BT-Drucksache 16/10514

Rechtswidrige Freiheitsentziehung bei Flugabschiebungen

Vom 7. Oktober 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/10514
16. Wahlperiode 07. 10. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Wolfgang Neskovic, Ulla Jelpke, Ulrich Maurer
und der Fraktion DIE LINKE.

Rechtswidrige Freiheitsentziehung bei Flugabschiebungen

Der Verein „Hilfe für Menschen in Abschiebehaft Büren e. V.“ hat am 30. Au-
gust 2008 ein Rechtsgutachten veröffentlicht (http://www.hfmia.de/BGS/Gut-
achten%20nkn%2015.08.08.pdf), welches sich mit der Frage auseinandersetzt,
ob es vor der Durchführung der Abschiebung von Ausländerinnen und Aus-
ländern, die weder aus der Abschiebungshaft noch aus der Strafhaft heraus
abgeschoben werden sollen, einer richterlichen Anordnung bedarf, wenn die
betroffene Person nach Erledigung der Gepäck-, Personen- und Dokumenten-
kontrollen für den verbleibenden Zeitraum von mindestens 1 bis 2 Stunden die
Diensträume der Bundespolizei nicht eigenmächtig verlassen kann, und ob ein
entsprechendes Vorgehen ohne vorherige richterliche Anordnung mit dem
geltenden Recht zu vereinbaren wäre. Die Fragestellung des Rechtsgutachtens
entspricht der gängigen Praxis bei Direktabschiebungen per Flugzeug in der
Bundesrepublik Deutschland.

Das Rechtsgutachten kommt zu den Ergebnissen, dass für den Fall, dass ein
Ausländer bzw. eine Ausländerin im Rahmen der Abschiebung nach der Ge-
päck-, Personen- und Dokumentenkontrolle bis zum Abflug in den Dienst-
räumen der Bundespolizei gegen ihren bzw. seinen Willen festgehalten wird,
eine freiheitsentziehende Maßnahme im Sinne des Artikels 104 Abs. 2 des
Grundgesetzes (GG) vorläge, die unter dem Vorbehalt vorheriger richterlicher
Anordnung stände. Dabei kommt es für die rechtliche Beurteilung weder auf
die zeitliche Dauer der Wartezeit (mindestens 1 bis 2 Stunden im „Normalfall“
oder darüber hinausgehende Verzögerungen etwa bei Flugverspätungen) noch
darauf an, ob das Festhalten in einer Gewahrsamszelle oder sonstigen Dienst-
räumen der Bundespolizei erfolgt. Entscheidend sei insoweit allein, dass die
abzuschiebenden Personen gegen ihren Willen an einem eng umschlossenen
Raum festgehalten werden, die körperliche Bewegungsfreiheit also nach jeder
Richtung hin aufgehoben wäre. Dies könne allenfalls für den Fall in Frage
gestellt werden, dass im Rahmen der Wartezeit in einer auch für sonstige Flug-
passagiere vorgesehene Flughafenhalle noch ein nennenswerter eigenmäch-
tiger Entscheidungs- und Bewegungsspielraum verbleibt. Da dies jedoch nicht
praxisrelevant sei, bedarf die Frage keiner abschließenden Beurteilung. Die
besseren Argumente würden jedoch auch in diesem Fall für das Vorliegen

einer Freiheitsentziehung sprechen.

Darüber hinaus stellt das Rechtsgutachten fest, dass die fehlende vorherige rich-
terliche Anordnung in den Fällen, in denen die betroffene Person weder aus der
Strafhaft noch aus der Abschiebungshaft heraus abgeschoben werden soll, ohne
weiteres zur Rechtswidrigkeit der Maßnahme führt. Eine nachträgliche richter-

Drucksache 16/10514 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

liche Entscheidung wäre insoweit nicht ausreichend und könnte die Rechtswid-
rigkeit der Freiheitsentziehung nicht beseitigen.

Die gängige derzeitige Praxis bei Flugabschiebungen wäre demnach rechts-
widrig.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Inwieweit ist der Bundesregierung das oben genannte Rechtsgutachten
bekannt, und welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dem
Rechtsgutachten für die derzeitige Praxis, Ausländerinnen und Ausländer im
Rahmen der Abschiebung nach der Gepäck-, Personen- und Dokumenten-
kontrolle bis zum Abflug in den Diensträumen der Bundespolizei gegen ihren
Willen festzuhalten?

2. Wie viele Menschen wurden von 2000 bis 2007 auf dem Luftweg abgescho-
ben, bei denen zum Zeitpunkt der Abschiebung kein richterlicher Beschluss
für eine Freiheitsentziehung vorlag (bitte nach Jahr und Flughafen, von dem
aus abgeschoben wurde, aufschlüsseln)?

