicherungs- und gesetzlichen
Krankenversicherung wurden in der

a) 14. Legislaturperiode,

b) 15. Legislaturperiode,

c) 16. Legislaturperiode,

dem Petitionsausschuss zugeleitet und entschieden (bitte aufgeschlüsselt
nach GRV und GKV)?

8. Wie positioniert sich die Bundesregierung zu der Auffassung des Petitions-
verfahrens, „dass bei künftigen Gesetzgebungsverfahren zur gesetzlichen
Rentenversicherung das Anliegen des Petenten, nach erfolgreicher Reso-
zialisation über eine Alterssicherung verfügen zu können, einbezogen wer-
den sollte“ (vgl. Endbescheid zu Pet 3-16-11-8213-009064)?

9. Hat die Bundesregierung darüber Kenntnis, wie viele Strafgefangene auf-
grund fehlender Wartezeiten (§ 50 Abs. 2 bis 5 SGB VI) Einbußen in der
gesetzlichen Rentenversicherung hinnehmen müssen, so dass sie Anspruch
auf Leistungen aus der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminde-
rung (§§ 41 ff. SGB XII) haben?

10. Welche Kosten sind Bund, Ländern und Kommunen in den Jahren 2003 bis
2007 entstanden, weil Strafgefangene aufgrund der fehlenden Rentenver-
sicherungspflicht Leistungen aus der Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung erhalten?

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11. Geht die Bundesregierung davon aus, dass bis zum Jahr 2030 der Anteil
der Strafgefangenen, die auf Leistungen aus der Grundsicherung im Alter
und bei Erwerbsminderung angewiesen sind aufgrund der Absenkung des
Rentenniveaus um ca. 17 bis 20 Prozent weiter zunimmt?

Wenn ja, welche Maßnahmen will die Bundesregierung dagegen ergreifen?

Wenn nein, warum nicht?

12. Wie positioniert sich die Bundesregierung zu der Aussage, dass die Auf-
nahme von Strafgefangenen, die einer Arbeit nachgehen, in den Rechts-
kreis des SGB VI allein schon deshalb sinnvoll sei, um so eventuelle Folge-
kosten für Bund, Länder und Kommunen aufgrund einer späteren An-
gewiesenheit auf Leistungen aus der Grundsicherung im Alter zu ver-
meiden?

13. Wie viele Angehörige von Strafgefangenen haben seit 1998 den Kranken-
versicherungsschutz verloren, weil ihre Mitversicherung nach § 10 SGB V
fehlt?

14. Sieht die Bundesregierung, aufgrund der nach wie vor „angespannten
finanziellen Lage der Länder eine Alternative zu den Forderungen des
§ 190 ff. StVollzG?

Wenn ja, welche?

Wenn nein, warum nicht?

15. Ist die seit 1976 anhaltende Untätigkeit des Gesetzgebers in der Frage der
fehlenden Einbeziehung von Strafgefangenen in die gesetzliche Renten-
versicherung und in die gesetzliche Krankenversicherung geeignet, das
Vertrauen der Betroffenen in die Gesetzgebung zu erschüttern und das
Ansehen des Gesetzgebers und des verfassungsrechtlich garantierten So-
zialstaatsprinzips nach Artikel 20 GG zu schädigen (bitte begründen)?

Berlin, den 14. November 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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