BT-Drucksache 15/590

Rahmenbedingungen für einen funktionsfähigen Arbeitsmarkt schaffen

Vom 12. März 2003


Deutscher Bundestag Drucksache 15/590
15. Wahlperiode 12. 03. 2003

Antrag
der Abgeordneten Dirk Niebel, Rainer Brüderle, Dr. Heinrich L. Kolb, Ernst
Burgbacher, Jörg van Essen, Birgit Homburger, Dr. Werner Hoyer, Jürgen
Koppelin, Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele, Daniel Bahr (Münster),
Helga Daub, Ulrike Flach, Otto Fricke, Horst Friedrich (Bayreuth), Rainer Funke,
Dr. Christel Happach-Kasan, Christoph Hartmann (Homburg), Gudrun Kopp,
Sibylle Laurischk, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Markus Löning, Günther
Friedrich Nolting, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Detlef Parr, Cornelia Pieper,
Gisela Piltz, Dr. Andreas Pinkwart, Dr. Günter Rexrodt, Marita Sehn, Dr. Max
Stadler, Dr. Rainer Stinner, Dr. Dieter Thomae, Jürgen Türk, Dr. Claudia
Winterstein, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Rahmenbedingungen für einen funktionsfähigen Arbeitsmarkt schaffen

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Die Lage am Arbeitsmarkt hat sich zu Jahresbeginn 2003 noch einmal drama-
tisch verschlechtert. Mit über 4,7 Millionen ist die Zahl der Arbeitslosen so
hoch wie seit fünf Jahren nicht mehr. Eine Besserung zeichnet sich nicht ab.
Zugleich verringert sich die Zahl der Erwerbstätigen immer schneller, zuletzt
um fast 400 000 im Vergleich zum Vorjahr. Die Zahl der gemeldeten Stellen ist
zugleich um 20 % gegenüber dem Vorjahresmonat auf nur noch knapp 690 000
zurückgegangen. Im Durchschnitt des Jahres 2002 lag die Zahl der Arbeitslo-
sen bei 4,06 Millionen.
Parallel dazu hat sich die Misere auf dem deutschen Ausbildungsmarkt noch
weiter verschärft. Ende 2002 fehlten rechnerisch mehr als 20 000 Lehrstellen.
Zum ersten Mal seit zwei Jahren gibt es weniger unbesetzte Ausbildungsplätze
als nicht vermittelte Bewerber.
Schon nach den Januar- und Februar-Zahlen sind die Haushaltsplanungen der
Bundesanstalt für Arbeit Makulatur. Die Notwendigkeit eines Milliardenzu-
schusses aus dem Bundeshaushalt ist absehbar. Trotz der seit viereinhalb Jahren
wiederholten Reformversprechen der Bundesregierung hat sich die Lage auf
dem Arbeitsmarkt immer weiter verschlechtert. Die „Hartz“-Neuerungen haben
sich darauf beschränkt, an den Symptomen zu kurieren. Das Bündnis für Arbeit
ist gescheitert und das zu Recht: Funktionäre schaffen keine Arbeitsplätze.
Frauen sind von registrierter Arbeitslosigkeit und nicht realisierten Erwerbs-
wünschen überdurchschnittlich betroffen. Der Frauenanteil an den registrierten
Arbeitslosen sowie an der so genannten „Stillen Reserve“ liegt höher als der
Frauenanteil an den Erwerbstätigen. Nachweislich haben die Über- bzw. Fehl-
regulierungen auf dem Arbeitsmarkt gerade für Frauen besonders negative
Auswirkungen und verhindern ihren adäquaten Zugang zum Arbeitsmarkt.

Drucksache 15/590 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Die Probleme des deutschen Arbeitsmarkts sind hinlänglich bekannt:
l der gewaltige Keil zwischen Brutto- und Nettolöhnen als Folge hoher

Steuer- und Abgabelasten;
l zu hohe reale Lohnkosten in Folge einer über viele Jahre zu sehr verteilungs-

orientierten Lohnpolitik der Tarifparteien, die vor allem auf Lohnsteigerun-
gen der Beschäftigten setzte und kaum Spielraum für zusätzliche Arbeits-
plätze schaffte;

l zu geringe Differenzierung von Löhnen nach Sektoren und Regionen als
Folge eines zentralistischen Lohnfindungsprozesses und der damit verbun-
denen Lohnführerschaft produktiver Branchen;

l ein zu starres System der Flächentarifverträge mit unzureichenden Möglich-
keiten der Berücksichtigung spezifischer tarifpolitischer Erfordernisse vor
Ort;

l zu geringe Differenzierung von Löhnen nach der Qualifikation, insbeson-
dere weit über der Produktivität liegende Löhne für gering Qualifizierte;

l im Ergebnis kontraproduktiver Kündigungsschutz durch weitreichende
arbeitsrechtliche Vorgaben und ihre restriktive Auslegung und Erweiterung
durch die Arbeitsgerichte;

l zu hohe rechtliche Barrieren gegen einen zeitlich flexibleren Arbeitseinsatz;
l zu geringe Anreize zur Arbeitsaufnahme durch hohe Sozialstandards für

Arbeitslose, zum Teil auch bedingt durch unzureichende Abstimmung von
Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe;

l gravierende Schwächen in der Arbeitsvermittlung und der aktiven Arbeits-
marktpolitik;

l fehlende bzw. ungeeignete Anreize für die Rückkehr der schwarz Beschäf-
tigten in den legalen Arbeitsmarkt.

Die beiden Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt sind in
diesem Zusammenhang nur ein umständliches Kurieren an Symptomen, gekop-
pelt mit Ersatz- und Umweglösungen, weil sich die Bundesregierung an die
Ursachen der arbeitsmarktpolitischen Misere nicht herantraut. Sozialpolitische
Tabus wurden dabei umgangen. Im Ergebnis haben die Gesetzentwürfe einige
Erleichterungen bei der Vermittlung, verbunden mit Systembrüchen in den So-
zialversicherungen und bei den Steuern sowie einer noch stärkeren Bürokrati-
sierung des Arbeitsmarktes gebracht. Die Arbeitslosenversicherung bleibt wei-
ter mit gesamtstaatlichen Aufgaben überfrachtet. Der Kündigungsschutz bleibt
eine Beschäftigungshürde. Ohne eine Reform der Arbeitsverwaltung, insbeson-
dere der Selbstverwaltung, bleibt selbst fraglich, ob die Ansätze zu einer
schnelleren Vermittlung etwas fruchten werden. Die Gewerkschaftsmacht wird
durch einen gesetzlichen Tarifzwang in der Zeitarbeitsbranche massiv gestärkt.
Die Zeitarbeitsbranche wird de facto verstaatlicht. Mit dem Verschieben von
Arbeitslosen in Personal-Service-Agenturen (PSA) geht eine statistische Ab-
senkung der Arbeitslosenquote einher. Die Nachfrageseite des Arbeitsmarkts,
auf der neue Arbeitsplätze entstehen, bleibt bei den beiden Gesetzentwürfen
unbeachtet. Sie wird hingegen durch die Erhöhung des Rentenbeitrags von 19,1
auf 19,5 % mittelfristig um 60 000 Arbeitsplätze und durch eine Anhebung der
durchschnittlichen Krankenkassenbeiträge um 0,3 % verbunden mit der Anhe-
bung der Beitragsbemessungsgrenzen in der Rentenversicherung zusätzlich
etwa um 40 000 Arbeitsplätze geschmälert.
Deutschland bedarf dringend einer durchgreifenden Reform der Arbeitsmarkt-
politik, die sich auf die Wirksamkeit und Effizienz ihrer Maßnahmen konzent-

