BT-Drucksache 15/4956

Sinnvolles Nebeneinander von Tourismus und Bundeswehr

Vom 23. Februar 2005


Deutscher Bundestag Drucksache 15/4956
15. Wahlperiode 23. 02. 2005

Antrag
der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Helga Daub, Jörg van Essen,
Dr. Karl Addicks, Ernst Burgbacher, Horst Friedrich (Bayreuth), Birgit Homburger,
Dr. Heinrich L. Kolb, Harald Leibrecht, Hans-Joachim Otto (Frankfurt),
Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele, Dr. Claudia Winterstein,
Dr. Volker Wissing, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Sinnvolles Nebeneinander von Tourismus und Bundeswehr

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Das Aufgabenspektrum der Bundeswehr hat sich gewandelt. Internationale
Einsätze zur Konfliktverhütung, Krisenbewältigung und im Kampf gegen den
internationalen Terrorismus sind die wahrscheinlichsten Aufgaben ihrer Solda-
tinnen und Soldaten. Zurzeit sind knapp 7 000 von ihnen in Auslandsmissionen
engagiert. Diese Einsätze sind gefährlich und können durchaus den Schutz
durch fliegende Verbände der Streitkräfte erforderlich machen. Flugzeugbesat-
zungen können ihre vielfältigen Aufgaben jedoch nur erfüllen, wenn sie bereits
im Frieden den dafür erforderlichen Leistungsstand erwerben und erhalten. Sie
müssen gut ausgebildet sein und konstant ausreichende Übungsmöglichkeiten
haben. Erfahrungen aus Konflikten der jüngsten Geschichte zeigen, dass neben
dem Einsatz von Abstands- und Präzisionswaffen aus mittleren und großen
Höhen in bestimmten Bedrohungsszenarien auch der Einsatz von ungelenkten
Waffen aus niedrigen Höhen nach wie vor erforderlich ist.
Die Verteidigungspolitischen Richtlinien vom Mai 2003 fordern die Fähigkeit
zum kurzfristigen Einsatz im Rahmen der Krisenbewältigung gemeinsam mit
alliierten Partnern. Dies ist nur durch Einsatzorientierung und Kontinuität im
täglichen Übungsbetrieb zu erreichen. Das regelmäßige Üben von Waffen-
einsatzverfahren auf Luft-Boden-Schießplätzen ist ein wesentlicher Bestandteil
einer wirksamen und am Auftrag orientierten Ausbildung von fliegenden Be-
satzungen in Kampfflugzeugen. Neben den Luft-Boden-Schießplätzen und
einigen Truppenübungsplätzen in der Bundesrepublik Deutschland nutzt die
Luftwaffe entsprechende Einrichtungen im europäischen und überseeischen
Ausland. Die Gesamtnutzung der Luft-Boden-Schießplätze und Truppen-
übungsplätze auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland sank in den letz-
ten 10 Jahren um rund 70 %. Heute werden pro Jahr nur noch rund 1 000 Ein-
sätze geflogen, etwa 75 % davon durch Kampfflugzeuge der Bundeswehr.
Für die im Ausland stattfindenden Trainingsflüge werden die Verbände der
Luftwaffe jährlich für ca. 2 bis 3 Monate dorthin verlegt. Zur Erhaltung des
erforderlichen Leistungsstandes für den Einsatz mit einer kurzen Vorwarnzeit
reichen diese Übungsperioden allerdings nicht aus. Zum einen können sie die
kontinuierliche Praxis lediglich ergänzen, aber nicht ersetzen, und andererseits
sind die Sicht- und Witterungsbedingungen in den Wüsten Amerikas nicht von

