BT-Drucksache 15/5644

Richterliche Unabhängigkeit als Garant der freiheitlich demokratischen Grundordnung

Vom 2. Juni 2005


Deutscher Bundestag Drucksache 15/5644
15. Wahlperiode 02. 06. 2005

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Rainer Funke, Jörg van Essen, Sibylle Laurischk, Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Ernst Burgbacher, Gisela Piltz, Dr. Max Stadler,
Daniel Bahr (Münster), Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, Ulrike Flach,
Otto Fricke, Hans-Michael Goldmann, Joachim Günther (Plauen), Klaus Haupt,
Ulrich Heinrich, Birgit Homburger, Dr. Werner Hoyer, Hellmut Königshaus,
Dr. Heinrich L. Kolb, Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin, Harald Leibrecht, Ina Lenke,
Eberhard Otto (Godern), Detlef Parr, Cornelia Pieper, Dr. Hermann Otto Solms,
Dr. Rainer Stinner, Jürgen Türk, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing,
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion der FDP

Richterliche Unabhängigkeit als Garant der freiheitlich demokratischen
Grundordnung

Artikel 97 Grundgesetz (GG) gewährleistet mit der Unabhängigkeit der Richter
einen, wenn nicht den zentralen Baustein in der Architektur des Rechtsstaats: Es
gibt keinen Rechtsstaat ohne eine rechtsprechende Gewalt durch unbeteiligte
Dritte als Richter und es gibt keine rechtsstaatliche Justiz ohne die Unabhängig-
keit dieser Richter von den Einflussnahmen Dritter auf die Streitentscheidung –
bei gleichzeitiger Bindung nur an das Gesetz. Insofern ist die richterliche Un-
abhängigkeit Ausdruck der Gewaltenteilung (Artikel 20 Abs. 2 Satz 2 GG), zen-
trales Charakteristikum richterlicher Tätigkeit und elementare Voraussetzung
für die Gewährung effektiven Rechtschutzes im Sinne des Artikels 19 Abs. 4
GG bzw. des allgemeinen Justizgewähranspruches.
Die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit richtet sich gegen alle Versuche
der Staatsgewalten direkt oder indirekt auf die Entscheidungen konkreter Fälle
Einfluss zu nehmen oder eine solche Einflussnahme zu ermöglichen oder aber
mehr als unvermeidbar die Rechtsstellung der Richter zu beeinflussen. Sie ge-
währleistet Unabhängigkeit im Sinne von Weisungsfreiheit, Handlungsfreiheit
und Erkenntnisfreiheit jedes einzelnen Richters.
Zentrale Bereiche der persönlichen Unabhängigkeit der Richter – als weitere Vo-
raussetzung einer echten sachlichen Unabhängigkeit, sind in letzter Zeit häufig
Gegenstand rechtspolitischer Überlegungen gewesen. Dies zeigt sich insbeson-
dere an den aktuellen Diskussion zu festen Arbeitszeiten der Richter, „Neuen
Steuerungsmodellen“ in der Justiz und der geplanten Zusammenlegung der drei
öffentlich-rechtlichen Gerichtszweige Finanz-, Sozial- und allgemeine Verwal-
tungsgerichtsbarkeit.
Der bayerische Staatsminister für Finanzen, Kurt Faltlhauser, äußerte sich in
einem Aufsatz in der Bayerischen Staatszeitung vom 28. Januar 2005 dahin
gehend, dass die Gleichbehandlung innerhalb des öffentliches Dienstes es
erfordere, dass auch Richter zeitlich bestimmte Bürozeiten haben.

