BT-Drucksache 15/5339

Vorfahrt für Arbeit - Der Weg nach vorne für Deutschland und Europa

Vom 20. April 2005


Deutscher Bundestag Drucksache 15/5339
15. Wahlperiode 20. 04. 2005

Antrag
der Abgeordneten Jürgen Koppelin, Rainer Brüderle, Dr. Karl Addicks, Ernst
Burgbacher, Helga Daub, Jörg van Essen, Otto Fricke, Horst Friedrich (Bayreuth),
Rainer Funke, Hans-Michael Goldmann, Joachim Günther (Plauen), Dr. Christel
Happach-Kasan, Klaus Haupt, Ulrich Heinrich, Dr. Werner Hoyer, Hellmut
Königshaus, Dr. Heinrich L. Kolb, Gudrun Kopp, Sibylle Laurischk, Harald
Leibrecht, Dirk Niebel, Günther Friedrich Nolting, Hans-Joachim Otto (Frankfurt),
Detlef Parr, Dr. Andreas Pinkwart, Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Rainer Stinner,
Carl-Ludwig Thiele, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing,
Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Vorfahrt für Arbeit – Der Weg nach vorne für Deutschland und Europa

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
In ihrem im Jahr 1999 vorgelegten Grundsatzpapier haben Gerhard Schröder
und Tony Blair Folgendes festgestellt:
Unsere Volkswirtschaften und die globalen Wirtschaftsbeziehungen haben
einen radikalen Wandel erfahren. Neue Bedingungen und neue Realitäten er-
fordern eine Neubewertung alter Vorstellungen und die Entwicklung neuer
Konzepte.
In einem großen Teil Europas ist die Arbeitslosigkeit viel zu hoch, und ein
großer Teil dieser Arbeitslosigkeit ist strukturell bedingt. Um dieser Herausfor-
derung begegnen zu können, müssen die europäischen Staaten gemeinsam eine
neue angebotsorientierte Agenda formulieren und umsetzen.
Fairneß, soziale Gerechtigkeit, Freiheit und Chancengleichheit, Solidarität und
Verantwortung für andere: Diese Werte sind zeitlos. Wir werden sie nie preis-
geben. Um diese Werte für die heutigen Herausforderungen relevant zu
machen, bedarf es realistischer und vorausschauender Politik, die in der Lage
ist, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu erkennen. Modernisierung
der Politik bedeutet nicht, auf Meinungsumfragen zu reagieren, sondern es
bedeutet, sich an objektiv veränderte Bedingungen anzupassen.
Wir müssen unsere Politik in einem neuen, auf den heutigen Stand gebrachten
wirtschaftlichen Rahmen betreiben, innerhalb dessen der Staat die Wirtschaft
nach Kräften fördert, sich aber nie als Ersatz für die Wirtschaft betrachtet. Die
Steuerungsfunktion von Märkten muß durch die Politik ergänzt und verbessert,
nicht aber behindert werden.
Wir teilen ein gemeinsames Schicksal in der EU. Wir stehen den gleichen Her-
ausforderungen gegenüber: Arbeitsplätze und Wohlstand fördern, jedem einzel-
nen Individuum die Möglichkeit bieten, seine eigenen Potentiale zu entwickeln,

Drucksache 15/5339 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

soziale Ausgrenzung und Armut bekämpfen; materiellen Fortschritt, ökolo-
gische Nachhaltigkeit und unsere Verantwortung für zukünftige Generationen
miteinander vereinbaren; Probleme wie Drogen und Kriminalität, die den Zu-
sammenhalt unserer Gesellschaften bedrohen, wirksam bekämpfen und Europa
zu einem attraktiven Modell in der Welt machen.
Wir müssen voneinander lernen und uns an der besten Praxis und Erfahrung in
anderen Ländern messen. Mit diesem Appell wollen wir die anderen Regierun-
gen Europas, die unsere Modernisierungsziele teilen, einladen, sich an unserer
Diskussion zu beteiligen.
1. Aus Erfahrung lernen
Wir müssen heute realitätstaugliche Antworten auf neue Herausforderungen in
Gesellschaft und Ökonomie entwickeln. Dies erfordert Treue zu unseren
Werten, aber Bereitschaft zum Wandel der alten Mittel und traditionellen
Instrumente.
l In der Vergangenheit wurde die Förderung der sozialen Gerechtigkeit

manchmal mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt.
Letztlich wurde damit die Bedeutung von eigener Anstrengung und Verant-
wortung ignoriert und nicht belohnt und die soziale Demokratie mit Konfor-
mität und Mittelmäßigkeit verbunden statt mit Kreativität, Diversität und
herausragender Leistung. Einseitig wurde die Arbeit immer höher mit Kos-
ten belastet.