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riert. Die anhaltend hohe und weitgehend strukturelle Arbeitslosigkeit in
Deutschland sowie die beschäftigungspolitischen Erfolge anderer Länder zie-
hen die Effektivität und Effizienz der deutschen Arbeitsmarktpolitik stark in
Zweifel.
Arbeitsmarktpolitik stellt einen gewichtigen Eingriff in die institutionellen
Rahmenbedingungen des Arbeitsmarktes dar und beeinflusst das Verhalten der
Marktteilnehmer nachhaltig: Der Staat demonstriert seinen scheinbaren Ein-
fluss und wiegt die Betroffenen in Sicherheit. Die Arbeitgeber werden verleitet,
arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zur Lösung betrieblicher Personalpolitik zu
missbrauchen. Der private Sektor wird durch den zweiten Arbeitsmarkt be-
drängt. Die Gewerkschaften schließlich versuchen, mit Hilfe arbeitsmarktpoli-
tischer Instrumente die Interessen ihrer Mitglieder zu bedienen, nicht die der
Arbeitslosen. In ihrer gegenwärtigen Form wird die Arbeitsförderung ihren
wesentlichen Funktionen nur unzureichend gerecht: Ausgleichsprozesse auf
dem Arbeitsmarkt zu erleichtern; Anreize zu schaffen, angebotene Arbeit auch
anzunehmen und strukturelle Langzeitarbeitslosigkeit abzubauen bzw. zu ver-
meiden. Infolge jahrzehntelanger staatlicher Eingriffe wird der Arbeitsmarkt
nur noch sehr eingeschränkt seiner ökonomischen Funktion gerecht, einen
nachhaltigen Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage zu schaffen. Die
hohe Beschäftigungsschwelle in Deutschland ist zu senken, um auch bei gerin-
gen Wachstumsraten Beschäftigung zu schaffen.
Daher wird eine Reform des Arbeitsmarktes und des Arbeitsrechts nur erfolg-
versprechend sein, wenn folgende Kernpunkte berücksichtigt werden:
– Die Leistungen bei Arbeitslosigkeit, also die Versicherungsleistung (Ar-

beitslosengeld) sowie die steuerfinanzierten Leistungen (Arbeitslosenhilfe
und Sozialhilfe) sind so auszurichten, dass deutlichere ökonomische Anreize
für die Rückkehr in das Erwerbsleben und für die Eigenverantwortung ge-
setzt werden.

– Das Gerechtigkeitsprinzip, nämlich keine Leistung ohne grundsätzliche Be-
reitschaft zur Gegenleistung, muss stärker zur Geltung gebracht werden.

– Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen sind dringend auf Umfang, Wirksam-
keit und Effizienz zu überprüfen, denn Arbeitsmarktpolitik ist nur dann
effektiv und effizient, wenn es ihr gelingt, mit möglichst geringem Mittel-
einsatz Arbeitslosigkeit zu vermeiden oder möglichst rasch zu beenden.

– Die öffentlich subventionierte, unfaire Konkurrenz für mittelständische
Unternehmen und Existenzgründer durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen
und Strukturanpassungsmaßnahmen muss eingeschränkt werden.

– Die Bundesanstalt für Arbeit (BA) ist gründlich neu zu organisieren.
– Die Evaluierung der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland muss verbessert

werden.
– Die Instrumente des Arbeitsförderungsrechts müssen zugunsten älterer

Arbeitnehmer überdacht werden.
– Das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz muss liberalisiert werden. Mittelfristi-

ges Ziel muss die Abschaffung sein.
– Das Tarifvertragsrecht muss flexibilisiert werden.
– Das Kündigungsschutzrecht muss den arbeitsgerichtlichen Realitäten ange-

passt und deshalb modernisiert werden.
– Das Betriebsverfassungsgesetz muss die Strukturen kleiner und mittlerer

Betriebe besser berücksichtigen. Das Betriebsverfassungsreformgesetz ist
zurückzunehmen.

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– Nach Modernisierung und Straffung ist das Arbeitsrecht mittelfristig in
einem Arbeitsgesetzbuch (AGB) nach dem Vorbild des SGB zusammen-
zufassen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
einen Gesetzentwurf zur Reform des Arbeitsmarktes und Arbeitsrechts unter
Maßgabe folgender Eckpunkte vorzulegen:
E r s t e n s sind die Leistungen bei Arbeitslosigkeit, also die Versicherungs-
leistung (Arbeitslosengeld) sowie die steuerfinanzierten Leistungen (Arbeits-
losenhilfe und Sozialhilfe) so auszurichten, dass deutlichere ökonomische
Anreize für die Rückkehr in das Erwerbsleben und für die Eigenverantwortung
gesetzt werden. Das Versicherungsprinzip in der Arbeitslosenversicherung ist
zu stärken:
– Beim Arbeitslosengeld muss die Anspruchsdauer wieder auf 12 Monate be-

grenzt werden. Während sie 1983 einheitlich 12 Monate betrug, beträgt sie
heute je nach Versicherungsdauer und Lebensalter 6 bis zu 32 Monate (§ 127
Abs. 2 SGB III). Eine solche Daueralimentation, häufig als Brücke in die
Frühverrentung genutzt, ist nicht nur geeignet, dem Einzelnen mit zuneh-
mender Verweildauer die Motivation zu nehmen, jemals wieder auf dem
ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, sie wird auch der Bewältigung des Struk-
turwandels auf dem Arbeitsmarkt nicht gerecht. Im Durchschnitt findet ein
Arbeitsloser nach 8 Monaten wieder Arbeit. Auch bei einer Rückkehr zur
Anspruchsdauer von 12 Monaten hat der Arbeitslose genügend Zeit, sich
neu zu orientieren.

– Für einen Arbeitslosengeldempfänger fehlt nicht nur der Anreiz, sich etwa
über eine Teilzeittätigkeit wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern, son-
dern er wird dafür mit einer überproportionalen Kürzung des Arbeitslosen-
geldes gleichsam bestraft. Dies macht es auch einem arbeitswilligen aber
ökonomisch rational denkenden Arbeitslosen schwer, eine Beschäftigung
aufzunehmen. Denn nach § 121 Abs. 3 Satz 3 SGB III gilt vom siebten Mo-
nat der Arbeitslosigkeit an eine Beschäftigung selbst dann noch als unzu-
mutbar, wenn sie nicht wegen ihrer Anforderungen unzumutbar ist, sondern
nur, weil das daraus erzielbare Nettoeinkommen niedriger ist als das Ar-
beitslosengeld. Das bedeutet: Dem Arbeitslosen wird selbst eine hälftige
Teilzeittätigkeit in seinem angestammten Beruf nicht zugemutet, wenn das
Nettoentgelt hinter dem Arbeitslosengeld zurückbleibt. Mehr noch: Nimmt
ein Arbeitsloser eine Tätigkeit von 15 Stunden in der Woche oder mehr auf,
gilt er nach § 118 Abs. 2 SGB III nicht mehr als arbeitslos und verliert den
vollen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Aber selbst wenn sich der Arbeits-
lose entschließt, eine Beschäftigung von weniger als 15 Stunden wöchent-
lich aufzunehmen, ist das Nettoentgelt nach Abzug des Freibetrages von
20 % des monatlichen Arbeitslosengeldes, mindestens aber von einem Vier-
zehntel der monatlichen Bezugsgröße, anzurechnen (§ 141 Abs. 1 Satz 1
SGB III). Daher sollte § 121 Abs. 3 Satz 3 SGB III aufgehoben werden.
Ergänzend muss dann die Anrechnung von Arbeitseinkommen auf das
Arbeitslosengeld wesentlich geringer ausfallen, um einen stärkeren Anreiz
zur Arbeitsaufnahme zu schaffen.

– Die bisherige Unterscheidung zwischen Arbeitgeberanteil und Arbeitneh-
meranteil (§ 346 Abs.1 Satz 1 SGB III) sollte im Interesse einer größeren
Klarheit über die tatsächliche Traglast der Beiträge überdacht werden, da es
letztlich ohnehin die Arbeitnehmer sind, die die gesamte Abgabenlast tra-
gen, das heißt auch die Arbeitgeberbeiträge zur Arbeitslosenversicherung.
Zwar liegt die unmittelbare Zahllast bei den Unternehmen, aber auch wenn
die Arbeitnehmer nicht unmittelbar Lohnzurückhaltung üben, fällt die Trag-

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last letztendlich auf die Arbeitnehmer zurück. Das Arbeitsentgelt sollte zu-
nächst um den Arbeitgeberbeitrag erhöht und der Gesamtbeitrag zur Ar-
beitslosenversicherung davon einbehalten werden. Dann würde sich auch
die Inanspruchnahme beitragsmindernder Optionen für den Arbeitnehmer
bei der Nettoentgeltberechnung unmittelbar positiv niederschlagen.

