BT-Drucksache 15/5458

Vorfahrt für Arbeit - Neue Chancen für Arbeitsplätze und Investitionen durch weniger Funktionärsrechte

Vom 11. Mai 2005


Deutscher Bundestag Drucksache 15/5458
15. Wahlperiode 11. 05. 2005

Antrag
der Abgeordneten Rainer Brüderle, Dirk Niebel, Gudrun Kopp, Dr. Karl Addicks,
Daniel Bahr (Münster), Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, Helga Daub, Jörg
van Essen, Otto Fricke, Rainer Funke, Joachim Günther (Plauen), Dr. Karlheinz
Guttmacher, Klaus Haupt, Ulrich Heinrich, Birgit Homburger, Dr. Werner Hoyer,
Hellmut Königshaus, Dr. Heinrich L. Kolb, Jürgen Koppelin, Harald Leibrecht, Ina
Lenke, Günther Friedrich Nolting, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Eberhard Otto
(Godern), Detlef Parr, Cornelia Pieper, Gisela Piltz, Dr. Hermann Otto Solms,
Dr. Rainer Stinner, Carl-Ludwig Thiele, Dr. Dieter Thomae, Jürgen Türk, Dr. Claudia
Winterstein, Dr. Volker Wissing, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Vorfahrt für Arbeit – Neue Chancen für Arbeitsplätze und Investitionen durch
weniger Funktionärsrechte

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Fünf Millionen Arbeitslose zwingen zum Handeln. Überregulierung, man-
gelnde Flexibilität und unzureichende Differenzierung der Tarifverträge, aber
auch anachronistische Mitbestimmungsregelungen in der deutschen Unterneh-
mensverfassung erweisen sich immer mehr als Hindernis beim Aufbau neuer
Beschäftigung. Um Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen und erhalten zu
können müssen wir die Anpassungsmöglichkeiten an sich immer schneller ver-
ändernde Rahmenbedingungen in einer offenen Volkswirtschaft verbessern.
Deshalb müssen zum Beispiel betriebliche Notwendigkeiten stärker als bisher
die Lohn- und Arbeitszeitfindung beeinflussen.
Der Flächentarifvertrag, der die Arbeitsverhältnisse bis ins Detail regelt, ist in
dieser Ausschließlichkeit nicht mehr zeitgemäß. Die Zeit zentraler Lösungen ist
vorbei. Verhandlungsführer und Verbände orientieren sich viel zu oft an der
Ertragslage und der Betriebswirklichkeit der Großkonzerne. Das stellt vor
allem die kleinen und mittleren Betriebe vor Probleme.
Mutigen, innovativen Unternehmen und Arbeitnehmern, die ausgetretene Pfade
verlassen möchten, sollte es möglich sein, auch durch betriebliche Vereinbarun-
gen rechtlich abgesichert den besonderen Bedingungen vor Ort Rechnung zu
tragen. Gerade sie benötigen mehr Freiheit bei den Löhnen und Arbeitszeitbe-
dingungen.
Angesichts der Globalisierung und der betrieblichen wie regionalen Unter-
schiede müssen wir auf die veränderte Arbeitswelt reagieren und zukunfts-
fähige Lösungen für die strukturellen Probleme des Arbeitsmarktes finden. Den
Tarifvertragsparteien kommt dabei eine besondere Verantwortung zu. Sie haben
es in der Hand, die Tarifverträge so auszugestalten, dass sie wieder lesbar,
transparent und vor allem flexibler werden.