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Nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung gilt, dass der Richter seine
Arbeit nicht innerhalb festgelegter Dienstzeiten und nicht an der Gerichtsstelle
zu erledigen hat. In seiner eigentlichen Arbeit, der Rechtsfindung, soll der Rich-
ter soweit als eben möglich von äußeren Zwängen, seien sie auch nur atmo-
sphärischer Art, frei sein. Die Rechtsfindung ist außerhalb der Sitzungen und
Beratungen nicht das Ergebnis eines behördlichen Ablaufs, sondern eines
höchstpersönlichen Erkenntnisprozesses.
Die persönliche Unabhängigkeit der Richter spielt auch eine Rolle bei der Ein-
führung von so genannten Neuen Steuerungsmodellen, mit denen Organisations-
und Führungsgrundsätze moderner Unternehmensführung auf den öffentlichen
Sektor übertragen werden sollen. Ziel des – ursprünglich für den Bereich der
Kommunalverwaltung entwickelten – Konzepts ist die Verwaltungslenkung
durch Kompetenz- und Ressourcenverteilung. Damit erreicht die Modernisie-
rung des Staates mit Hilfe dieser „Neuen Steuerungsmodelle“ als Instrumente
zur Steigerung ökonomischer Effizienz und Effektivität auch die Justiz. Es er-
scheint fraglich, ob eine „Steuerung“ der Richter durch etwas anderes als das
Gesetz, vereinbar ist mit der Garantie richterlicher Unabhängigkeit. Es ist nicht
unbedenklich, wenn ein Richter aufgrund des bestehenden Kostendrucks etwa
davon abgehalten werden würde, ein notwendiges, aber teures Sachverstän-
digengutachten einzuholen. Der durch „Budgetierung“ und „Controlling“ ent-
stehende „Ökonomisierungsdruck“ durch die Justizverwaltung als Teil der Exe-
kutive kann daher in Konflikt mit dem Grundprinzip der Gewaltenteilung
geraten.
Die selbständigen Fachgerichte haben sich seit Jahrzehnten bewährt, sie genie-
ßen bei den Beteiligten großes Vertrauen. Entsprechend statuiert Artikel 95 GG
die obersten Gerichtshöfe auf Bundesebene. Daraus folgt nach überwiegender
Auffassung auch, dass damit den Ländern ein dementsprechender Gerichtsauf-
bau vorgeschrieben ist und sie deshalb die Unterteilung der Rechtsprechung in
die fünf Gerichtsbarkeiten zu übernehmen haben.
Hauptgrund für die Beschlüsse des Bundesrates (Bundesratsdrucksachen 543/04
und 544/04) für die Zusammenführung zu einer öffentlich-rechtlichen Gerichts-
barkeit ist das Interesse der Länder an effizienterem Einsatz der personellen
Ressourcen und besserer Auslastung der drei öffentlich-rechtlichen Fach-
gerichtsbarkeiten. Damit könnten Richter innerhalb der öffentlich-rechtlichen
Gerichtsbarkeit an die tatsächlichen Bedürfnisse angepasst, eingesetzt werden.
Zum Kernbestandteil richterlicher Unabhängigkeit gehört aber auch, dass ein
Richter nicht ohne seine Zustimmung von einer Gerichtsbarkeit in eine andere
versetzt werden darf. Diese Regelung der Unversetzbarkeit ist nicht ohne Grund
in Artikel 97 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich verankert. Sie stellt kein Privileg
der Richterschaft dar, sondern wurde aus der historischen Erfahrung heraus in
das Grundgesetz eingeführt, um einerseits die richterliche Unabhängigkeit in der
Spruchtätigkeit und andererseits das Prinzip des gesetzlichen Richters (Arti-
kel 101 Abs. 1 Satz 2 GG) zu sichern.
Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche Auffassung vertritt die Bundesregierung hinsichtlich der aktuellen

Diskussion, feste Dienstzeiten für Richter im Gericht einzuführen?
2. Wie ist dieser Vorschlag im Hinblick auf die verfassungsrechtlich garantierte

Unabhängigkeit der Richter zu rechtfertigen, insbesondere unter Berücksich-
tigung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes – Dienstgericht des
Bundes – Urteil vom 16. November 1990, Az.: RiZ 2/90?

3. Plant die Bundesregierung dieses oder ein ähnliches Vorhaben weiterzuver-
folgen?
Falls ja, in welcher Form?

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/5644

4. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Einführung fester Dienst-
zeiten für Richter geeignet sein kann, die Effizienz des Rechtsschutzes zu
steigern?

5. Sieht die Bundesregierung in der Einführung von „Kernarbeitszeiten“ für
Richter einen Eingriff in den Kernbereich richterlicher Tätigkeit?

6. Ist für die Bundesregierung im Rahmen des äußeren organisatorischen Ord-
nungsbereichs der richterlichen Tätigkeit eine Arbeitszeitregelung für Rich-
ter denkbar, die den Kernbereich der richterlichen Tätigkeit nicht berührt?