– Zur Förderung einer verantwortungsbewussten Inanspruchnahme von Ver-
sicherungsleistungen könnten für eine moderne Arbeitslosenversicherung
Wahltarife eingeführt werden. In einem erstem Schritt sollte ein Wahlrecht
für einen niedrigeren Tarif verbunden mit einer Karenzzeit erwogen werden.
Dann würde der Anspruch auf Arbeitslosengeld nicht unmittelbar zum Ent-
lassungszeitpunkt entstehen, sondern erst nach einer Karenzwoche. Eine sol-
che Form des Selbstbehalts ist geeignet, die eigentlichen Versicherungsfälle
stärker von den missbräuchlichen Gestaltungsfällen zu trennen. Bei frei-
willigen Arbeitsplatzwechseln kann es bislang für den Einzelnen rational
und für die Gemeinschaft kostspielig sein, die erneute Arbeitsaufnahme zeit-
lich zu verschieben, um in der Zwischenzeit Ansprüche aus der Arbeits-
losenversicherung geltend zu machen. Aber auch bei einem unfreiwilligen
Arbeitsplatzwechsel erscheint es sinnvoll, den Arbeitnehmern die Möglich-
keit zu eröffnen, in der ersten Woche zunächst auf Ersparnisse zurückzugrei-
fen. Gleichzeitig müssen die so möglich gewordenen Einsparungen in Form
von niedrigeren Beiträgen an die Versicherten weitergegeben werden, die
diese Option nutzen.

– Die Arbeitslosenhilfe muss vollständig mit der Sozialhilfe zu einem System
mit einer Leistung, mit klaren Zuständigkeiten, eingleisigen Verfahren und
schlankerer Verwaltung zusammengefasst werden (Arbeitslosengeld II). Es
gibt keine überzeugende Begründung dafür, warum es in Deutschland meh-
rere steuerfinanzierte Fürsorgeleistungen für einen Tatbestand, nämlich den
der Arbeitslosigkeit, gibt. Bislang werden die Kosten wie auf Verschiebe-
bahnhöfen zwischen den Arbeitsämtern und den Kommunen hin- und her-
geschoben. Das Verfahren ist ineffektiv, für den Empfänger undurchsichtig
und für den Steuerzahler zu teuer. Auch ist es für Betroffene unwürdig, zwei
verschiedenen Behörden für den gleichen Zweck jeweils ihre persönlichsten
Daten offenbaren zu müssen. Gleichzeitig sollte mit dieser Reform ein dau-
erhafter föderaler Finanzausgleich erfolgen: Von den durch den Wegfall der
Arbeitslosenhilfe sowie weiterer Personalkosten ersparten Leistungen muss
der Bund den Kommunen einen – je nach ihren Aufwendungen – jährlich im
Voraus festgelegten Betrag geben, so dass ein Budgetsystem mit dem Anreiz
zum sparsamen Haushalten geschaffen wird. Dieser, den Kommunen jähr-
lich vom Bund zu überweisende Pauschalbetrag, sollte sich nach den Bun-
desausgaben für die Arbeitslosenhilfe im letzten Jahr vor der Reform rich-
ten. Städte und Gemeinden können nicht verbrauchte Mittel, etwa weil sie
besonders viele Menschen vermittelt haben, behalten. Gleichzeitig müssen
sie Unterdeckungen aus ihren Haushalten begleichen. Die organisatorische
Verzahnung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe soll durch die Bildung
einer gemeinsamen Anlaufstelle für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger,
so genannte „one-stop-career“-Center, gewährleistet werden, damit Bera-
tung, Unterstützung, medizinische Dienste, individuelle Kontaktanbahnung
mit Unternehmen, Computertraining sowie begleitende Qualifizierung bei
der Arbeitssuche mit dem gebündelten Personal des sozialen Sicherungssys-
tems, unterstützt von Sozialarbeitern und Psychologen und unter Ein-
beziehung von privaten Job-Vermittlern sowie Zeitarbeit, in einem Haus
stattfinden kann. Die bewährten Vermittlungskonzepte der kommunalen
Sozialhilfeträger müssen dabei in die „one-stop-career“-Center integriert
werden.

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– In der Sozialhilfe lohnt es sich für viele arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger
nicht, eine Arbeit aufzunehmen, da gerade bei niedrigem Einkommen der
Abstand zwischen Lohn und Sozialhilfe zu gering ist und einem arbeits-
willigen Sozialhilfeempfänger jeder Zuverdienst über die Hälfte des Regel-
satzes im Monat zu 100 %, also voll auf die Sozialhilfe angerechnet wird.
Um einem arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger größere Anreize zu geben,
Arbeit aufzunehmen und in das Erwerbsleben zurückzukehren, müssen die
Freibeträge erhöht werden, die Anrechnungssätze langsamer ansteigen und
muss der Eingangssteuersatz noch 2003 auf 15 % gesenkt werden.

Zwe i t e n s müssen Vermittlung und Beratung – also Maßnahmen, die auf den
Ausgleich von Angebot und Nachfrage, auf die Überwindung von qualifikatori-
schen Diskrepanzen (Mismatch) und auf Unterstützung der Mobilität zielen –
effektiver gestaltet werden:
– Das Gerechtigkeitsprinzip, wonach keine Leistung ohne grundsätzliche Be-

reitschaft zur Gegenleistung zu gewähren ist, muss deutlicher zur Geltung
gebracht werden. Fehlende Eigenbemühungen des Arbeitslosen müssen
Sperrzeittatbestand werden. Zwar ist mit der Ergänzung von § 144 Abs. 1
SGB III seit Anfang 2003 eine teilweise Beweistlastumkehr vorhanden,
soweit Ablehnungsgründe für die Aufnahme einer zumutbaren Arbeit in der
persönlichen Sphäre des Arbeitslosen liegen. Diese Beweislastumkehr ist
aber auf § 144 Satz 1 Nr. 2 SGB III (verhaltensbedingte Verhinderung einer
Beschäftigungsanbahnung) auszudehnen.

– Die Quartalsmeldepflicht gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 3 a. F. SGB III muss wie-
der eingeführt werden. Jeder Arbeitslose sollte verpflichtet sein, mit seinem
Arbeitsamt laufenden Kontakt zu halten, denn nur so wird seine intensive
und effektive Vermittlung und Betreuung durch das Arbeitsamt gewähr-
leistet und kann die Pflicht des Arbeitslosen nachgeprüft werden, sich nach-
weislich auch selbst um eine Arbeit zu bemühen.

– Unvermindert besteht das regionale Ungleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt
fort: Die Spanne der regionalen Arbeitslosenquoten reicht von 5 % in Frei-
sing bis zu über 25 % in Neubrandenburg. Gleichwohl nimmt das Arbeits-
förderungsrecht keine entsprechende räumliche Differenzierung je nach der
Arbeitsmarktsituation vor. Will man etwa die Quartalsmeldepflicht nicht
wieder einführen, böte sich zumindest eine Differenzierung der Meldepflicht
nach der Arbeitsmarktsituation und damit die Chance, dass häufige Meldun-
gen zu einer wirklichen Steigerung der Vermittlungsmöglichkeiten führen,
an (§ 122 SGB III). Auch bei der Frage, welche Pendelzeiten zwischen
Wohnung und Arbeitsstätte unverhältnismäßig lang sind, ließe sich die
räumliche Verteilung der Arbeitslosigkeit einbeziehen (§ 121 Abs. 4
SGB III).

