BT-Drucksache 15/65

Abbau von Bürokratie sofort einleiten

Vom 13. November 2002


Deutscher Bundestag Drucksache 15/65
15. Wahlperiode 13. 11. 2002

Antrag
der Abgeordneten Rainer Brüderle, Dirk Niebel, Birgit Homburger, Gudrun Kopp,
Daniel Bahr (Münster), Ernst Burgbacher, Jörg van Essen, Ulrike Flach, Otto
Fricke, Horst Friedrich (Bayreuth), Hans-Michael Goldmann, Joachim Günther
(Plauen), Christoph Hartmann (Homburg), Klaus Haupt, Dr. Werner Hoyer,
Dr. Heinrich L. Kolb, Jürgen Koppelin, Harald Leibrecht, Ina Lenke, Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Günther Friedrich Nolting, Hans-Joachim Otto
(Frankfurt), Eberhard Otto (Godern), Detlef Parr, Cornelia Pieper, Gisela Piltz,
Marita Sehn, Dr. Rainer Stinner, Carl-Ludwig Thiele, Dr. Dieter Thomae, Jürgen
Türk, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Abbau von Bürokratie sofort einleiten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
1. In seiner Regierungserklärung zu Beginn der 15. Legislaturperiode hat Bun-

deskanzler Gerhard Schröder als eine Säule seiner Wirtschafts- und Arbeits-
marktpolitik aus einem Guss den Abbau unnötiger Bürokratie genannt. Er
hat angekündigt, allein im Bereich des Bundesministeriums der Finanzen bis
zu 20 000 Vorschriften abzuschaffen, die das Leben und Wirtschaften in
unserem Land komplizieren. Schon in seiner Regierungserklärung vom
10. November 1998 hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder definiert, dass
für ihn moderne Mittelstandspolitik weniger Bürokratie sei.

2. Der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement, hat im
Deutschen Bundestag einen Master-Plan Bürokratieabbau angekündigt. Er
hat sich bereit erklärt, jeden Vorschlag zum Bürokratieabbau, der ihm ge-
nannt wird, zu prüfen. Er hat des Weiteren Boni für diejenigen seiner Mit-
arbeiter ausgelobt, die ihm umsetzbare Vorschläge zum Bürokratieabbau
und zum Abbau überflüssiger Regularien aus seinem Verantwortungsbereich
nennen und sie durchsetzen. Er hat ferner eine Sympathie für Experimentier-
und Innovationsklauseln für die Bundesländer ausgedrückt. Schließlich hat
er die Vereinheitlichung von Bescheinigungen im Arbeits- und Sozial-
bereich, die Vereinheitlichung von Fristen und die Anhebung von Grenzen
für die Buchführungspflicht im Steuerrecht, eine deutliche Reduzierung sta-
tistischer Meldepflichten und die flächendeckende Einführung einer einheit-
lichen Wirtschaftsnummer als schon jetzt machbar bezeichnet.

3. Laut Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage der Fraktion der
CDU/CSU (Bundestagsdrucksache 14/9993 vom 7. Oktober 2002) müssen
sich die Bürger allein auf Bundesebene an 2 197 Gesetze mit 46 779 Einzel-
vorschriften halten. Hinzu kommen noch einmal 3 131 Rechtsverordnungen
mit mehr als 39 000 Einzelbestimmungen. In der 14. Legislaturperiode sind

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den Angaben der Bundesregierung zufolge bis Mitte 2002 396 Bundes-
gesetze verabschiedet und 1 379 Rechtsverordnungen des Bundes erlassen
worden. Im gleichen Zeitraum sind 95 Bundesgesetze und 406 Rechtsver-
ordnungen des Bundes außer Kraft gesetzt worden. Allein im Steuerrecht
sind 84 neue Steuergesetze in diesem Zeitraum verkündet worden. Weitere
58 wurden teils mehrfach geändert.
Einer Bilanz des Kölner Instituts der Deutschen Wirtschaft zufolge hat die
14. Legislaturperiode dazu geführt, dass sich die Unternehmen 396 neuen
Regelwerken gegenübersehen, denen nur 91 Streichungen gegenüberstehen.
In einem internationalen Vergleich, den die OECD durchgeführt hat und der
Wettbewerbsbeschränkungen, bürokratische Hürden für Existenzgründer
sowie regulatorische und administrative Undurchlässigkeiten umfasste, hat
Deutschland den 16. Platz von 21 untersuchten Ländern erreicht.