l Der Weg zur sozialen Gerechtigkeit war mit immer höheren öffentlichen
Ausgaben gepflastert, ohne Rücksicht auf Ergebnisse oder die Wirkung der
hohen Steuerlast auf Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung oder private Aus-
gaben. Qualitätvolle soziale Dienstleistungen sind ein zentrales Anliegen,
aber soziale Gerechtigkeit läßt sich nicht an der Höhe der öffentlichen Aus-
gaben messen. Der wirkliche Test für die Gesellschaft ist, wie effizient diese
Ausgaben genutzt werden und inwieweit sie die Menschen in die Lage ver-
setzen, sich selbst zu helfen.

l Die Ansicht, daß der Staat schädliches Marktversagen korrigieren müsse,
führte allzuoft zur überproportionalen Ausweitung von Verwaltung und Bü-
rokratie. Wir haben Werte, die den Bürgern wichtig sind – wie persönliche
Leistung und Erfolg, Unternehmergeist, Eigenverantwortung und Gemein-
sinn – zu häufig zurückgestellt hinter universelles Sicherungsstreben.

l Allzuoft wurden Rechte höher bewertet als Pflichten. Aber die Verantwor-
tung des einzelnen in Familie, Nachbarschaft und Gesellschaft kann nicht
an den Staat delegiert werden. Geht der Gedanke der gegenseitigen Verant-
wortung verloren, so führt dies zum Verfall des Gemeinsinns, zu mangelnder
Verantwortung gegenüber Nachbarn, zu steigender Kriminalität und Vanda-
lismus und einer Überlastung des Rechtssystems.

l Die Fähigkeit der nationalen Politik zur Feinsteuerung der Wirtschaft hin-
sichtlich der Schaffung von Wachstum und Arbeitsplätzen wurde über-, die
Bedeutung des einzelnen und der Wirtschaft bei der Schaffung von Wohl-
stand unterschätzt. Die Schwächen der Märkte wurden über-, ihre Stärken
unterschätzt.

2. Neue Konzepte für veränderte Realitäten
l Die Politik richtet sich an den Problemen der Menschen aus, die mit dem ra-

schen Wandel der Gesellschaften leben und zurechtkommen müssen. In die-
ser neu entstehenden Welt wollen die Menschen Politiker, die Fragen ohne
ideologische Vorbedingungen angehen und unter Anwendung ihrer Werte
und Prinzipien nach praktischen Lösungen für ihre Probleme suchen, mit
Hilfe aufrichtiger, wohl konstruierter und pragmatischer Politik. Wähler, die
in ihrem täglichen Leben Initiative und Anpassungsfähigkeit im Hinblick auf

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/5339

die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen beweisen müssen, erwar-
ten das gleiche von ihren Regierungen und ihren Politikern.

l In einer Welt immer rascherer Globalisierung und wissenschaftlicher Ver-
änderungen müssen wir Bedingungen schaffen, in denen bestehende Unter-
nehmen prosperieren und sich entwickeln und neue Unternehmen entstehen
und wachsen können.

l Neue Technologien ziehen radikale Veränderungen der Arbeit sowie eine
Internationalisierung der Produktion nach sich. Einerseits führen sie dazu,
daß Fertigkeiten verlorengehen und einige Wirtschaftszweige schrumpfen,
andererseits fördern sie die Entstehung neuer Unternehmen und Tätigkeiten.
Daher besteht die wichtigste Aufgabe der Modernisierung darin, in Human-
kapital zu investieren, um sowohl den einzelnen als auch die Unternehmen
auf die wissensgestützte Wirtschaft der Zukunft vorzubereiten.

l Ein einziger Arbeitsplatz für das ganze Leben ist Vergangenheit. Wir müssen
den wachsenden Anforderungen an die Flexibilität gerecht werden und
gleichzeitig soziale Mindestnormen aufrechterhalten, Familien bei der Be-
wältigung des Wandels helfen und Chancen für die eröffnen, die nicht Schritt
halten können.