Drucksache 15/5458 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

In dem Vermittlungsverfahren im Dezember 2003 zu dem Gesetz zu Reformen
am Arbeitsmarkt und dem Dritten und Vierten Gesetz für moderne Dienstleis-
tungen am Arbeitsmarkt haben sich die Verhandlungsführer auf folgende Pro-
tokollerklärung geeinigt: „Wir erwarten von den Tarifvertragsparteien, dass sie
sich in den nächsten zwölf Monaten auf eine neue Balance zwischen Regelun-
gen auf tarifvertraglicher und betrieblicher Ebene verständigen.“
Die Abschlüsse in den vergangenen eineinhalb Jahren zeigen, dass die Bereit-
schaft der Tarifvertragsparteien, durch tarifliche Öffnungsklauseln Vereinbarun-
gen auf betrieblicher Ebene zuzulassen, immer noch gering ist. Ohne Eingriffe
des Gesetzgebers ist die von der Politik geforderte Öffnung von Tarifverträgen
zugunsten betrieblicher Regelungen offenkundig nicht zu realisieren.
Die paritätische Mitbestimmung, die 1976 mit großen Erwartungen eingeführt
wurde, ist nicht nur weltweit eine singuläre Erscheinung geblieben. Sie ist viel-
mehr auch ein großerHemmschuh für ausländische Investitionen inDeutschland.
Ausländischen Investoren ist das durch die paritätische Mitbestimmung hierzu-
lande stark eingeschränkte Entscheidungsrecht der Anteilseigner kaum zu ver-
mitteln. Das führt zu erschwerter Kapitalbeschaffung und senkt die Aktienkurse.
Nach einer empirischen Studie der Federal Reserve Bank of St. Louis vom April
2002 wären deutsche Kapitalgesellschaften amAktienmarkt deutlich mehr wert,
wenn sie statt der paritätischen Mitbestimmung eine Drittelparität hätten. Die
Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland leidet darunter und das wie-
derum bedeutet unmittelbar weniger Investitionen und weniger Arbeitsplätze.
Die Mütter und Väter der paritätischen Mitbestimmung hatten die positiven Ef-
fekte für ein Unternehmen im Blick: geringere Fluktuation und eine unterstellte
höhere Motivation beim Arbeitseinsatz. Der hohe Betriebsfrieden in Deutsch-
land wird vielfach als Ergebnis der Partizipation der Arbeitnehmer im Unter-
nehmen gesehen. Doch diese Vorteile sind zu teuer erkauft. Die Parität bedeutet
einen faktischen Konsenszwang bei Aufsichtsratsentscheidungen. Damit wer-
den die Kontrollrechte der Kapitalgeber in deutschen Aufsichtsräten im inter-
nationalen Vergleich am stärksten beschränkt.
Die in der Wirtschaft hin und wieder geforderte völlige Abschaffung der Arbeit-
nehmerbeteiligung im Aufsichtsrat schießt allerdings wegen der unbestreitbaren
Vorteile der Unternehmensmitbestimmung übers Ziel hinaus. Allerdings lässt
sich die Arbeitnehmerbeteiligung mit weniger Kosten erreichen. Wenn sich
Arbeitgeber und Belegschaft nicht auf ein anderes Modell verständigen, dann ist
die Rückkehr zur Drittelbeteiligung der Arbeitnehmer auch in Kapitalgesell-
schaften mit mehr als 2000 Mitarbeitern dringend geboten. Das garantiert ein
hinreichendes Mitspracherecht der Belegschaft und sichert ihnen volle Anhö-
rungs- und Informationsrechte. Dann ist aber die Gefahr deutlich reduziert, dass
der Aufsichtsrat der Ort eines lähmenden Duells zwischen Arbeitgeber- und
Arbeitnehmerinteressen ist. Stattdessen rückt seine eigentliche Aufgabe, näm-
lich die gemeinsame effektive Kontrolle des Vorstands, wieder ins Zentrum.
Nach § 7 des Mitbestimmungsgesetzes gehören dem Aufsichtsrat mindestens
zwei Vertreter von Gewerkschaften an. Grundsätzlich ist nicht einleuchtend,
warum der Gesetzgeber der Hauptversammlung bzw. den Arbeitnehmern so de-
tailliert vorschreiben muss, wen sie als Arbeitnehmervertreter in den Aufsichts-
rat bestellen. Das kann ins Ermessen von Hauptversammlung und Arbeitneh-
mern gestellt werden. Darüber hinaus bildet die Regelung die Entwicklungen
der betrieblichen Wirklichkeit nicht mehr ab. In den Betrieben geht der gewerk-
schaftliche Organisationsgrad deutlich zurück. Waren 1990 noch rund 40 Pro-
zent der abhängig Beschäftigten in den Gewerkschaften organisiert, beträgt der
Organisationsgrad im Jahr 2002 gerade einmal rd. 27 Prozent und zwar ein-
schließlich Rentner, Studenten und Arbeitsloser. In den Aufsichtsräten spielt
der DGB auf Arbeitnehmerseite jedoch weiterhin eine dominierende Rolle. Ob
dabei noch die Interessen der Arbeitnehmer vertreten werden, ist zumindest in