4. Über die Belastungen, die in den Unternehmen durch Bürokratiekosten ent-
stehen, liegt der Bundesregierung nach ihren Angaben lediglich eine sieben
Jahre alte Untersuchung des Instituts für Mittelstandsforschung Bonn vor.
Demzufolge lag die durchschnittliche Belastung für Kleinunternehmen pro
Arbeitsplatz bei rund 3 579 Euro/Jahr und bei Großunternehmen bei rund
153 Euro/Jahr. 96 % der jährlichen Bürokratiekosten entfallen auf den Mit-
telstand. Eine neue Untersuchung hat die Bundesregierung trotz der Flut an
neuen Gesetzen und Verordnungen bisher nicht in Auftrag gegeben.

5. Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die auf der Wirtschaftsministerkonferenz
Ost am 26. Oktober 2001 mit dem Ziel beschlossen wurde, Vorschläge zum
Bürokratieabbau zu unterbreiten, hat unter Beteiligung des Bundes zwar
mehrmals getagt, bisher jedoch noch keine konkreten Vorschläge zur De-
regulierung unterbreitet. Im Koalitionsvertrag kündigen die Koalitionspar-
teien zwar einen flächendeckenden Master-Plan Bürokratieabbau an. Weiter
ist aber laut Koalitionsvertrag beabsichtigt, die gesetzlichen Aufzeichnungs-
und Meldepflichten zu modernisieren, um bestehende Wettbewerbsverzer-
rungen zu beseitigen und die Steuerbasis zu sichern. Zugleich werden zu-
sätzliche administrative und gesetzgeberische Maßnahmen angekündigt, um
eine effektive Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs zu erreichen. Hiermit
können nur erweiterte Auskunftspflichten des Bürgers gegenüber staatlichen
Behörden und neue Hand- und Spanndienste der Unternehmen für den Staat
gemeint sein.

6. Das Ausufern von Verwaltungsarbeiten für den Staat, von Auskunfts- und
Dokumentationspflichten, von Kontrollrechten durch Behörden und das un-
systematische Nebeneinander von Regulierungen durch verschiedene Ver-
waltungsinstanzen haben in Deutschland ein Ausmaß angenommen, das die
Leistungsfähigkeit der Wirtschaft spürbar lähmt. Zugleich werden kleinere
und mittlere Unternehmen überproportional belastet. Die Personalkosten in
den öffentlichen Haushalten steigen durch den Auf- bzw. Ausbau immer
neuer Kontroll- und Verwaltungsapparate, während die Profitabilität von
Unternehmen im Privatsektor im gleichen Atemzuge leidet. Im Ergebnis
schrumpft die Wirtschaftstätigkeit, nimmt der Staat weniger Steuern und
Abgaben ein und steigen die Personalkosten in den öffentlichen Haushalten.
Gleichzeitig kurieren viele bürokratische Maßnahmen nur an den Sympto-
men, büßen ihre Effizienz durch die Detailwut der Regulierungen ein oder
sind so unverständlich, dass sie weder durch die Verwaltungen noch durch
die betroffenen Unternehmen sinnvoll gehandhabt werden können.

7. Die schnelle Einleitung eines umfassenden Abbaus von Bürokratie und
Regulierungen stellt insoweit für die deutsche Volkswirtschaft eine „win-
win Strategie“ dar, da sich auf der einen Seite der Wirtschaftssektor seiner
eigentlichen Aufgabe, der effizienten Produktion von Gütern und Dienst-
leistungen zuwenden kann, und der öffentliche Sektor auf der anderen Seite

