BT-Drucksache 15/587

Für die Stärkung der dualen Berufsausbildung in Deutschland - mehr Chancen durch Flexibilisierung und einen individuellen Ausbildungspass

Vom 12. März 2003


Deutscher Bundestag Drucksache 15/587
15. Wahlperiode 12. 03. 2003

Antrag
der Abgeordneten Cornelia Pieper, Christoph Hartmann (Homburg), Ulrike Flach,
Daniel Bahr (Münster), Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, Helga Daub,
Jörg van Essen, Otto Fricke, Horst Friedrich (Bayreuth), Dr. Karlheinz Guttmacher,
Ulrich Heinrich, Birgit Homburger, Dr. Werner Hoyer, Gudrun Kopp, Jürgen
Koppelin, Sibylle Laurischk, Harald Leibrecht, Dirk Niebel, Günther Friedrich
Nolting, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Detlef Parr, Gisela Piltz, Dr. Andreas
Pinkwart, Marita Sehn, Carl-Ludwig Thiele, Dr. Dieter Thomae, Dr. Claudia
Winterstein, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Für die Stärkung der dualen Berufsausbildung in Deutschland – mehr Chancen
durch Flexibilisierung und einen individuellen Ausbildungspass

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Der Beruf ist für jeden Menschen heute wie in der Vergangenheit ein wesent-
liches Element seiner persönlichen Identifikation und seiner gesellschaftlichen
Anerkennung. Die möglichst vollständige Ausschöpfung und Förderung des in-
dividuellen Begabungspotentials ist daher eine überaus wichtige Aufgabe in
der demokratischen Gesellschaft, denn Demokratie legitimiert sich durch
Chancengerechtigkeit.
Die duale Berufsausbildung in Deutschland hat sich in der Vergangenheit be-
währt. Sie stellt eine tragende Säule des deutschen Bildungssystems dar. Die
deutsche Wirtschaft trägt dabei die Hauptverantwortung und Hauptlast. Allein
die mittelständischen Unternehmen stellen derzeit rund 80 % aller Ausbil-
dungsplätze zur Verfügung. Nach wie vor absolviert die Mehrzahl aller Jugend-
lichen im dualen System ihre Berufsausbildung. Aber trotz aller Fördermaß-
nahmen bleiben derzeit 10 bis 14 % aller Jugendlichen oder 1,3 Millionen der
20- bis 29-Jährigen ohne Berufsabschluss. Aktuell zeichnet sich ein Besorgnis
erregender Lehrstellenmangel ab. Neue flexiblere Möglichkeiten sowohl für
Leistungsstärkere als auch Leistungsschwächere können Abhilfe schaffen und
müssen so schnell wie möglich eingerichtet werden. Die Betriebe müssen ver-
stärkt in die Lage versetzt und motiviert werden, auszubilden. Unangemessene
Forderungen zu Lasten der Wirtschaft, z. B. die nach einer Umlagefinanzie-
rung, sind kontraproduktiv, demotivieren und müssen klar abgewehrt werden.
Die Wirtschaft sieht sich mit der Tatsache konfrontiert, dass eine erhebliche
Zahl von Jugendlichen, die die allgemeinbildende Schule verlassen, die Ausbil-
dungsreife nicht oder noch nicht erreicht haben. Dies darf nicht zu ihren Lasten
gehen. Die Sicherung der Allgemeinbildung ist und bleibt Aufgabe des Staates.
Andererseits gilt: Durch die Veränderungen in den Anforderungen der Wirt-
schaft, durch neue Berufsbilder, einen verstärkten Trend zum Studium, zu einer