7. Welche „Neuen Steuerungsmodelle“ wurden bundesweit bereits in der Jus-
tiz eingeführt?

8. Über welche Erkenntnisse verfügt die Bundesregierung aus Studien zu ver-
gleichbaren „Neuen Steuerungsmodellen“ in anderen europäischen Län-
dern, insbesondere EU-Mitgliedstaaten?

9. Zu welchen Ergebnissen kamen diese Studien und welche Schlussfolge-
rungen ergeben sich daraus für die Beurteilung der zukünftigen deutschen
Modelle?

10. Liegen der Bundesregierung Erfahrungsberichte zur Evaluierung der „Neu-
en Steuerungsmodelle“ in Deutschland vor?
Wenn ja, welche?
Wenn nein, wann ist mit einer Evaluierung zu rechnen?

11. Welche Daten über die richterliche Tätigkeit werden von der Evaluierung
erfasst?

12. Welche Rückschlüsse sind nach der Veröffentlichung der Auswertungen auf
die Arbeit des einzelnen Richters möglich?

13. Welche Verwaltung soll nach der Auswertung der Daten die zukünftige Ver-
teilung der Mittel „steuern“?

14. In welcher Art und Weise wird der Einführung von „Neuen Steuerungs-
modellen“ berücksichtigt, dass in der Justiz nicht von einem operativen,
allein auf Erledigungszahlen beruhendem Produktverständnis, sondern von
einem wirkungsorientierten Produktverständnis, das die Herstellung von
Rechtssicherheit, Rechtsfrieden, materieller Gerechtigkeit u. a. umfasst,
auszugehen ist?

15. Sieht die Bundesregierung eine Gefahr darin, dass durch die Einführung
„Neuer Steuerungsmodelle“ mit der Gefahr sachfremder Verfahrenssteue-
rung die Qualität der Rechtsprechung leiden könnte?

16. Wie kann nach Auffassung der Bundesregierung der Gefahr schleichender
Qualitätseinbußen durch einseitiges Abstellen auf Kostengesichtspunkte, in
der Justiz vorgebeugt werden?

17. Teilt die Bundesregierung die These, dass sich die Qualität der Rechtspre-
chung nicht an der Dauer und den Kosten der Verfahren messen lässt, son-
dern in erster Linie die inhaltliche Richtigkeit der Entscheidung umfassen
muss?

18. Wie beurteilt die Bundesregierung insgesamt das vorrangige Sparpotential
der „Neuen Steuerungsmodelle“?

19. In welcher Höhe wurden Einsparungen durch die Einführung von „Neuen
Steuerungsmodellen“ tatsächlich erzielt?

20. Welche Verbesserungen konnten mit der Einführung von „Neuen Steue-
rungsmodellen“ insgesamt erzielt werden?

Drucksache 15/5644 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

21. In welchem Umfang und welcher Art wurden bei der Einführung „Neuer
Steuerungsmodelle“ auch Budgets für Richter eingeführt?

22. Wie beurteilt die Bundesregierung die Sorge, dass Richter bei Beachtung
der Vorgaben der „Neuen Steuerungsmodelle“ bei ihren Entscheidungen zu-
erst das Budget im Auge haben, um nicht Rechtfertigungszwängen gegen-
über budgettreuen Kollegen ausgesetzt zu sein?

23. Welche Maßnahmen beabsichtigt die Bundesregierung, um der Gefahr zu
begegnen, dass Richter ihre Entscheidung nicht nur an Gesetz und Recht,
sondern auch an den Kosten ausrichten?

24. Auf welche Art und Weise kann den Risiken der unerwünschten und un-
beabsichtigten Fehlsteuerung begegnet werden?

25. Wie begegnet die Bundesregierung dem darin liegenden Verdacht der Steue-
rung der Justiz durch die Exekutive?

26. Steht nach Auffassung der Bundesregierung in der Rechtsprechung der zu
treibende Aufwand für die Einführung von „Neuen Steuerungsmodellen“ in
angemessenem Verhältnis zum angestrebten Ziel?