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/65

wuchernde, teure Bürokratie- und Kontrollapparate abbauen und sich ver-
stärkt um die Kernaufgaben, die ein Staat in einer sozialen Marktwirtschaft
wahrnehmen sollte, kümmern kann. Gründlicher Bürokratieabbau ist also
ein Wachstums- und Beschäftigungsprogramm. Bürokratieabbau ist zu-
gleich ein Beitrag zur Stärkung der Souveränität des Bürgers im demokra-
tisch verfassten Rechtsstaat und wirkt Tendenzen entgegen, die Privatsphäre
immer stärker durch die Verwaltungsbürokratie ausleuchten zu lassen. Des-
halb ist der Abbau von Bürokratie und Regulierungen Kernbestandteil einer
Politik, die den liberalen Rechtsstaat stärken will.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf,
1. die Bundesregierung legt bis zur Sommerpause 2003 eine neue wissen-

schaftliche Studie vor, die die Bürokratiekosten für Unternehmen nach Grö-
ßenklassen auf Basis aktueller Daten differenziert darstellt;

2. die Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die Vorschläge zum Bürokratieabbau un-
terbreiten soll, legt bis zur Sommerpause 2003 einen detaillierten Plan zum
Abbau von Bürokratie insbesondere auf Länderebene und mit besonderem
Schwerpunkt auf die Verhältnisse in den neuen Ländern vor;

3. die Bundesregierung legt bis zur Sommerpause 2003 einen separaten Plan
zum Abbau von bürokratischen Regelungen im Bau- und Wohnungswesen
vor;

4. die Bundesregierung legt vor der Sommerpause 2003 den Entwurf eines
Bürokratieabbaugesetzes vor, das insbesondere folgende Komponenten um-
fasst:
l Anhebung der Umsatzgrenze für die steuerliche Buchführungspflicht in

§ 141 Abgabenordnung auf 400 000 Euro und Anhebung der Gewinn-
grenze auf 40 000 Euro;

l Verlängerung der Frist für die Abgabe einer Umsatzsteuervoranmeldung
von einem auf drei Monate für alle Unternehmen;

l Abschaffung der Umsatzsteuerjahreserklärung nach § 18 UStG;
l Verzicht auf die Einführung einer Dokumentationspflicht für konzern-

interne Verrechnungspreise;
l Abschaffung der Bauabzugsteuer;
l Lockerung der Vorgaben im Eichgesetz, um den Bundesländern eine wei-

tere Deregulierung des Eichwesens zu ermöglichen;
l Berechnung der vom Arbeitgeber zu zahlenden Beiträge zur Sozialver-

sicherung am gezahlten Entgelt (sog. Zuflussprinzip) durch entsprechen-
den Erlass einer Verordnung nach § 17 SGB IV;

l Ersatzlose Streichung der Regeln gegen Scheinselbständigkeit insbeson-
dere in § 7 Abs. 4 SGB IV, die sich als nicht praktikable Regelungen und
Bürokratisierung herausgestellt haben;

l grundlegende Überarbeitung der Makler- und Bauträgerverordnung im
Hinblick auf Aufzeichnungspflichten und Prüfberichte;

l einheitliche Berechnung der Schwellenwerte im Arbeitsrecht nach dem
Grundsatz „pro-rata-temporis“;

l Heraufsetzung der Schwelle, ab der Mitarbeiter für die Betriebsratstätig-
keit freizustellen sind, auf 500 Mitarbeiter (§ 38 Betriebsverfassungs-
gesetz);

Drucksache 15/65 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

l Aufhebung der Trennung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil bei
den Sozialversicherungsbeiträgen. Stattdessen Behandlung als Lohn-
bestandteil mit uneingeschränkter steuerlicher Abzugsfähigkeit der Ver-
sicherungsbeiträge bis zur jeweiligen Beitragsbemessungsgrenze beim
Arbeitnehmer;

l Neudefinition der Grenzziehung in der gesetzlichen Unfallversicherung
zwischen dem allgemeinen Lebensrisiko und dem betriebsspezifischen
Risiko und Begrenzung des versicherten Personenkreises;

l umfassende Überarbeitung des Bundesstatistikgesetzes insbesondere im
Hinblick auf Beseitigung von Mehrfacherhebungen von Daten;

l Abschaffung der unverständlichen Bestimmungen zur sog. Mindestbe-
steuerung in § 2 Abs. 3 EStG;