l Wir stehen zunehmend vor der Herausforderung, umweltpolitische Verant-
wortung gegenüber künftigen Generationen mit materiellem Fortschritt für
die Breite der Gesellschaft zu vereinbaren.
Wir müssen Verantwortung für die Umwelt mit einem modernen, marktwirt-
schaftlichen Ansatz verbinden. Was den Umweltschutz anbelangt, so ver-
brauchen die neuesten Technologien weniger Ressourcen, eröffnen neue
Märkte und schaffen Arbeitsplätze.

l Die Höhe der Staatsausgaben hat trotz einiger Unterschiede mehr oder
weniger die Grenzen der Akzeptanz erreicht. Die notwendige Kürzung der
staatlichen Ausgaben erfordert eine radikale Modernisierung des öffent-
lichen Sektors und eine Leistungssteigerung und Strukturreform der öffent-
lichen Verwaltung.
Der öffentliche Dienst muß den Bürgern tatsächlich dienen: Wir werden
daher nicht zögern, Effizienz-, Wettbewerbs- und Leistungsdenken einzu-
führen.

l Die sozialen Sicherungssysteme müssen sich den Veränderungen in der Le-
benserwartung, der Familienstruktur und der Rolle der Frauen anpassen.
Wir müssen Wege finden, die immer drängenderen Probleme von Kriminali-
tät, sozialem Zerfall und Drogenmißbrauch zu bekämpfen.
Wir müssen uns an die Spitze stellen, wenn es darum geht, eine Gesellschaft
mit gleichen Rechten und Chancen für Frauen und Männer zu schaffen.

l Armut, insbesondere unter Familien mit Kindern, bleibt ein zentrales Pro-
blem. Wir brauchen gezielte Maßnahmen für die, die am meisten von Margi-
nalisierung und sozialer Ausgrenzung bedroht sind.

l Die Kriminalität ist ein zentrales politisches Thema: So verstehen wir
Sicherheit auf den Straßen als ein Bürgerrecht.

l Und: Eine Politik für lebenswerte Städte fördert Gemeinsinn, schafft Arbeit
und macht die Wohnviertel sicherer.

l Der Staat soll nicht rudern, sondern steuern, weniger kontrollieren als her-
ausfordern. Problemlösungen müssen vernetzt werden.

l Innerhalb des öffentlichen Sektors muß es darum gehen, Bürokratie auf allen
Ebenen abzubauen, Leistungsziele zu formulieren, die Qualität öffentlicher
Dienste rigoros zu überwachen und schlechte Leistungen auszumerzen.

Drucksache 15/5339 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

l Einige Probleme lassen sich jetzt nur noch auf europäischer Ebene lösen.
Andere, wie die jüngsten Finanzkrisen, erfordern eine stärkere internatio-
nale Zusammenarbeit. Im Grundsatz sollte jedoch gelten, daß Machtbefug-
nisse an die niedrigstmögliche Ebene delegiert werden.

Wenn die neue Politik gelingen soll, muß sie eine Aufbruchstimmung und einen
neuen Unternehmergeist auf allen Ebenen der Gesellschaft fördern. Dies erfor-
dert:
l kompetente und gut ausgebildete Arbeitnehmer, die willens und bereit sind,

neue Verantwortung zu übernehmen;
l ein Sozialsystem, das Initiative und Kreativität fördert und neue Spielräume

öffnet;
l ein positives Klima für unternehmerische Selbständigkeit und Initiative.

Kleine Unternehmen müssen leichter zu gründen sein und überlebensfähiger
werden.

l Wir wollen eine Gesellschaft, die erfolgreiche Unternehmer ebenso positiv
bestätigt wie erfolgreiche Künstler und Fußballspieler und die Kreativität in
allen Lebensbereichen zu schätzen weiß.