3. Inwieweit sind die im Rechtsgutachten zitierten Aussagen aus einem Schrei-
ben des Forums Flughäfen in NRW hinsichtlich des Verfahrens am Düssel-
dorfer Flughafen, an dem u. a. auch die Bundespolizei beteiligt ist, nach Auf-
fassung der Bundesregierung – auch in Hinblick auf die Vergangenheit –
zutreffend: „Zwei Stunden vor Abflug des Linienfluges und bis zu drei Stun-
den vor Abflug des Charterfluges (zur Sammelabschiebung) wird die/der
Abzuschiebende von der Ausländerbehörde, der Landespolizei oder der Bun-
despolizei an die Beamten der Bundespolizei-Dienststelle am Flughafen
Düsseldorf übergeben. Nach der Übergabe erfolgt die Personenkontrolle, die
Gepäckkontrolle und die Kontrolle der Reisedokumente. In der Regel sind
die verschiedenen Kontrollen nach 15 bis 30 Minuten erledigt. Die/der
Abzuschiebende wird dann in einer Zelle (Gewahrsamsraum) eingeschlos-
sen. Etwa eine halbe Stunde vor dem Abflug wird die/der Abzuschiebende
aus der Zelle geholt und mit einem Wagen der Bundespolizei zum Flugzeug
gefahren. In der Zwischenzeit wird die Zelle nur auf Verlangen geöffnet, um
z. B. zur Toilette gehen zu können, um ein Getränk zu erhalten oder in Aus-
nahmefällen, um eine Zigarette zu rauchen. Verlängert sich der Aufenthalt bei
der Bundespolizei (aus welchen Gründen auch immer) ändert sich an dieser
Behandlung nichts. Im Einzelfall ist dann zu prüfen, wie die Versorgung mit
Essen und Getränken entsprechend den Wünschen des Abzuschiebenden
geklärt wird. Während des Aufenthalts bei der Bundespolizei ist die (körper-
liche) Bewegungsfreiheit der/des Abzuschiebenden aufgehoben. Der Aufent-
halt als solcher wird als Wartezeit angesehen“, bzw. wie sieht das konkrete
Verfahren aus Sicht der Bundesregierung üblicherweise aus?

4. Inwieweit ist die unter Frage 3 zitierte Beschreibung auf andere Flughäfen
übertragbar?

Wenn nicht, wie verlaufen Abschiebungen an anderen Flughäfen?

5. Wie viele Akkreditierungsanfragen von Journalistinnen und Journalisten für
einen Besuch im Bereich der Abschiebeabteilungen der Bundespolizei an den
Flughäfen hat es in den Jahren 2000 bis 2007 gegeben?

Wie viele wurden bewilligt (bitte nach Jahr und Flughafen aufgliedern)?

6. Inwieweit hat das Bundesministerium des Inneren (BMI) in den letzten
Wochen auf das Landesministerium des Inneren NRW bzw. andere Landes-
ministerien des Innern oder dem Landesministerium der Justiz in NRW bzw.
andere Landesministerien der Justiz in irgendeiner Form eingewirkt, Besuche

von Journalistinnen und Journalisten in Abschiebehaftanstalten zu verwei-
gern oder einzuschränken?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/10514

7. Inwieweit ist der Bundesregierung bekannt, dass der Pressereferent des
Bundesministerium des Innern, Dr. C. H., am 12. September 2008 auf die
E-Mail Anfrage eines Journalisten geantwortet haben soll, dass die Bundes-
polizei an den Flughäfen über Gewahrsamsbereiche verfüge, in denen kurz-
fristige Freiheitsentziehungen stattfinden würden?

Wie lange halten sich abzuschiebende Ausländer minimal, durchschnittlich
und maximal in diesem Gewahrsamsbereichen auf?

8. Wie lange halten sich abzuschiebende Ausländer und Ausländerinnen, bei
denen kein richterlicher Beschluss für eine Freiheitsentziehung vorliegt,
minimal, durchschnittlich und maximal in Räumen der Bundespolizei auf?

9. Ab wann ist nach Meinung der Bundesregierung bei einer kurzfristigen
Freiheitsentziehung ein richterlicher Beschluss nach Artikel 104 GG nötig?

10. Wie oft wurde ein Haftbeschluss bei Abzuschiebenden, die sich nicht vor-
her in Haft befanden, seit dem Jahr 2000 eingeholt (bitte nach Jahr und
Flughafen aufgliedern)?

11. Wie ist die Antwort der Bundesregierung auf die schriftliche Frage des
Abgeordneten Sevim Dag˘delen vom 20. März 2008 (Bundestagsdrucksache
16/8717 – Frage 10), wonach die „übliche Wartezeit … in den Räumlich-
keiten der Bundespolizei“ insgesamt Teil des Vorgangs einer „Ausreise“ –
und keine Freiheitsentziehung sei, vereinbar mit der in dem genannten
Rechtsgutachten vertretenen Rechtsauffassung bzw. mit der dort genannten
jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, und auf welche
konkrete Rechtsprechung stützt sich die Bundesregierung bei ihrer Ein-
schätzung in Auseinandersetzung mit dem Gutachten?

12. Wie bewertet die Bundesregierung die geschilderte Praxis, dass auch bei
unerwarteten Verzögerungen der Abschiebung keine (zumindest nachträg-
liche) richterliche Anordnung eingeholt wird angesichts ihrer Antwort auf
Frage 11 angeführte schriftliche Frage vom 20. März 2008, wonach in die-
sen Fällen ein richterlicher Beschluss (nachträglich) erwirkt werden müsse,
und liegt in diesen Fällen eine rechtswidrige Freiheitsentziehung vor, und
welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für die Praxis?

13. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung generell aus dem benann-
ten Rechtsgutachten?

Berlin, den 6. Oktober 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.