l Rücknahme der bürokratischen, unpraktikablen Vorschriften, die in das
Einkommensteuergesetz mit dem „Gesetz zur Eindämmung der illegalen
Beschäftigung im Baugewerbe“ insbesondere in den §§ 48 bis 48d EStG
eingeführt worden sind, da die umfassenden Haftungsbestimmungen von
Unternehmen für Subunternehmer insbesondere im Baubereich gerade
kleinere und mittlere Firmen überfordern;

l Übertragung von Berechnungsaufgaben aus den §§ 38 und 39 EStG aus
dem Unternehmensbereich auf die Finanzämter;

l im Vorgriff auf eine umfassende Reform des Teilzeit- und Befristungs-
gesetzes eine vorgeschaltete Neuregelung von § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG,
wonach eine Befristung auch dann zulässig wird, wenn mit demselben
Arbeitgeber zuvor bereits ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsver-
hältnis bestanden hat;

l Änderung von § 92a Betriebsverfassungsgesetz dergestalt, dass die
Pflicht des Unternehmers entfällt, allgemeine beschäftigungspolitische
Vorschläge, die der Betriebsrat macht, in jedem Fall mit ihm zu beraten
und wenn er sie für ungeeignet hält, dies in Betrieben mit mehr als 100
Arbeitnehmern schriftlich zu begründen;

l Streichung der Vorschriften in den §§ 43 und 53 Betriebsverfassungs-
gesetz, wonach eine Berichtspflicht des Unternehmers in der Betriebsver-
sammlung und der Betriebsräteversammlung im Hinblick auf den Stand
der Gleichstellung von Frauen und Männern und der Integration der in
dem Betrieb beschäftigten ausländischen Arbeitnehmer begründet wor-
den ist. Ebenso Streichung der Berichtspflicht nach § 80 Betriebsverfas-
sungsgesetz des Unternehmers über die Beschäftigung freier Mitarbeiter;

l Streichung der Vorschriften in § 92 Betriebsverfassungsgesetz über die
Verpflichtung des Unternehmers, im Rahmen der Personalplanung die
Förderung der tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern so-
wie der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit zu berücksich-
tigen und mit dem Betriebsrat einschlägige Maßnahmen anhand von
Unterlagen zu beraten;

l Streichung der Verpflichtung des Unternehmers aus § 80 Betriebsverfas-
sungsgesetz, mit dem Betriebsrat Maßnahmen zur Bekämpfung von Ras-
sismus und Fremdenfeindlichkeit beraten zu müssen;

l Beschränkung der Sozialauswahl bei betriebsbedingter Kündigung in § 1
Abs. 3 Kündigungsschutzgesetz auf die drei Grunddaten Dauer der
Betriebszugehörigkeit, Lebensalter und Unterhaltspflichten des Arbeit-
nehmers;

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 5 – Drucksache 15/65

l Abschaffung der durch das „Gesetz zur Bekämpfung illegaler Beschäfti-
gung und Schwarzarbeit“ in § 28e Abs. 3a bis f SGB IV eingeführten Ge-
neralunternehmerhaftung für die Zahlung von Sozialversicherungsbeiträ-
gen;

l Umsetzung eines Antidiskriminierungsgesetzes in enger Umsetzung an
die diesbezügliche EU-Richtlinie;

l Verzicht auf die Einführung des Tarifzwangs in die Kriterien bei der Ver-
gabe öffentlicher Aufträge („Tariftreuegesetz“);

l Abschaffung der Arbeitsgenehmigungsverordnung und Regelung des Ar-
beitsmarktszuganges mit dem Aufenthaltsstatus.

Berlin, den 13. November 2002
Rainer Brüderle
Dirk Niebel
Birgit Homburger
Gudrun Kopp
Daniel Bahr (Münster)
Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Horst Friedrich (Bayreuth)
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther (Plauen)
Christoph Hartmann (Homburg)
Klaus Haupt
Dr. Werner Hoyer
Dr. Heinrich L. Kolb
Jürgen Koppelin
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Eberhard Otto (Godern)
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Marita Sehn
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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