Staaten haben unterschiedliche Traditionen im Umgang zwischen Staat, In-
dustrie, Gewerkschaften und gesellschaftlichen Gruppen, aber viele teilen die
Überzeugung, daß die traditionellen Konflikte am Arbeitsplatz überwunden
werden müssen.
3. Eine neue angebotsorientierte Agenda
Europa sieht sich der Aufgabe gegenüber, den Herausforderungen der Welt-
wirtschaft zu begegnen und gleichzeitig den sozialen Zusammenhalt angesichts
tatsächlicher oder subjektiv empfundener Ungewißheit zu wahren. Eine Zu-
nahme der Beschäftigung und der Beschäftigungschancen ist die beste Garan-
tie für eine in sich gefestigte Gesellschaft.
Es darf jedoch keine Renaissance des „deficit spending“ und massiver staat-
licher Intervention im Stile der siebziger Jahre geben. Eine solche Politik führt
heute in die falsche Richtung.
Wir wollen den Sozialstaat modernisieren, nicht abschaffen. Wir wollen neue
Wege der Solidarität und der Verantwortung für andere beschreiten, ohne die
Motive für wirtschaftliche Aktivitäten auf puren Eigennutz zu gründen.
Ein robuster und wettbewerbsfähiger marktwirtschaftlicher Rahmen
Wettbewerb auf den Produktmärkten und offener Handel sind von wesentlicher
Bedeutung für die Stimulierung von Produktivität und Wachstum. Aus diesem
Grund sind Rahmenbedingungen, unter denen ein einwandfreies Spiel der
Marktkräfte möglich ist, entscheidend für wirtschaftlichen Erfolg und eine Vor-
bedingung für eine erfolgreichere Beschäftigungspolitik.
l Die EU sollte auch weiterhin als entschiedene Kraft für die Liberalisierung

des Welthandels eintreten.
l Die EU sollte auf den Errungenschaften des Binnenmarktes aufbauen, um

wirtschaftliche Rahmenbedingungen zu stärken, die das Produktivitäts-
wachstum fördern.

Eine auf die Förderung nachhaltigen Wachstums ausgerichtete Steuerpolitik
Wir erkennen an, daß Steuersenkungen unter den richtigen Umständen wesent-
lich dazu beitragen können, ihre übergeordneten gesellschaftlichen Ziele zu
verwirklichen.
So stärken Körperschaftsteuersenkungen die Rentabilität und schaffen Investi-
tionsanreize. Höhere Investitionen wiederum erweitern die Wirtschaftstätigkeit

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 5 – Drucksache 15/5339

und verstärken das Produktivpotential. Dies trägt zu einem positiven Domino-
effekt bei, durch den Wachstum die Ressourcen vermehrt, die für öffentliche
Ausgaben für soziale Zwecke zur Verfügung stehen.
l Die Unternehmensbesteuerung sollte vereinfacht, und die Körperschaftsteu-

ersätze sollten gesenkt werden, wie dies das Vereinigte Königreich getan hat.
l Um sicherzustellen, daß Arbeit sich lohnt, und um die Fairneß des Steuer-

systems zu stärken, sollten Familien und Arbeitnehmer entlastet werden.
l Investitionsneigung und Investitionskraft der Unternehmen – insbesondere

des Mittelstandes – sollten gestärkt werden, wie es die Reform der Kapi-
taleinkünfte und der Unternehmenssteuern in Großbritannien zeigt.

l Die Steuerbelastung von harter Arbeit und Unternehmertum sollte reduziert
werden. Die Steuerbelastung insgesamt sollte neu ausbalanciert werden.

l Auf EU-Ebene sollte die Steuerpolitik energische Maßnahmen zur Bekämp-
fung des unlauteren Wettbewerbs und der Steuerflucht unterstützen. Dies
erfordert bessere Zusammenarbeit, nicht Uniformität. Wir werden keine
Maßnahmen unterstützen, die zu einer höheren Steuerlast führen und die
Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze in der EU gefährden.

Angebots- und Nachfragepolitik gehören zusammen und sind keine Alternativen
Wir erkennen an, daß eine angebotsorientierte Politik eine zentrale und kom-
plementäre Rolle zu spielen hat.
In der heutigen Welt haben die meisten wirtschaftspolitischen Entscheidungen
Auswirkungen sowohl auf Angebot als auch auf Nachfrage.
l Erfolgreiche Programme, die von der Sozialhilfe in die Beschäftigung füh-

ren, steigern das Einkommen der zuvor Beschäftigungslosen und verbessern
das den Arbeitgebern zur Verfügung stehende Arbeitskräfteangebot.

l Moderne Wirtschaftspolitik strebt an, die Nettoeinkommen der Beschäftigten
zu erhöhen und zugleich die Kosten der Arbeit für die Arbeitgeber zu sen-
ken. Deshalb hat die Senkung der gesetzlichen Lohnnebenkosten durch
strukturelle Reformen der sozialen Sicherungssysteme und eine zukunftsori-
entierte, beschäftigungsfreundliche Steuer- und Abgabenstruktur besondere
Bedeutung.