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fachschulischen Ausbildung und die zunehmende Europäisierung steht die du-
ale Berufsausbildung mittelfristig unter Wettbewerbsdruck und sieht sich er-
heblichen Herausforderungen gegenübergestellt. Kurzfristig herrscht Ausbil-
dungsplatzmangel. Mittelfristig wird der Bedarf der Wirtschaft an besser quali-
fizierten Berufsanfängern wieder steigen. Die Zahl derjenigen, die Ausbil-
dungsplätze nachfragen, wird zeitgleich jedoch deutlich sinken. Dies liegt
sowohl an den steigenden Übergangsquoten in die Hochschulen als auch an de-
mografischen Faktoren.
Sowohl aus der gegenwärtigen Situation des Lehrstellenmangels als auch aus
der künftigen Situation des verstärkten Wettbewerbsdrucks heraus besteht also
die dringende Notwendigkeit einer grundlegenden Novellierung des Berufsbil-
dungsgesetzes.
Ziel der Berufsausbildung ist und bleibt das Herstellen einer modernen Beruf-
lichkeit für möglichst viele junge Menschen. Um gleichermaßen Jugendlichen
mit schlechten Startchancen, Erwachsenen ohne abgeschlossene Berufsausbil-
dung und Jugendlichen mit besonderen Begabungen gerecht werden zu können,
sind neue Ansätze sowohl im Bereich der Berufsbildung als auch im Bereich
der Allgemeinbildung erforderlich.
Der geeignete Weg ist eine Flexibilisierung und Deregulierung unseres Berufs-
bildungssystems unter Beibehaltung der hohen Qualität der Ausbildung. Ein
modularisiertes System von Grund- und Qualifizierungsbausteinen ist geeignet,
sowohl die Reform der Berufsausbildung voranzutreiben als auch die Integra-
tion von Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen in die fortlaufende Sicherung
und Weiterentwicklung der Beruflichkeit zu leisten. Notwendige Reformen
müssen zugleich mit der Fortentwicklung der Weiterbildung verknüpft werden.
Um einen unverhältnismäßigen Prüfungsaufwand am Ende absolvierter Quali-
fizierungsbausteine zu vermeiden, sind unternehmensnahe vereinfachte Verfah-
ren zu ermöglichen.
Die Ausbildungszeiten müssen differenziert und vor allem verkürzt werden.
Ausbildungsgänge sind so zu modernisieren, dass viele bisher dreijährige Aus-
bildungen auch in zwei oder zweieinhalb Jahren absolviert werden können.
Schon dies erhöht die Zahl der zur Verfügung stehenden Ausbildungsplätze.
Für lernschwächere Auszubildende, bei denen eine längere Übungsphase nötig
ist, soll als Ausnahme auch eine dreieinhalbjährige Ausbildungszeit möglich
sein.
Durch die hohe Arbeitsteilung sind kleinere Betriebe oft nicht mehr in der
Lage, die volle Breite der notwendigen Qualifikationen zu vermitteln. Eine No-
vellierung des Berufsbildungsgesetzes soll daher die Bildung von Ausbildungs-
verbünden – auch über verschiedene Orte hinweg – erleichtern. So werden die
Pluralität und die Vernetzung unterschiedlicher Lernorte auch bei kleineren und
hoch spezialisierten Betrieben sowie in Regionen mit geringer Wirtschaftskraft
ermöglicht.
In vielen Bereichen müssen erste Bausteine der Berufsausbildung bereits zu
einem Teilabschluss führen, der zur Aufnahme einer praktischen Berufstätig-
keit berechtigt und befähigt. Es geht darum, gerade bei Jugendlichen mit
schlechten Startchancen die Motivation zum Beginn einer Ausbildung erheb-
lich zu steigern und zugleich die Chancen auf eine Höherqualifizierung nicht
zu verbauen.
Das Tempo der Strukturveränderungen in den Unternehmen, aber auch in den
öffentlichen Dienstleistungen hat sich verstärkt. Durch die Verdichtung der in-
ternationalen Zusammenhänge, die Verkürzung der Innovationszyklen von Pro-
dukten und Leistungen und die stetige Veränderung von Arbeitsinhalten sind
die Anforderungen an die Berufstätigen gewachsen. Spezielle Kenntnisse und
Fertigkeiten werden jeweils nur für begrenzte Phasen der Lebensarbeitszeit be-