27. Sind der Bundesregierung Beschwerden von Richtern über die Sach- und
Personalausstattung, insbesondere hinsichtlich der erforderlichen Literatur
inklusive der Gesetzestexte bekannt?

28. Wenn ja, wie wurde den Beschwerden abgeholfen?
29. Darf Richtern, in welcher Form auch immer, vorgehalten werden, dass sie

im Vergleich zu Kollegen, weniger Verfahren erledigen, mehr Kosten verur-
sachen, höhere Rechtsmittel- oder Rechtsmittelerfolgsquoten haben etc.?

30. Wie bewertet die Bundesregierung die Pläne der Bundesländer zur Zusam-
menführung der selbständigen Fachgerichte zu einer öffentlich-rechtlichen
Fachgerichtsbarkeit (Bundesratsdrucksachen 543/04 und 544/04)?

31. Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass die Schaffung einer entsprechen-
den Länderöffnungsklausel bewusst den durch Artikel 97 Abs. 2 GG verfas-
sungsrechtlich garantierten Schutz vor Versetzung der Richter umgeht?
Wenn nein, warum nicht?

32. Ist nach Auffassung der Bundesregierung für die Zusammenführung der
drei öffentlich-rechtlichen Fachgerichtsbarkeiten eine Verfassungsänderung
erforderlich?

33. Wenn ja, betrifft eine solche Verfassungsänderung Grundsätze der Verfas-
sung, die in der Ewigkeitsgarantie des Artikels 79 Abs. 3 GG verankert sind?

34. Auf welcher Tatsachengrundlage beruht die Überlegung, dass die Sozial-
gerichte die Mehrbelastung seit 1. Januar 2005 durch die Übertragung neuer
Zuständigkeiten für Streitigkeiten über die Grundsicherung für Arbeits-
suchende nicht durch Personalfluktuation auf freiwilliger Basis und effek-
tive Ausnutzung der Personalkonzepte im Rahmen des geltenden Rechts
werden ausgleichen können?

35. Wie erklärt die Bundesregierung den Widerspruch, der dadurch entsteht,
dass einerseits ab 1. Januar 2005 den Sozialgerichten die Zuständigkeit für
Streitigkeiten über die Grundsicherung für Arbeitssuchende übertragen
wird und anderseits die Sozialgerichtsbarkeit zur Disposition der Landesge-
setzgeber stellt, indem ihnen gestattet wird, die Sozialgerichtsbarkeit durch
besondere Spruchkörper der Verwaltungsgerichte auszuüben?

36. Hätte eine Übertragung neuer Zuständigkeiten auf die Sozialgerichte und
die Einrichtung besonderer Spruchkörper bei den Verwaltungsgerichten

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 5 – Drucksache 15/5644

auch aufgrund von § 31 oder § 32 Deutsches Richtergesetz erfolgen kön-
nen?
Wenn nein, warum nicht?

37. Welche Möglichkeiten des flexiblen Richtereinsatzes sind nach Auffassung
der Bundesregierung nach dem Deutschen Richtergesetz bereits jetzt gege-
ben?

38. Ist die erwartete personelle „Notlage“ bei den Sozialgerichten wegen der zu-
sätzlichen Zuständigkeit für Streitigkeiten über das Arbeitslosengeld II und
die Sozialhilfe nach dem 1. Januar 2005 tatsächlich eingetreten?

39. In welchemUmfang wird von der durch das Siebte Gesetz zur Änderung des
Sozialgerichtsgesetzes (Bundesgesetzblatt Teil I 2004 Nr. 66 14. Dezember
2004 S. 3302) geschaffenen Möglichkeit, besondere Spruchkörper bei den
Verwaltungsgerichten einzurichten, in der Praxis Gebrauch gemacht?

40. Wie viele Verfahren sind davon prozentual und absolut betroffen?
41. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus den ersten Er-

fahrungen mit dem Siebten Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgeset-
zes?

Berlin, den 2. Juni 2005
Rainer Funke
Jörg van Essen
Sibylle Laurischk
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Ernst Burgbacher
Gisela Piltz
Dr. Max Stadler
Daniel Bahr (Münster)
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ulrike Flach
Otto Fricke
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther (Plauen)
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Hellmut Königshaus
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Eberhard Otto (Godern)
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Rainer Stinner
Jürgen Türk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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