Ziel ist es, den Scheinwiderspruch von Angebots- und Nachfragepolitik zugun-
sten eines fruchtbaren Miteinanders von mikroökonomischer Flexibilität und
makroökonomischer Stabilität zu überwinden.
Um in der heutigen Welt ein größeres Wachstum und mehr Arbeitsplätze zu er-
reichen, müssen Volkswirtschaften anpassungsfähig sein: Flexible Märkte sind
ein Ziel.
Makroökonomische Politik verfolgt noch immer einen wesentlichen Zweck: Sie
will den Rahmen für stabiles Wachstum schaffen und extreme Konjunktur-
schwankungen vermeiden. Wir müssen aber erkennen, daß die Schaffung der
richtigen makroökonomischen Bedingungen nicht ausreicht, um Wachstum zu
stimulieren und mehr Arbeitsplätze zu schaffen.
Veränderungen der Zinssätze oder der Steuerpolitik führen nicht zu verstärkter
Investitionstätigkeit und zu mehr Beschäftigung, wenn nicht gleichzeitig die An-
gebotsseite der Wirtschaft anpassungsfähig genug ist, um zu reagieren. Um die
europäische Wirtschaft dynamischer zu gestalten, müssen wir sie auch flexibler
machen.
l Unternehmen müssen genügend Spielraum haben, um sich die verbesserten

Wirtschaftsbedingungen zunutze zu machen und neue Chancen zu ergreifen:
Sie dürfen nicht durch Regulierungen und Paragraphen erstickt werden.

Drucksache 15/5339 – 6 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

l Die Produkt-, Kapital- und Arbeitsmärkte müssen allesamt flexibel sein: Wir
dürfen nicht Rigidität in einem Teil des Wirtschaftssystems mit Offenheit und
Dynamik in einem anderen verbinden.

Anpassungsfähigkeit und Flexibilität stehen in der wissensgestützten Dienst-
leistungsgesellschaft in Zukunft immer höher im Kurs
Unsere Volkswirtschaften befinden sich im Übergang von der industriellen Pro-
duktion zur wissensorientierten Dienstleistungsgesellschaft der Zukunft. Wir
müssen die Chance ergreifen, die dieser wirtschaftliche Umbruch mit sich
bringt. Sie bietet Europa die Gelegenheit, zu den Vereinigten Staaten aufzu-
schließen. Sie eröffnet Millionen Menschen die Chance, neue Arbeitsplätze zu
finden, neue Fähigkeiten zu erlernen, neue Berufe zu ergreifen, neue Unterneh-
men zu gründen und zu erweitern – kurzum, ihre Hoffnung auf eine bessere
Zukunft zu verwirklichen.
Wir müssen aber auch anerkennen, daß sich die Grundvoraussetzungen für
wirtschaftlichen Erfolg verändert haben. Dienstleistungen kann man nicht auf
Lager halten: Der Kunde nutzt sie, wie und wann er sie braucht – zu unter-
schiedlichen Tageszeiten, auch außerhalb der heute als üblich geltenden
Arbeitszeit. Das rasche Vordringen des Informationszeitalters, insbesondere
das enorme Potential des elektronischen Handels, verspricht, die Art, wie wir
einkaufen, lernen, miteinander kommunizieren und uns entspannen, radikal zu
verändern. Rigidität und Überregulierung sind ein Bremsklotz für die wissens-
orientierte Dienstleistungsgesellschaft der Zukunft. Sie ersticken das Innova-
tionspotential, das zur Schaffung neuen Wachstums und neuer Arbeitsplätze er-
forderlich ist. Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Flexibilität.
Ein aktiver Staat in einer neu verstandenen Rolle hat einen zentralen Beitrag
zur wirtschaftlichen Entwicklung zu leisten.
Flexible Märkte müssen mit einer neu definierten Rolle für einen aktiven Staat
kombiniert werden. Erste Priorität muß die Investition in menschliches und so-
ziales Kapital sein.
Wenn auf Dauer ein hoher Beschäftigungsstand erreicht werden soll, müssen
Arbeitnehmer auf sich verändernde Anforderungen reagieren. Unsere Volks-
wirtschaften leiden an einer erheblichen Diskrepanz zwischen offenen Stellen,
die nicht besetzt werden können (z. B. im Bereich Informations- und Kommuni-
kationstechnologie), und (dem Mangel an) angemessen qualifizierten Bewer-
bern.
Dies bedeutet, daß Bildung keine „einmalige“ Chance sein darf: Zugang und
Nutzung zu Bildungsmöglichkeiten und lebenslanges Lernen stellen die wich-
tigste Form der Sicherheit in der modernen Welt dar. Die Regierungen sind des-
halb dafür verantwortlich, einen Rahmen zu schaffen, der es den einzelnen er-
möglicht, ihre Qualifikationen zu steigern und ihre Fähigkeiten auszuschöpfen.
Dies muß heute höchste Priorität haben.
l Die Ausbildungsqualität auf allen Ebenen der schulischen Bildung und für