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/5458

Zweifel zu ziehen. Der Vorsitzende von ver.di Frank Bsirske fand nichts dabei,
einen Streik bei der Lufthansa anzuführen, obwohl er dort stellvertretender
Aufsichtsratsvorsitzender ist. Die fehlende Entlastung durch die Hauptver-
sammlung hatte keine weiteren Konsequenzen. Solche Auswüchse müssen von
vornherein verhindert werden. Das Privileg der Gewerkschaftszentralen, in
jedem Fall im Aufsichtsrat von Gesellschaften, für die das Mitbestimmungs-
gesetz gilt, vertreten zu sein, muss fallen.
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
– § 1 Abs. 1 des Tarifvertragsgesetzes um die Zielvorgabe zu ergänzen, dass

der Tarifvertrag die Beschäftigungserhaltung und -förderung zu beachten hat;
– in § 3 Abs. 3 des Tarifvertragsgesetzes die Bindungswirkung eines Entgelt-

tarifvertrages auf maximal ein halbes Jahr, eines Manteltarifvertrages auf
maximal ein Jahr nach Austritt eines Unternehmers aus dem Arbeitgeber-
verband zu befristen;
Die bestehende Regelung bewirkt, dass Unternehmen insbesondere bei Man-
teltarifverträgen über Jahre hinweg an die Regelungen des Tarifvertrages ge-
bunden bleiben, auch wenn die in den Manteltarifverträgen zugrunde liegen-
den Prognosen deutlich von den betrieblichen Entwicklungen abweichen.
Austritte aus dem Arbeitgeberverband sind ein Mittel, sich dieser Tarifbin-
dung zu entziehen. In der Praxis gibt es häufig Unsicherheiten darüber, wann
der Zeitraum eines Tarifvertrages endet. Daher sollte die Wirkung von § 3
Abs. 3 des Tarifvertragsgesetzes gesetzlich befristet werden. Die betriebliche
FlexibilisierungderArbeitsbedingungenwird hierdurch erleichtert, daArbeit-
geber und Betriebsrat nach Austritt des Arbeitgebers aus dem Arbeit-
geberverband schneller vom Tarifvorrang des § 87 Abs. 1 des Betriebsverfas-
sungsgesetzes befreit sind und diemitbestimmungspflichtigenAngelegenhei-
ten eigenständig regeln können;

– in § 4 Abs. 3 des Tarifvertragsgesetzes das Günstigkeitsprinzip so zu ergän-
zen, dass sich ein Lohnverzicht eines Arbeitnehmers oder eine längere
Arbeitszeit dann als günstiger darstellen, wenn dies den Erhalt des Arbeits-
platzes sichert oder die Schaffung neuer Arbeitsplätze ermöglicht und der
Betriebsrat oder 75 Prozent der abstimmenden Mitarbeiter dem zugestimmt
haben;
Das Günstigkeitsprinzip nach § 4 Abs. 3 des Tarifvertragsgesetzes wird bis-
lang einseitig so ausgelegt, dass höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten als
günstiger eingestuft werden. In der jetzigen Arbeitsmarktsituation kann sich
jedoch ein Lohnverzicht des Arbeitnehmers bzw. längere Arbeitszeiten, die
zum Erhalt des Arbeitsplatzes bzw. zur Schaffung von Arbeitsplätzen führen,
als günstiger darstellen;

– § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes so zu ändern, dass vom Tarif-
vertrag abweichende Vereinbarungen auf betrieblicher Ebene zwischen
Unternehmen und Belegschaftsvertretung möglich sind, die freiwillig ge-
schlossen werden und denen 75 Prozent der abstimmenden Mitarbeiter des
Unternehmens zugestimmt haben;

– die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 des Tarifvertragsgesetzes abzu-
schaffen;

– Warnstreiks erst dann zuzulassen, wenn ihnen ein obligatorisches Schlich-
tungsverfahren vorausgegangen ist (keine Zwangsschlichtung);

– die paritätischeMitbestimmung durch eine entsprechende Änderung desMit-
bestimmungsgesetzes abzuschaffen und zur Drittelbeteiligung der Arbeit-
nehmer auch in Konzernen mit mehr als 2 000 Beschäftigten zurückzukehren.
Um den europarechtlichenVorgaben der EuropäischenAktiengesellschaft und

Drucksache 15/5458 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode
der anstehenden EU-Fusionsrichtlinie gerecht zu werden, sollten zudem
abweichende Lösungen auf dem Verhandlungsweg zwischen Unternehmens-
führung und Belegschaft ermöglicht werden;

– das Gewerkschaftsprivileg bei der Zusammensetzung des Aufsichtsrates, wie
es im § 7 Abs. 2 des Mitbestimmungsgesetzes festgeschrieben ist, zu besei-
tigen.

Berlin, den 11. Mai 2005
Rainer Brüderle
Dirk Niebel
Gudrun Kopp
Dr. Karl Addicks
Daniel Bahr (Münster)
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Jörg van Essen
Otto Fricke
Rainer Funke
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Karlheinz Guttmacher
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Hellmut Königshaus
Dr. Heinrich L. Kolb
Jürgen Koppelin
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Eberhard Otto (Godern)
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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