D r i t t e n s sind arbeitsmarktpolitische Maßnahmen dringend auf Umfang,
Wirksamkeit und Effizienz zu überprüfen, denn Arbeitsmarktpolitik ist nur
dann effektiv und effizient, wenn es ihr gelingt, mit möglichst geringem Mittel-
einsatz Arbeitslosigkeit zu vermeiden oder möglichst rasch zu beenden:
– Den denkbaren positiven Wirkungen der im Jahr 2002 mit rd. 7 Mrd. Euro

geförderten beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen (§§ 77 f. SGB III) ste-
hen nachgewiesene negative Wirkungen gegenüber: Wenn die Maßnahmen
nicht hinreichend zielgenau auf Marktbedürfnisse der Arbeitsmarktnach-
frage und Eigenschaften der Teilnehmer zugeschnitten sind, führen sie zu
einer Verschlechterung der Beschäftigungschancen. Auch werden häufig in
Erwartung einer Teilnahme Suchaktivitäten eingeschränkt.

– Entscheidend für Effizienz der beruflichen Weiterbildung ist die Auswahl
der zu fördernden beruflichen Qualifikation, die Sicherung der Qualität der

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7 – Drucksache 15/590

Fortbildungsmaßnahme sowie eines angemessenen Engagements der Teil-
nehmer. Daher müssen sowohl die Teilnehmer stärker in den Entscheidungs-
prozess, welche Qualifikation sinnvoll ist, einbezogen wie auch die Weiter-
bildungsmaßnahmen frühzeitiger mit Vermittlungsberatung und aktiver Ar-
beitsplatzsuche verknüpft werden.

– Die mit § 77 Abs. 3 SGB III eingeführten Bildungsgutscheine reichen nicht
aus. Eine Verpflichtung der Teilnehmer zur Selbstbeteiligung könnte bewir-
ken, dass sie selbst ein stärkeres Interesse an der Einhaltung der Qualitäts-
standards der Maßnahme entwickeln, dezentral eine Kontrollfunktion über
die Bildungsträger übernehmen und der Wettbewerb zwischen den Bil-
dungsträgern gesteigert wird. Als ein Signal an potentielle Arbeitgeber im
Hinblick auf die angeeignete Qualifikation der Teilnehmer könnten Zertifi-
kate nach einer bestandenen Abschlussprüfung fungieren: Von einer hierauf
bezogenen verstärkten Zusammenarbeit zwischen Arbeitsämtern, Weiter-
bildungsträgern und anderen beteiligten Einrichtungen könnten sowohl die
Arbeitgeber profitieren, die dadurch möglicherweise mehr Einfluss auf
Lehrinhalte haben und so eventuellem Fachkräftemangel begegnen können,
als auch die Teilnehmer, deren Eingliederungsaussichten dadurch gesteigert
werden. Eine Zertifizierung der Weiterbildungsträger z. B. nach ISO 9000
durch von Mitgliedern des Deutschen Akkreditierungsrates akkreditierte
Zertifizierungsstellen sollte erwogen werden. In der Arbeitsverwaltung
selbst sind auf Bundes- wie auf lokaler Ebene mittelverwaltende Stellen, zu-
weisungsberechtigte Stellen, mittelempfangende Stellen und Evaluierung in
personeller Hinsicht strikt voneinander zu trennen.

– Lohnsubventionen zur Integration von Arbeitslosen müssen zur Vermeidung
von Mitnahme-, Substitutions- oder Verdrängungseffekten noch deutlicher
auf Zielgruppen, etwa Ältere, Behinderte, Sozialhilfeempfänger, zugeschnit-
ten werden, präzise an den vermittlungshemmenden Defiziten ansetzen,
etwa durch soziale oder psychologische Betreuung sowie auf die Person zu-
geschnittene Arbeitsplatzgestaltung, und schließlich professionell umgesetzt
werden, etwa durch Prüfung der persönlichen Eignung bis hin zu wettbe-
werblichen Ausschreibungen.

– Schließlich sollten alle arbeitsmarktpolitischen Programme stärker nach den
Prinzipien der Wirtschaftlichkeit und Effizienz öffentlich ausgeschrieben
werden. Projektträger müssen zukünftig im Wettbewerb untereinander
stehen. Durch ständige Leistungsvergleiche sollte der Qualitätswettbewerb
zusätzlich verstärkt werden.

Vi e r t e n s muss die öffentlich subventionierte, unfaire Konkurrenz für mittel-
ständische Unternehmen und Existenzgründer durch Arbeitsbeschaffungsmaß-
nahmen (ABM; § 260 SGB III) und Strukturanpassungsmaßnahmen (SAM;
§ 272 SGB III), etwa im Bereich des Garten- und Landschaftsbaus, des Hand-
werks und der Bauwirtschaft, deutlich eingeschränkt werden. Trotz des Auf-
wandes von zuletzt rd. 3 Mrd. Euro für ABM und 0,8 Mrd. Euro für SAM er-
weisen sie sich von allen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen als am wenigs-
ten geeignet, die Teilnehmer wieder in den regulären Arbeitsmarkt einzuglie-
dern. Die Beschäftigungseffekte von Maßnahmeteilnehmern sind nicht
signifikant höher als diejenigen von Nicht-Teilnehmern. Stattdessen haben
Teilnehmer oft schlechte Integrationschancen, da sie stigmatisiert werden. Häu-
fig werden regulär Beschäftigte durch geförderte Arbeitnehmer bei einem Ar-
beitgeber ausgetauscht (Substitutionseffekt). Vorhandene Anbieter werden
durch die mit öffentlichen Geldern subventionierten Anbieter aus dem Markt
gedrängt und private Arbeitsplätze gehen verloren (Verdrängungseffekt). Wie
bei den Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung wurde auch hier festge-
stellt, dass viele Arbeitslose – gleichsam in Vorwegnahme ihrer Teilnahme an
diesen Maßnahmen – ihre Suchanstrengungen einschränken oder Stellenange-

Drucksache 15/590 – 8 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

bote erst gar nicht annehmen. Die Eingliederungsquoten lagen zuletzt bei SAM
bei 21,2 % und bei ABM bei 13,6 %. Die mit dem Job-AQTIV-G Anfang 2002
begründeten „Beschäftigung schaffenden Infrastrukturmaßnahmen“ (§ 279a
SGB III) sind mangels Akzeptanz gescheitert und wegen der ihnen innewoh-
nenden Gefahr, in besonders starkem Maße private Unternehmen zu verdrän-
gen, umgehend aufzuheben.
Schließlich sind diese arbeitsmarktpolitischen Aktivitäten besonders kostspie-
lig, denn sie kosten die BA rd. das Zweifache der Mittel, die im Fall der Ar-
beitslosigkeit aufzuwenden wären:
– Zur Vermeidung von Drehtüreffekten muss daher die Möglichkeit, durch die

bloße Teilnahme an diesen Maßnahmen den Anspruch auf Arbeitslosengeld
aufzubauen bzw. zu erneuern, abgeschafft werden. Mit der Umwandlung
von einem Arbeitsverhältnis zu einem Sozialrechtsverhältnis entfällt der
Anreiz, an einer Maßnahme nur aufgrund dieser Unterstützungsleistung teil-
zunehmen. Dies stärkt die eigentliche Zielrichtung der Arbeitsmarktpolitik
als Brücke zum ersten Arbeitsmarkt und ihren subsidiären Charakter als
Hilfe für den einzelnen Versicherten.

– Selbst mit der gegenwärtig praktizierten Reduzierung der ABM-Bezahlung
(§ 265 SGB III) um 20 % unter dem Tarifgehalt (das in vielen Fällen ein
höheres Entgelt festschreibt als gerade in den neuen Bundesländern vor Ort
wirklich entlohnt wird), ist die Bezahlung aus einer Beschäftigung im so ge-
nannten zweiten Arbeitsmarkt relativ hoch im Vergleich zu dem am ersten
Arbeitsmarkt realisierbaren Einkommen. Die Anknüpfung an die bestehen-
den arbeitsvertraglichen und damit tariflichen Vereinbarungen ruft ohnehin
bei den Beteiligten die falsche Vorstellung hervor, das durch ABM geför-
derte Vertragsverhältnis stelle ein reguläres Arbeitsverhältnis dar, dessen
Entgelt sich auch auf dem freien Markt erreichen lasse. Daher darf sich die
Höhe der Bezahlung nicht mehr wie bisher üblich an den tariflichen Löhnen
ausrichten, sondern muss sich am ansonsten bestehenden Transferanspruch
orientieren, um so den Anreiz zur Suche und Aufnahme einer regulären Be-
schäftigung zu stärken.