jede Art von Begabung muß gesteigert werden: Wo Probleme bei Lesen,
Schreiben und Rechnen bestehen, müssen diese behoben werden, da wir an-
sonsten Menschen zu einem Leben mit niedrigem Einkommen, Unsicherheit
und Arbeitslosigkeit verurteilen.

l Wir wollen, daß jeder Jugendliche die Chance erhält, sich über eine qualifi-
zierte Berufsausbildung den Weg in die Arbeitswelt zu bahnen. Wir müssen
sicherstellen, daß Bildungschancen und eine ausreichende Zahl von Ausbil-
dungsplätzen zur Verfügung gestellt und die Bedürfnisse der lokalen Arbeits-
märkte gedeckt werden.

l Wir müssen die nachschulische Ausbildung reformieren und ihre Qualität
heben und gleichzeitig Bildungs- und Ausbildungsprogramme modernisie-

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7 – Drucksache 15/5339

ren, um Anpassungs- und Beschäftigungsfähigkeit im späteren Leben zu för-
dern. Dem Staat kommt die besondere Aufgabe zu, Anreize zur Bildung von
Sparkapital zu setzen, um die Kosten des lebenslangen Lernens bestreiten zu
können. Auch soll ein breiterer Bildungszugang durch die Förderung des
Fernunterrichts geschaffen werden.

l Wir sollten sicherstellen, daß die Ausbildung eine wesentliche Rolle in unse-
ren aktiven Arbeitsmarktpolitiken für Arbeitslose und die von Arbeitslosig-
keit betroffenen Haushalte spielt.

Eine moderne und effiziente öffentliche Infrastruktur einschließlich einer star-
ken Wissenschaftsbasis ist ein wesentliches Merkmal einer dynamischen
arbeitsplätzeschaffenden Wirtschaft. Es ist wichtig sicherzustellen, daß sich die
öffentlichen Ausgaben in ihrer Zusammensetzung auf diejenigen Tätigkeiten
konzentrieren, die dem Wachstum und der Förderung des notwendigen Struk-
turwandels am besten dienen.
Moderne Politik muß Anwalt des Mittelstands sein
Der Aufbau eines prosperierenden Mittelstands muß eine wichtige Priorität
sein. Hier liegt das größte Potential für neues Wachstum und neue Arbeits-
plätze in der wissensgestützten Gesellschaft der Zukunft.
l Menschen unterschiedlichster Herkunft wollen sich selbständig machen: seit

langem etablierte und neue Unternehmer, Anwälte, Computerexperten,
Ärzte, Handwerker, Unternehmensberater, Kulturschaffende und Sportler.
Ihnen muß man den Spielraum lassen, wirtschaftliche Initiative zu entwi-
ckeln und neue Geschäftsideen zu kreieren. Sie müssen zur Risikobereit-
schaft ermutigt werden. Gleichzeitig muß man ihre Belastungen verringern.
Ihre Märkte und ihr Ehrgeiz dürfen nicht durch Grenzen behindert werden.

l Europas Kapitalmärkte sollten geöffnet werden, damit Unternehmen und
Unternehmer leichten Zugang zu Finanzierungsquellen erhalten. Wir wollen
gemeinsam daran arbeiten sicherzustellen, daß High-Tech-Firmen im
Wachstum denselben Zugang zu den Kapitalmärkten erhalten wie ihre Kon-
kurrenten.

l Wir sollten es dem einzelnen leichtmachen, Unternehmen zu gründen, und
neuen Firmengründungen sollten wir Wege bahnen, indem wir Kleinunter-
nehmen von administrativen Belastungen befreien und ihren Zugang zu
Finanzierungsmöglichkeiten erweitern. Wir sollten es Kleinunternehmen im
besonderen erleichtern, neues Personal einzustellen: Dies bedeutet, die
Regulierungslast zu verringern und die Lohnnebenkosten zu senken.

l Die Verbindungen zwischen Wirtschaft und Wissenschaft sollten gestärkt
werden, um mehr unternehmerische Nebeneffekte („spin offs“) aus der For-
schung und die Förderung der Konzentration („clusters“) neuer High-Tech-
Industrien zu gewährleisten.