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nötigt, dann müssen sie angepasst oder sogar grundlegend weiterentwickelt
werden. Grundlegende fachübergreifende Kenntnisse und Fähigkeiten sowie
eine andauernde, lebensbegleitende Lernbereitschaft und Lernfähigkeit werden
immer wichtiger. Das Bewusstsein jedes Einzelnen, seine Beruflichkeit nur in
einem das ganze Berufsleben begleitenden Lernprozess entfalten zu können,
muss durch einen lebenslang gültigen Ausbildungspass gefördert werden.
Im Hinblick auf die Chancen und Möglichkeiten des europäischen Arbeits-
marktes kommt der gegenseitigen Anerkennung der beruflichen Ausbildung
bzw. von Teilen dieser Ausbildung besondere Bedeutung zu. Die Modularisie-
rung in Grund- und Qualifizierungsbausteine führt in der Konsequenz auch zu
der fälligen Erleichterung bei der grenzüberschreitenden Ausbildung. Es
kommt darauf an, schnell die Chancen der deutschen Berufsanfänger auch auf
dem europäischen Arbeitsmarkt zu stärken.
Die Integration des europäischen Ausbildungspasses in den lebenslang gültigen
Ausbildungspass führt zu der erforderlichen Übersichtlichkeit.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. die Novellierung des Berufsbildungsgesetzes schnell und praxisorientiert

anzugehen. Die Novellierung darf nicht zu mehr Bürokratisierung und Reg-
lementierung führen. Eine zusätzliche finanzielle und bürokratische Belas-
tung der Wirtschaft, insbesondere des Mittelstandes, muss vermieden wer-
den;

2. das Berufsbildungsgesetz dahingehend zu novellieren, die Voraussetzungen
für eine Gliederung der Berufsausbildung durch ein differenziertes System
von Grund- und Qualifizierungsbausteinen zu schaffen;

3. in geeigneten Berufsfeldern Teilqualifikationen vorzusehen, die insbeson-
dere Jugendlichen mit schlechten Startchancen und geringerer Lernmotiva-
tion einen schnelleren Einstieg in die Berufspraxis ermöglichen. Dabei müs-
sen die Chancen für eine spätere Nachqualifizierung gewahrt sein. Diese
kann auch in späteren Phasen Schritt für Schritt erworben werden;

4. zu ermöglichen, dass das erfolgreiche Durchlaufen der Grund- und Qualifi-
zierungsbausteine und nachfolgender Bausteine bei der Fort- und Weiterbil-
dung in einem lebenslang gültigen Ausbildungspass bescheinigt werden;

5. eine Differenzierung und vor allem Verkürzung der Ausbildungszeiten
sicherzustellen;

6. daran festzuhalten, dass die Heranführung an die Berufsausbildungsfähig-
keit weiterhin staatliche Aufgabe bleibt. Bei der betrieblichen Einbindung
von Qualifizierungsmaßnahmen für benachteiligte Jugendliche ist darauf zu
achten, dass diese auch für die Unternehmer attraktiv sein müssen und zu
keinen finanziellen und bürokratischen Belastungen führen;

7. die Voraussetzung zu schaffen, dass durch die Gliederung der Ausbildung in
Grund- und Qualifizierungsbausteine auch Unternehmen mit eingeschränk-
ten Ausbildungsmöglichkeiten in die Berufsausbildung einbezogen werden
können. So sollen Ausbildungsverbünde und die Vernetzung unterschiedli-
cher Lernorte erleichtert werden;

8. durch den Ausbildungs- und Ausbildungspass und das System der Qualifi-
zierungsbausteine zugleich die grenzüberschreitende Ausbildung in Europa
zu erleichtern. Die Chancen deutscher Berufsanfänger sollen auch im Hin-
blick auf den europäischen Arbeitsmarkt verbessert werden;