– Das Instrument der wettbewerblichen Ausschreibung und Vergabe (§ 262
Abs. 1 Satz 1 SGB III) muss für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wie auch
Strukturanpassungsmaßnahmen im gewerblichen Bereich grundsätzlich
uneingeschränkt gelten. Der Vorrang der Vergabearbeiten dient dazu, die
Vermittlungsaussichten der geförderten Arbeitnehmer zu erhöhen und viel-
fältige Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten von Handwerk und Mittelstand
zu verhindern.

– Insgesamt muss deutlich hervorgehoben werden, dass wesentliches Ziel die
Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt ist. Die Zielgruppenorientierung
muss deutlich verbessert werden: Die Maßnahmen sollten sich ausschließ-
lich auf die Arbeitslosen mit den gravierendsten Risikomerkmalen beschrän-
ken. Gleichzeitig müssen die Maßnahmen Gelegenheit zur praxisnahen Qua-
lifizierung bieten. Ihre Laufzeiten müssen verkürzt werden. Auch sollten
während der Maßnahme Vermittlungsberatung und Arbeitsplatzsuche nicht
eingestellt werden.

F ü n f t e n s muss die Evaluationsforschung durch die Bereitstellung adäquater
Individualdaten, über die die Bundesanstalt für Arbeit bereits verfügt, gefördert
werden. Nach § 75 SGB X kann sie die „Offenbarung personenbezogener
Daten“ für die wissenschaftliche Forschung im Sozialleistungsbereich geneh-
migen. Es gibt zuverlässige Verfahren, um eine Deanonymisierung von
Individualdaten zu verhindern, ohne die statistischen Auswertungsverfahren
nennenswert zu beeinträchtigen. Es dient der Glaubwürdigkeit der Ergebnisse,
wenn diese nicht von der BA allein, sondern darüber hinaus von unabhängigen

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Wissenschaftlern erstellt werden. Auch muss die Möglichkeit geschaffen wer-
den, die Beschäftigtenstatistik mit der Vermittlungs-, Arbeitslosigkeits- und Ar-
beitsförderungsstatistik zu verknüpfen, um die Erwerbsverläufe ehemaliger
Programmteilnehmer längerfristig zu verfolgen. Über die Nutzung und Effizi-
enz der Bildungsgutscheine (§ 77 Abs. 3 SGB III) und über die Leistungsfähig-
keit und Ergebnisse der Fortbildungsträger ist regional und nach Träger-
strukturen differenziert regelmäßig zu berichten. Die Vorgabe von Verbleibs-
quotenzielen für Maßnahmeträger durch die Bundesanstalt für Arbeit ist fortzu-
setzen.
S e c h s t e n s muss damit eine Finanz- und Organisationsreform einhergehen:
– Versicherungsfremde Leistungen, wie die Kosten für die Fortsetzung des

Sofortprogramms zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit sowie die in den
Haushalt der BA verschobenen arbeitsmarktpolitischen Programme (Be-
schäftigungshilfen für Langzeitarbeitslose, Strukturanpassungsmaßnahmen-
zuschuss), dürfen nicht von der Arbeitslosenversicherung, sondern müssen
aus dem Bundeshaushalt finanziert werden, damit auch dadurch die Lohnzu-
satzkosten gesenkt werden können. Es sollte überdacht werden, ob nicht alle
Maßnahmen der traditionellen „aktiven Arbeitsmarktpolitik“ aus allgemei-
nen Steuern zu finanzieren sind. Denn sie stellen eine gesamtgesellschaftli-
che Aufgabe dar.

– Bereits seit der Reform zum SGB III zum 1. Januar 1998 können Arbeits-
ämter zumindest formal relativ ungebunden über die Aufteilung der finan-
ziellen Mittel auf einzelne Maßnahmen entscheiden und verfügen über die
„freie Förderung“ (§ 10 SGB III), mittels der sie bis zu 10 % ihrer Mittel für
aktive Arbeitsmarktpolitik für selbst konzipierte Maßnahmen einsetzen dür-
fen. Den örtlichen Arbeitsämtern müssen noch mehr Entscheidungsbefug-
nisse eingeräumt werden. Zugunsten eines zielgerichteteren und effiziente-
ren Einsatzes arbeitsmarktpolitischer Instrumente ist der Experimentiertopf
deutlich aufzustocken und der Wettbewerb unter den Arbeitsämtern zu för-
dern. Als Rahmen für die größeren Entscheidungsbefugnisse der Arbeitsäm-
ter bietet sich die Einführung von Bandbreiten bei der gegenseitigen De-
ckungsfähigkeit von Haushaltsansätzen für einzelne Instrumente an, um ord-
nungspolitische Vorstellungen in der Arbeitsmarktpolitik – etwa weniger
ABM, dafür mehr Eingliederungszuschüsse – auch weiterhin bundesweit
durchsetzen zu können. Langfristig sollten den Arbeitsämtern Globalhaus-
halte zur Verfügung gestellt werden, die auch den Personalhaushalt umfas-
sen.

– Die fast unüberschaubare Vielzahl an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen
unter feinster Festlegung genauer Tatbestandsvoraussetzungen und Leis-
tungshöhen belastet die Arbeitsämter und ist für Bürger wie Unternehmen
nicht mehr durchschaubar. Die Maßnahmen sollten daher in wenigen Kate-
gorien zusammengefasst werden, über die das jeweilige zuständige Arbeits-
amt nach pflichtgemäßem Ermessen flexibel, effektiv und am Einzelfall
orientiert entscheiden kann.

– Die Bekämpfung von Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung ist – soweit
notwendig und sinnvoll – den dafür zuständigen Behörden (Zoll und Poli-
zei) zu übertragen.

– Die drittelparitätischen Selbstverwaltungsstrukturen der Bundesanstalt für
Arbeit und in den Verwaltungsausschüssen auf lokaler Ebene haben zu
Selbstbedienungsmentalität und Verschwendung geführt. Sie sind deshalb
abzuschaffen (§ 380 SGB III). Die Bundesanstalt für Arbeit wird in eine
Versicherungsagentur und eine Arbeitsmarktagentur aufgeteilt, die als nach-
geordnete Bundesbehörden der Rechts- und Fachaufsicht des Bundes-
ministeriums für Wirtschaft und Arbeit unterstehen. Die beiden Agenturen

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verstärken die Bilanzierung nach privatwirtschaftlichen Rechnungslegungs-
grundsätzen und sind alle zwei Jahre einer externen Wirtschaftsprüfung
nach privatwirtschaftlichen Regeln zu unterziehen.

S i e b t e n s müssen die Instrumente des Arbeitsförderungsrechts auch zuguns-
ten älterer Arbeitnehmer überdacht werden, denn die geringe Erwerbsbeteili-
gung Älterer ist ein Indikator für die strukturelle Schwäche des deutschen
Arbeitsmarktes. Angesichts der demografischen Entwicklung müssen deutsche
Unternehmen zunehmend mit älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
arbeiten. Leitbild muss sein, die individuelle Entscheidung jener leistungs-
fähigen älteren Menschen zu ermöglichen und zu fördern, die ihr Wissen, ihre
Erfahrung und soziale Kompetenz auch weiterhin dem Arbeitsmarkt zur Ver-
fügung stellen möchten. Zurzeit ist das Gegenteil zu beobachten: Die Regelung
des § 428 SGB III wird sehr stark in Anspruch genommen. Mit 330 000 Leis-
tungsempfängern liegt die Inanspruchnahme um 25 % über dem Vorjahr.
– Deshalb muss die Möglichkeit des Arbeitslosengeldbezugs für mindestens

58-Jährige unter erleichterten Voraussetzungen als – systemwidriges – Hilfs-
mittel für Frühverrentung abgeschafft werden. Denn nach § 428 Abs. 1
Satz 1 SGB III haben auch diejenigen einen Anspruch auf Arbeitslosengeld,
die „nicht arbeitsbereit sind und nicht alle Möglichkeiten nutzen und nutzen
wollen, um ihre Beschäftigungslosigkeit zu beenden“. Vielmehr muss der
Gesetzgeber signalisieren, dass es sich auch für ältere Arbeitslose noch
lohnt, sich um eine Beschäftigung zu bemühen und dies für Unternehmen
sehr von Vorteil sein kann. Auch muss in diesem Kontext das Altersteilzeit-
gesetz überdacht werden, denn es wird im Wesentlichen von großen Unter-
nehmen dazu genutzt, ältere Mitarbeiter auf Kosten aller Beitragszahler der
Arbeitslosenversicherung vorzeitig aus dem Arbeitsleben ausscheiden zu
lassen und bürdet Renten- und Krankenversicherung weitere Belastungen
auf. Überdies wird damit auch in der Arbeitslosenversicherung eine Umver-
teilung von der jüngeren zur älteren Generation eingebaut.