Gesunde öffentliche Finanzen sollten zum Gegenstand des Stolzes werden
„Deficit Spending“ kann nicht genutzt werden, um strukturelle Schwächen in
der Ökonomie zu beseitigen, die schnelleres Wachstum und höhere Beschäf-
tigung verhindern. Wir dürfen deshalb exzessive Staatsverschuldung nicht tole-
rieren. Wachsende Verschuldung stellt eine unfaire Belastung kommender
Generationen dar. Sie kann unwillkommene Verteilungseffekte haben. Und
schließlich ist Geld, das zum Schuldendienst eingesetzt werden muß, nicht mehr
für andere Prioritäten verfügbar, einschließlich höherer Investitionen in
Bildung, Ausbildung und Infrastruktur.
4. Eine aktive Arbeitsmarktpolitik
Der Staat muß die Beschäftigung aktiv fördern und nicht nur passiver Versor-
ger der Opfer wirtschaftlichen Versagens sein.

Drucksache 15/5339 – 8 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Menschen, die nie gearbeitet haben oder schon lange arbeitslos sind, verlieren
die Fertigkeiten, die sie brauchen, um auf dem Arbeitsmarkt konkurrieren zu
können. Langzeitarbeitslosigkeit beeinträchtigt die persönlichen Lebenschan-
cen auch in anderer Weise und macht die uneingeschränkte gesellschaftliche
Teilhabe schwieriger.
Ein Sozialversicherungssystem, das die Fähigkeit, Arbeit zu finden, behindert,
muß reformiert werden. Wir wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein
Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln.
Für unsere Gesellschaften besteht der Imperativ der sozialen Gerechtigkeit aus
mehr als der Verteilung von Geld. Unser Ziel ist eine Ausweitung der Chancen-
gleichheit, unabhängig von Geschlecht, Rasse, Alter oder Behinderung – um
sozialen Ausschluß zu bekämpfen und die Gleichheit zwischen Mann und Frau
sicherzustellen.
Die Menschen verlangen zu Recht nach hochwertigen Dienstleistungen und
Solidarität für alle, die Hilfe brauchen – aber auch nach Fairneß gegenüber
denen, die das bezahlen. Alle sozialpolitischen Instrumente müssen Leben-
schancen verbessern, Selbsthilfe anregen, Eigenverantwortung fördern.
Mit diesem Ziel wird in Deutschland das Gesundheitssystem ebenso wie das
System der Alterssicherung umfassend modernisiert, indem beide auf die Ver-
änderungen in der Lebenserwartung und die sich verändernden Erwerbsbio-
graphien eingestellt werden, ohne den Grundsatz der Solidarität dabei preis-
zugeben. Derselbe Gedanke stand im Hintergrund bei der Einführung der
„Stakeholder Pensions“ und der Reform der Erwerbsunfähigkeitszahlungen in
Großbritannien.
Zeiten der Arbeitslosigkeit müssen in einer Wirtschaft, in der es den lebens-
langen Arbeitsplatz nicht mehr gibt, eine Chance für Qualifizierung und per-
sönliche Weiterbildung sein. Teilzeitarbeit und geringfügige Arbeit sind besser
als gar keine Arbeit, denn sie erleichtern den Übergang von Arbeitslosigkeit in
Beschäftigung.
Eine neue Politik mit dem Ziel, arbeitslosen Menschen Arbeitsplätze und Aus-
bildung anzubieten, ist eine Priorität – wir erwarten aber auch, daß jeder die
ihm gebotenen Chancen annimmt.
Es reicht aber nicht, die Menschen mit den Fähigkeiten und Kenntnissen auszu-
rüsten, die sie brauchen, um erwerbstätig zu werden. Das System der Steuern
und Sozialleistungen muß sicherstellen, daß es im Interesse der Menschen liegt
zu arbeiten. Ein gestrafftes und modernisiertes Steuer- und Sozialleistungs-
system ist eine wesentliche Komponente der aktiven, angebotsorientierten Ar-
beitsmarktpolitik. Wir müssen
l dafür sorgen, daß sich Arbeit für den einzelnen und die Familie lohnt. Der