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9. das BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung) mit der
Entwicklung eines Konzeptes zu beauftragen, das den EUROPASS und
den Ausbildungspass zusammenführt. Dabei sollen die im Ausland absol-
vierten Bausteine rechtlich verbindlich für die Berufsausbildung ange-
rechnet werden können. Ein Anerkennungsinstrument analog dem ECTS
(European Credit Transfer System) auch für die berufliche Bildung ist
dabei zu entwickeln und zu implementieren;

10. die Entwicklung der Qualifizierungsbausteine in möglichst großer Eigen-
verantwortung der Unternehmen und der Sozialpartner in Zusammenwir-
ken mit den Einrichtungen der beruflichen Bildung zu veranlassen. Dabei
sollen auch Möglichkeiten zur Entwicklung von Zusatzbausteinen für be-
sonders zu qualifizierende Auszubildende ermöglicht werden;

11. die Ausbildungsordnungen auf Grundanforderungen zu beschränken und
zu flexibilisieren, um so den einzelnen Betrieben mehr Spielräume für
die Ausgestaltung und Umsetzung der Ausbildungsbausteine zu ver-
schaffen;

12. die Voraussetzungen zu schaffen, dass im Hinblick auf die Grundanforde-
rungen bundesweit einheitliche Standards für Qualifikationsbausteine und
deren Prüfung entwickelt und umgesetzt werden. Bei der Entwicklung der
Verfahren zur Qualitätssicherung der entwickelten Bausteine ist darauf zu
achten, dass sie in möglichst unbürokratischer Weise durchgeführt werden
können. Die Vertreter der Wirtschaft sind dabei in besonderer Weise einzu-
beziehen.

Berlin, den 11. März 2003
Cornelia Pieper
Christoph Hartmann (Homburg)
Ulrike Flach
Daniel Bahr (Münster)
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Jörg van Essen
Otto Fricke
Horst Friedrich (Bayreuth)
Dr. Karlheinz Guttmacher
Ulrich Heinrich
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Detlef Parr
Gisela Piltz
Dr. Andreas Pinkwart
Marita Sehn
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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Begründung
Die Fraktion der FDP hat mit ihrem Antrag auf Bundestagsdrucksache 14/5984
bereits in der vergangenen Legislaturperiode wesentliche Elemente einer
grundlegenden Reform des Berufsbildungsgesetzes vorgeschlagen.
Der akute Lehrstellenmangel und die alarmierenden Zahlen der Unausgebilde-
ten und Ausbildungsabbrecher unterstreichen die Notwendigkeit einer schnel-
len Novellierung des Berufsbildungsgesetzes.
Der Grundgedanke einer Reform ist die Gliederung der Ausbildung in flexible
Grund- und Qualifizierungsbausteine. Den Unternehmen werden somit Mög-
lichkeiten eröffnet, neue Berufsausbildungen unter Sicherung der Qualität
eigenverantwortlich zu entwickeln. Auch Jugendlichen mit besonderen Bega-
bungen werden dadurch neue Chancen eröffnet.
Die Einrichtung von Teilqualifikationen, die zwar Nachqualifizierungen er-
möglichen, aber dennoch schon zur Aufnahme praktischer Berufstätigkeit die-
nen können, ist dagegen von zentraler Bedeutung gerade für Problemgruppen
und so geeignet, einen wichtigen Beitrag zum Senken der Unausgebildeten-
und Abbrecherquote zu leisten.
Die Modularisierung bietet zugleich die Chance, die grenzüberschreitende Aus-
bildung und die Anerkennung von Teilen der Ausbildung im europäischen Zu-
sammenhang zu erleichtern.
Ein lebenslang gültiger Ausbildungspass, in den der europäischen Ausbil-
dungspass integriert werden soll, bescheinigt die Ausbildungsbausteine und
dient der Dokumentation lebensbegleitender Fort- und Weiterbildung.
Die gesamte Reform muss unter dem Gesichtspunkt minimaler Bürokratie und
großer Spielräume für die Unternehmen bei gleichzeitiger Sicherung von bun-
desweit gültigen Qualitätsanforderungen für die Mindeststandards stehen.

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