A c h t e n s muss das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) liberalisiert und
mittelfristig abgeschafft werden, da sich seine Brückenfunktion zur Bekämp-
fung der Arbeitslosigkeit nicht nur in beschäftigungspolitisch erfolgreichen
Ländern, sondern auch in Deutschland bewährt hat.
Zeitarbeit in Deutschland ist ein wirkungsvolles und effizientes Instrument zur
Eingliederung arbeitsloser Menschen in den ersten Arbeitsmarkt. Personal-Ser-
vice-Agenturen, die Arbeitslose nach einer spürbaren Flexibilisierung des AÜG
in neue Jobs vermitteln, sind das Herzstück der Reformvorschläge der Hartz-
Kommission. Deshalb ist das AÜG von überflüssigen und bürokratischen Vor-
schriften zu befreien, um im Interesse einer intensiveren Nutzung des Instru-
ments der Arbeitnehmerüberlassung einen flexiblen Arbeitskräfteeinsatz zu er-
reichen, um die Arbeitslosigkeit nachhaltig abzubauen:
– Erlaubnisfreiheit der Arbeitnehmerüberlassung für Arbeitsgemeinschaften

zwischen Unternehmen unterschiedlicher Wirtschaftszweige und mit unter-
schiedlichen Tarifverträgen.

– Das Verbot der Arbeitnehmerüberlassung im Baugewerbe wird gänzlich auf-
gehoben.

– Die zulässige Höchstdauer der Überlassung eines Leiharbeitnehmers an den-
selben Entleiher wird von 12 auf 36 Monate erweitert.

– Streichung des Tarifvertragsvorbehalts für die erlaubnisfreie Arbeitnehmer-
überlassung zwischen Arbeitgebern desselben Wirtschaftszweiges zur Ver-
meidung von Kurzarbeit und Entlassungen.

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– Das Verbot, die Dauer des Arbeitsverhältnisses zwischen Leiharbeitnehmer
und Verleiher auf die Dauer der erstmaligen Überlassung an einen Entleiher
zu beschränken, wird aufgehoben.

– Die Beschränkung für befristete Arbeitsverträge zwischen Leiharbeitnehmer
und Verleiher wird abgeschafft.

– Das Verbot, einen gekündigten Leiharbeitnehmer vor Ablauf einer Frist von
drei Monaten erneut einzustellen, wird abgeschafft.

– Die schriftliche Anzeigepflicht eines Arbeitgebers mit weniger als 50 Be-
schäftigten, der zur Vermeidung von Kurzarbeit oder Entlassungen einen
Arbeitnehmer an einen Arbeitgeber bis zu 36 Monate überlässt, wird ab-
geschafft.

– Die konzerninterne Arbeitnehmerüberlassung wird durch eine Klarstellung
erleichtert und entbürokratisiert.

– Der mit Änderung von § 3 Abs. 1 Nr. 3 und § 9 Nr. 2 AÜG durch das Erste
Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt eingeführte Grund-
satz gleicher Arbeitsbedingungen für Zeitarbeiter verbunden mit einem
Flächentarifzwang wird aufgehoben, weil er gegen das im Grundgesetz ver-
ankerte Prinzip der negativen Koalitionsfreiheit im Sinne des Artikels 9 GG
verstößt.

N e u n t e n s muss das Tarifrecht flexibilisiert werden. Die Tarifparteien tragen
in erster Linie die Verantwortung für die Tarifpolitik. Den Gesetzgeber trifft
eine Mitverantwortung. Denn das Grundgesetz verleiht den Tarifparteien, wie
das Bundesverfassungsgericht zutreffend festgestellt hat, zwar ein Norm-
setzungsrecht, aber kein Normsetzungsmonopol. Darüber hinaus können sich
bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, wie das Bundesverfassungsgericht
erkannt hat (1 BvL 32/97 vom 30. Mai 2001), Gewerkschaften und Arbeitgeber
nicht auf eine unbegrenzte Tarifautonomie berufen, sondern müssen Rücksicht
auf den Arbeitsmarkt, die Belastbarkeit der sozialen Sicherungssysteme und die
Wettbewerbsbedingungen in Deutschland nehmen:
– Die Arbeitsgerichte legen das so genannte Günstigkeitsprinzip (§ 4 Abs. 3

Tarifvertragsgesetz) bislang so aus, dass nur höhere Löhne und kürzere
Arbeitszeiten als günstiger beurteilt werden. Für die meisten Arbeitnehmer
dürfte hingegen ein geringerer Lohn im Zweifelsfall „günstiger“ sein, als
ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Daher muss das Günstigkeitsprinzip in § 4
Abs. 3 Tarifvertragsgesetz neu definiert werden: Künftig kann auch ein ge-
ringerer Lohn oder eine längere Arbeitszeit für den Erhalt oder die Schaf-
fung eines Arbeitsplatzes günstiger sein, wenn der Betriebsrat oder 75 % der
abstimmenden Mitarbeiter des Unternehmens zugestimmt haben.

Z e h n t e n s benötigt Deutschland ein zeitgemäßes, modernes Kündigungs-
recht. Das bestehende Kündigungsschutzrecht schützt zwar bereits vorhandene
Arbeitsplätze, hemmt aber gleichzeitig die Entstehung von neuen. Das Kündi-
gungsschutzgesetz wird seiner sozialen Schutzfunktion nicht mehr gerecht, da
es trotz einer Vielzahl von Arbeitsgerichtsprozessen nur in deutlich weniger als
10 % der Fälle zu einer Wiederaufnahme des Arbeitsverhältnisses führt. Statt-
dessen werden zumeist Abfindungsregelungen getroffen. Die Arbeitsgerichte
werden durch die Flut der Klagen bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit
belastet, wodurch Steuergelder verschwendet werden. Unternehmer und Be-
schäftigte verwenden Finanzmittel und Zeit auf Gerichtsprozesse statt auf pro-
duktive Leistung.

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Gerade im Mittelstand eröffnen sich durch eine Reform des Kündigungsschutz-
gesetzes und einer besseren Personalplanung gute Perspektiven für Neueinstel-
lungen. Das Kündigungsrecht ist deshalb folgendermaßen zu reformieren:
– Mit einem Vertragsoptionsmodell sind die Freiräume der Arbeitsvertrags-

parteien zu erweitern. Arbeitgeber und Arbeitnehmer sollen die Möglichkeit
erhalten zu wählen, welche Form des Kündigungsschutzes sie wollen. Statt
des gesetzlichen Kündigungsschutzes sollen Abfindungszahlungen oder die
Verpflichtung zur Finanzierung von Weiterbildungsmaßnahmen vereinbart
werden können. Bei Abschluss des Arbeitsvertrages verpflichtet sich der
Arbeitgeber ggf. bei Kündigung des Arbeitsverhältnisses eine festgelegte
Abfindungssumme zu zahlen oder den Arbeitnehmer auf seine Kosten
weiterzuqualifizieren. Im Gegenzug verzichtet der Arbeitnehmer auf die
Geltung des gesetzlichen Kündigungsschutzes. Bei dieser Regelung profitie-
ren beide Seiten: So erhält der Arbeitnehmer entweder eine Abfindung oder
auf Kosten seines Arbeitgebers eine betriebliche Zusatzausbildung, die seine
Wettbewerbschancen auf dem Arbeitsmarkt verbessert und so eine Arbeits-
platzsuche vereinfacht. Der Arbeitgeber erhält dagegen die Möglichkeit, das
Arbeitsverhältnis rechtssicher und ohne weitere Kosten zu beenden. Die
dadurch erreichte Kalkulierbarkeit der Kosten wird sich positiv auf den
Arbeitsmarkt auswirken.