größte Teil des Einkommens muß in den Taschen derer verbleiben, die dafür
gearbeitet haben;

l Arbeitgeber durch den gezielten Einsatz von Subventionen für geringfügige
Beschäftigung und die Verringerung der Steuer- und Sozialabgabenlast auf
geringfügige Beschäftigungsverhältnisse ermutigen, „Einstiegsjobs“ in den
Arbeitsmarkt anzubieten;

l gezielte Programme für Langzeitarbeitslose und andere Benachteiligte auf-
legen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, sich unter Beachtung des Grund-
satzes, daß Rechte gleichzeitig auch Pflichten bedingen, wieder in den
Arbeitsmarkt zu integrieren;

l alle Leistungsempfänger, darunter auch Menschen im arbeitsfähigen Alter,
die Erwerbsunfähigkeitsleistungen beziehen, auf ihre Fähigkeit überprüfen,
ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und die staatlichen Stellen so reformie-

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9 – Drucksache 15/5339

ren, daß sie Arbeitsfähige dabei unterstützen, eine geeignete Beschäftigung
zu finden;

l Unternehmergeist und Geschäftsgründungen als gangbaren Weg aus der
Arbeitslosigkeit unterstützen. Solche Entscheidungen bringen erhebliche
Risiken für diejenigen mit sich, die einen solchen Schritt wagen. Wir müssen
diese Menschen unterstützen, indem wir diese Risiken kalkulierbar machen.

Die neue angebotsorientierte Agenda wird den Strukturwandel beschleunigen.
Sie wird es aber auch leichter machen, mit ihm zu leben und ihn zu gestalten.
Anpassung an den Wandel ist nie einfach, und der Wandel scheint sich schnel-
ler zu vollziehen als je zuvor, nicht zuletzt aufgrund der Auswirkungen neuer
Technologien. Der Wandel vernichtet unweigerlich Arbeitsplätze, aber er
schafft auch neue.
Zwischen dem Verlust von Arbeitsplätzen in einem Sektor und der Schaffung
von neuen Arbeitsplätzen anderswo können jedoch zeitliche Lücken entstehen.
Was immer der langfristige Nutzen für Volkswirtschaften und Lebensstandard
sein mag, in einigen Wirtschaftszweigen und bei einigen Gruppen werden sich
die Kosten vor dem Nutzen einstellen. Daher müssen wir unsere Bemühungen
darauf konzentrieren, Probleme des Übergangs abzufedern. Die unerwünsch-
ten Auswirkungen des Wandels werden um so stärker ausfallen, je länger man
sich diesem Wandel widersetzt, aber es wäre Wunschdenken, sie leugnen zu
wollen.
Je reibungsloser der Arbeitsmarkt und die Produktmärkte funktionieren, desto
leichter wird die Anpassung gelingen. Beschäftigungshindernisse in Sektoren
mit relativ niedriger Produktivität müssen verringert werden, wenn Arbeitneh-
mer, die von den mit jedem Strukturwandel einhergehenden Produktivitätszu-
wächsen verdrängt wurden, anderswo Arbeit finden sollen. Der Arbeitsmarkt
braucht einen Sektor mit niedrigen Löhnen, um gering Qualifizierten Arbeits-
plätze verfügbar zu machen.
5. Politisches Benchmarking in Europa
Die Herausforderung besteht in der Formulierung und Umsetzung einer neuen
Politik in Europa. Wir reden nicht einem einheitlichen europäischen Modell das
Wort, geschweige denn der Umwandlung der EU in einen „Superstaat“. Wir
sind für Europa und für Reformen in Europa.
Die Menschen unterstützen weitere Integrationsschritte, wenn damit ein wirk-
licher „Mehrwert“ einhergeht und sie klar begründet werden können, wie der
Kampf gegen Kriminalität und Umweltzerstörung sowie die Förderung gemein-
samer Ziele in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Aber gleichzeitig bedarf
Europa dringend der Reformen – effizientere und transparentere Institutionen,
eine Reform veralteter Politiken und die energische Bekämpfung von Ver-
schwendung und Betrug.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
nach dem oben dargelegten Konzept zu verfahren und die notwendigen Refor-
men in Deutschland umzusetzen.

Berlin, den 19. April 2005
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.