– In kleineren und mittleren Betrieben besteht eine Hemmschwelle, den Per-
sonalbestand über fünf Beschäftigte hinaus auszuweiten. Kleinere Betriebe
ohne eigene Personalverwaltung haben oft große Schwierigkeiten, das sehr
komplizierte Kündigungsrecht anzuwenden. Daher sollte das Kündigungs-
schutzgesetz nur für Betriebe mit mehr als 20 Arbeitnehmern gelten. Die
Arbeitnehmer in Betrieben mit bis zu 20 Beschäftigten bleiben weiterhin vor
willkürlichen Kündigungen durch die Schutzklauseln des Zivilrechts ge-
schützt (§§ 138, 242 BGB). Für kleine Betriebe wird durch die Einschrän-
kung der Geltung des Kündigungsschutzgesetzes ein Anreiz geschaffen, den
Personalbestand ohne große Risiken zu erhöhen.

– Eine gesetzliche Konkretisierung der Kriterien für die Sozialauswahl bei be-
triebsbedingten Kündigungen ist erforderlich. Die bisherige Regelung ist zu
ungenau und führt zur Rechtsunsicherheit. Eine abschließende Festlegung
auf die drei Kriterien „Alter“, „Dauer der Betriebszugehörigkeit“ und
„Unterhaltsverpflichtungen des Arbeitnehmers“ ist notwendig, um Unter-
nehmen und Gerichten eine nachvollziehbare Beurteilungsgrundlage für die
Sozialauswahl zu geben. Leistungsträger sind auszunehmen. Wer Leistungs-
träger ist, bestimmt der Betrieb.

– Das Kündigungsschutzgesetz soll erst nach zweijähriger Betriebszugehörig-
keit anwendbar sein. Dadurch wird eine flexible Gestaltung des Personalbe-
darfs ermöglicht, die gerade mittelständische Unternehmen dazu ver-
anlassen wird, Nachfragespitzen nicht mehr mittels Überstunden auszuglei-
chen, sondern neue Mitarbeiter einzustellen. Auch das Teilzeit- und Befris-
tungsgesetz sieht vor, dass Arbeitsverhältnisse bis zu einer Obergrenze von
zwei Jahren ohne einen sachlichen Grund zulässig sind. Es ist also nur kon-
sequent, auch den Kündigungsschutz an diese zeitliche Regelung anzupas-
sen und die Gesetzeslage damit zu vereinheitlichen.

– Alle Ansprüche aus einem Arbeitsverhältnis müssen bei der Beendigung
innerhalb einer Ausschlussfrist von drei Wochen nach Zukommen der
Kündigung schriftlich geltend gemacht werden. Damit wird das Arbeitsrecht
ein Stück weit besser kalkulierbar. Eine nachträgliche Zulassung der Klage
sollte analog zu § 5 Kündigungsschutzgesetz noch immer möglich sein,
wenn der Arbeitnehmer die Frist zur Geltendmachung seiner Ansprüche

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13 – Drucksache 15/590

trotz aller ihm nach Lage der Umstände zuzumutenden Sorgfalt nicht ein-
halten konnte.

– Da Abfindungen bzw. die Finanzierung von Qualifikationen erheblich auf-
gewertet werden, muss im SGB III sichergestellt werden, dass diese Rege-
lungen nicht zu einer Sperr- oder Ruhefrist beim Bezug von Arbeitslosen-
geld führen.

E l f t e n s ist eine Neugestaltung der betrieblichen Mitbestimmung erforderlich,
die der Entwicklung zu mehr Individualisierung, Flexibilisierung, Entbürokra-
tisierung und Betriebsautonomie Rechnung trägt. Insbesondere sind die Verfah-
ren und Regelungen der betrieblichen Mitbestimmung an die Leistungsfähig-
keit kleiner und mittlerer Betriebe anzupassen.
– In kleinen und mittleren Betrieben arbeiten Geschäftsführung und Arbeit-

nehmer Hand in Hand für das Wohl des Unternehmens und pflegen eine
Kultur der direkten Kommunikation. Gerade in Inhaberunternehmen ist der
unmittelbare Kontakt jedes Arbeitnehmers mit dem Arbeitgeber noch jeder-
zeit möglich. Diese unkomplizierte Praxis betrieblicher Partizipation und in-
formeller Mitbestimmung wird durch die Zwischenschaltung eines Betriebs-
rates eher gestört. Das Betriebsverfassungsgesetz ist daher im Interesse der
Betriebsparteien im Mittelstand folgendermaßen zu ändern:
a) Ein Betriebsrat kann in Unternehmen erst ab 20 Beschäftigten gebildet

werden und erfordert ein Wahlquorum von mehr als 50 % der wahl-
berechtigten Arbeitnehmer.

b) Die Anzahl der Mitglieder im Betriebsrat ist zu reduzieren.
c) Die Freistellung von Betriebsratsmitgliedern beginnt in Unternehmen mit

mehr als 500 Beschäftigten mit einem freigestellten Betriebsratsmitglied.
In Betrieben ab 1001 Beschäftigten wird die Zahl der freigestellten Be-
triebsratsmitglieder um jeweils eine Freistellung reduziert.

d) Die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 Betriebsverfassungsgesetz, der vom
Tarifvertrag abweichende Betriebsvereinbarungen bislang untersagt, ist
zu ändern: Eine Vereinbarung auf betrieblicher Ebene zwischen Unter-
nehmen und Belegschaftsvertretung sollte möglich sein, die freiwillig
geschlossen wird und der 75 % der abstimmenden Mitarbeiter zuge-
stimmt haben.

e) Die Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte werden an die Leistungs-
fähigkeit kleiner und mittelständischer Betriebe angepasst: Die Mitbe-
stimmungsrechte des Betriebsrates in sozialen Angelegenheiten i. S. d.
§ 87 BetrVG (erzwingbare Mitbestimmung) werden auf Betriebe mit
mehr als 300 wahlberechtigten Arbeitnehmern beschränkt.

f) Der Schwellenwert für die Mitbestimmung bei personellen Einzelmaß-
nahmen i. S. d. § 99 BetrVG wird von 20 auf 50 wahlberechtigte Arbeit-
nehmer angehoben.

g) Der Schwellenwert für die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates bei
Betriebsänderungen im Sinne der §§ 111, 112 BetrVG wird von 20 auf
50 wahlberechtigte Arbeitnehmer angehoben. Der Betriebsrat wird ver-
pflichtet, bei der Vereinbarung des Sozialplans besonders zu beachten,
dass der Fortbestand des Unternehmens und der damit verbundenen Ar-
beitsplätze nicht gefährdet wird.

h) In Teilzeit arbeitende Beschäftigte sind bei der Berechnung der Schwel-
lenwerte im Betriebsverfassungsgesetz nur entsprechend ihrer Arbeitszeit
zu berücksichtigen (analog § 23 KSchG).

Drucksache 15/590 – 14 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

– Die im In- wie Ausland bestehenden Vorbehalte gegen das deutsche Modell
der Mitbestimmung resultieren insbesondere aus den komplizierten Ver-
fahrensvorschriften und der damit einhergehenden langen Dauer und dem
Verlust an Flexibilität. Die deutsche Mitbestimmung wird dann größere
Akzeptanz bei beiden Betriebsparteien finden, wenn die im Betriebsverfas-
sungsgesetz vorgesehenen Entscheidungsprozesse schnell, effizient und klar
gestaltet werden. Daraus folgt:
a) Eine sachwidrige Koppelung von verschiedenen, nicht zusammengehöri-

gen Sachverhalten muss vermieden werden. Gründe für eine Zustim-
mungsverweigerung sollten auch im Hinblick auf Regelungstatbestände
der erzwingbaren Mitbestimmung eingeführt werden, damit die betriebs-
ratliche Interessenausübung einer Überprüfbarkeit konkret zugänglich
gemacht wird.

b) Es muss ein Unterlassungsanspruch des Arbeitgebers eingeführt werden,
entsprechend dem Verfahren nach § 23 Abs. 3 BetrVG, wenn der Be-
triebsrat gegen seine gesetzlichen Pflichten verstößt, indem er die Ent-
scheidung über unterschiedliche Sachverhalte in unzulässiger Weise mit-
einander verknüpft.

c) Das Einigungsstellenverfahren muss beschleunigt und dessen Kosten
müssen reduziert werden. Es ist eine zeitliche Begrenzung sowohl im
Hinblick auf die Bildung der Einigungsstelle sowie die Durchführung des
Einigungsstellenverfahrens notwendig. Im Fall einer Nichteinigung sollte
die gerichtliche Entscheidung über den Vorsitzenden des Bestellungs-
verfahrens spätestens nach zwei Wochen erfolgen. Gesetzlich ist die
Wahl der Einigungsstellenorgane und ihre Vergütung zu regeln. Der Ver-
gütungsanspruch von hauptamtlichen Funktionären wird begrenzt.

d) Alle Mitbestimmungsverfahren sind zu befristen, damit der Arbeitgeber
nach Fristablauf handlungsfähig bleibt.

e) Das Verfahren bei personellen Angelegenheiten ist zu vereinfachen. Eine
personelle Maßnahme muss vorläufig ohne die Verpflichtung des Arbeit-
gebers durchführbar sein, das Arbeitsgericht anzurufen. Stattdessen sollte
der Betriebsrat zur Anrufung des Arbeitsgerichts berechtigt werden,
wenn er gegen die Durchführung einer personellen Maßnahme angehen
will.

f) Die bloße Änderung der Betriebsorganisation ohne Maßnahmen des Per-
sonalabbaus ist aus dem Katalog der §§ 106 und 111 BetrVG herauszu-
nehmen.

– Das im Betriebsverfassungsgesetz angelegte Konsensprinzip muss stärker
ausgestaltet werden. Die betriebliche Erfahrung zeigt, dass der Vorrang be-
trieblicher Vereinbarungen vor gesetzlichen Regelungen der bessere Weg ist,
da er den betriebsspezifischen Besonderheiten Rechnung trägt. Er bietet den
Betriebsparteien einen Spielraum, die für den Regelfall geltende gesetzliche
oder tarifliche Regelung durch eine kollektivrechtlich wirkende betriebliche
Vereinbarung abzubedingen. Die Richtigkeit dieses Weges wird durch die
Zunahme von Öffnungs- und Optionsklauseln für betriebliche Regelungen
in Tarifverträgen unterstrichen.

– Der Gesetzgeber ist verfassungsrechtlich nicht befugt, den Betriebsparteien
im Einzelnen den Ablauf betrieblicher Entscheidungsprozesse durch Regu-
larien vorzuschreiben, sondern darf lediglich einen Rahmen vorgeben, von
dem die Betriebsparteien abweichen können. Es ist Aufgabe der Unter-
nehmen sowie der dort beschäftigten Arbeitnehmer und deren Vertreter, die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 15 – Drucksache 15/590

Beteiligung an beschäftigungsrelevanten Entscheidungen differenziert und
situationsgerecht auszugestalten. Daraus folgt:
a) Es müssen Regelungsspielräume auf der Ebene der Betriebsparteien

eröffnet werden und betriebliche Erfordernisse im Rahmen des Betriebs-
verfassungsgesetzes stärker berücksichtigt werden, ohne komplizierte
Verfahrensmechanismen wie das derzeit in § 3 BetrVG bestimmte staat-
liche Zustimmungserfordernis.

b) Die Zahl der Betriebsräte sollte abweichend geregelt werden können, wie
es das geltende Recht bereits an anderer Stelle für die Freistellung der
Betriebsräte vorsieht (§ 38 Abs. 1 BetrVG).

– Die bürokratischen Regelungen, die infolge der Verschärfung des Betriebs-
verfassungsgesetzes im Jahr 2000 durch den ehemaligen Bundesminister für
Arbeit und Sozialordnung Walter Riester entstanden sind, müssen rückgän-
gig gemacht werden. Das betrifft insbesondere:
a) Streichung der Vorschriften in den §§ 43 und 53 Betriebsverfassungsge-

setz, wonach eine Berichtspflicht des Unternehmers in der Betriebsver-
sammlung und der Betriebsräteversammlung im Hinblick auf den Stand
der Gleichstellung von Frauen und Männern und der Integration der in
dem Betrieb Beschäftigten ausländischen Arbeitnehmer begründet wor-
den ist.

b) Streichung der Verpflichtung des Unternehmers aus § 80 Abs. 1 Betriebs-
verfassungsgesetz, mit dem Betriebsrat Maßnahmen zur Bekämpfung
von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit beraten zu müssen. Ebenso
Streichung der Berichtspflicht des Unternehmers nach § 80 Abs. 2
Betriebsverfassungsgesetz über die Beschäftigung freier Mitarbeiter.

c) Streichung der Vorschriften in § 92 Betriebsverfassungsgesetz über die
Verpflichtung des Unternehmers, im Rahmen der Personalplanung die
Förderung der tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern
sowie der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit zu berücksich-
tigen und mit dem Betriebsrat einschlägige Maßnahmen anhand von Un-
terlagen zu beraten.

d) Änderung von § 92a Betriebsverfassungsgesetz dergestalt, dass die
Pflicht des Unternehmers entfällt, allgemeine beschäftigungspolitische
Vorschläge, die der Betriebsrat macht, in jedem Fall mit ihm zu beraten
und wenn er sie für ungeeignet hält, dies in Betrieben mit mehr als 100
Arbeitnehmern schriftlich zu begründen.

Zwö l f t e n s ist das Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) grundlegend zu
überarbeiten:
a) Der einseitige Rechtsanspruch auf Teilzeit ist zurückzunehmen (§ 8 TzBfG).

Die Förderung von Teilzeit auf freiwilliger Basis ist stärker zu fördern, um
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erweitern.

b) Die Möglichkeit der Befristung ohne sachlichen Grund sollte bis zu vier
Jahren möglich sein. Das Verbot, einen Arbeitnehmer nicht mehr befristet
ohne sachlichen Grund zu beschäftigen, der schon einmal befristet oder
unbefristet bei dem gleichen Arbeitgeber beschäftigt war, ist aufzuheben
(§ 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG).

c) Die Einbeziehung von geringfügig beschäftigten Arbeitnehmern in den
Geltungsbereich des Teilzeit- und Befristungsgesetzes ist aufzuheben (§ 2
Abs. 2 TzBfG).

D r e i z e h n t e n s ist die Regelung des § 613a BGB zum Betriebsübergang im
Falle der drohenden Insolvenz eines Unternehmens dahin gehend zu ändern,

Drucksache 15/590 – 16 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode
dass der Betriebsveräußerer oder Betriebserwerber Arbeitsbedingungen, die
durch Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder Arbeitsvertrag gelten, ändern
darf, um den Fortbestand des Betriebes zu sichern. Bei der Insolvenz eines
Unternehmens soll § 613a BGB keine Anwendung mehr finden.

Berlin, den 11. März 2003
Dirk Niebel
Rainer Brüderle
Dr. Heinrich L. Kolb
Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Jürgen Koppelin
Dr. Hermann Otto Solms
Carl-Ludwig Thiele
Daniel Bahr (Münster)
Helga Daub
Ulrike Flach
Otto Fricke
Horst Friedrich (Bayreuth)
Rainer Funke
Dr. Christel Happach-Kasan
Christoph Hartmann (Homburg)
Gudrun Kopp
Sibylle Laurischk
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Markus Löning
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Andreas Pinkwart
Dr. Günter Rexrodt
Marita Sehn
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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