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allgemein gültiger Natur. Daher ist eine Übungstätigkeit in Deutschland, wenn
auch auf relativ niedrigem Niveau, dauerhaft zwingend erforderlich.
Diese Übungstätigkeit findet derzeit auf den Luft-Boden-Schießplätzen Nord-
horn in Niedersachsen und Siegenburg in Bayern statt. Auf Grund der räum-
lichen Begrenzung dieser zwei Luft-Boden-Schießplätze können hier nur die
Grundlagen des Waffengebrauchs in Form von schulmäßigen Flugverfahren
(„Standardverfahren“) trainiert werden.
Die zusätzliche Möglichkeit, den Einsatz von Bordwaffen gegen Ziele auf dem
Boden unter realistischen Bedingungen zu üben, bietet in Deutschland lediglich
der Luft-Boden-Schießplatz Wittstock. Nur durch die Nutzung dieses Übungs-
platzes kann eine kontinuierliche Ausbildung im gesamten Einsatzspektrum der
Luftwaffe und somit auch im Rahmen von einsatznahen Flugverfahren („takti-
sche Verfahren“) gewährleistet werden. Daher ist es die einleuchtende Absicht
der Bundeswehr, ihre Luftfahrzeugbesatzungen auf dem Luft-Boden-Schieß-
platz Wittstock für Einsätze gegen Bodenziele zu trainieren.
Eine Nutzung des Luft-Boden-Schießplatzes Wittstock durch die Bundeswehr
und ihre Alliierten wäre mit der früheren Nutzung durch die ehemalige Sowjet-
armee in keiner Weise vergleichbar. Die Sowjetarmee hat in ihren letzten Jah-
ren der Nutzung des Platzes ausschließlich mit scharfer Munition aller gängi-
gen Kaliber sowie mit Gefechtsbomben bis zu 500 kg Gewicht geübt. Dem-
gegenüber werden durch die Kampfflugzeuge der Bundeswehr und ihrer Alli-
ierten ausschließlich Übungsbomben mit einem Gewicht von unter 20 kg
Verwendung finden. Auf Grund der einsatznahen Ausbildung bei Tag und
Nacht werden darüber hinaus nur einmalige Zielanflüge durchgeführt werden,
bei denen ebenfalls nur Übungsmunition eingesetzt wird. Übungsbomben und
Übungsmunition explodieren nicht, deshalb entfällt auch die Lärmbelästigung
durch Explosionsknall. Auf dem Boden sollen gleichzeitig Flugabwehreinhei-
ten zum Schutz des Luftraums üben, die überdies als Übungspartner für die
Luftfahrzeugbesatzungen fungieren.
Übungstätigkeiten von Streitkräften rufen immer einen Zielkonflikt mit dem
berechtigten Anspruch der betroffenen Bevölkerung auf Lärm- und Gesund-
heitsschutz sowie mit Belangen des Umweltschutzes und der Regionalentwick-
lung hervor. Stets gilt deshalb das Postulat, die Belastungen für Bevölkerung
und Umwelt so gering wie möglich zu halten. Dieses gilt in besonderem Maße
für den Luft-Boden-Schießplatz Wittstock, da ein naturnaher Tourismus im
Raum um die Kyritz-Ruppiner Heide nicht nur die wesentliche Entwick-
lungschance darstellt, sondern bereits heute Lebensgrundlage vieler kleinerer
Unternehmen ist. Deshalb müssen die Nutzungsbedingungen des Übungs-
platzes Wittstock ganz besonderen Restriktionen unterworfen werden. Diese
müssen in einem sinnvollen Kompromiss sicherstellen, dass einerseits die in
Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern lebenden sowie die dort Erholung
suchenden Menschen nicht über ein zumutbares Maß hinaus durch die Übungs-
tätigkeit der Bundeswehr und ihrer Alliierten beeinträchtigt werden, anderer-
seits aber die Soldatinnen und Soldaten ihre für die Auslandseinsätze über-
lebensnotwendigen Übungen durchführen können.
Wie jahrzehntelange Erfahrungen im Betrieb von Truppenübungsplätzen der
Bundeswehr belegen, werden Natur und Landschaft auch auf dem Übungsplatz
Wittstock durch die militärische Nutzung keinen Schaden nehmen. Wie alle an-
deren Übungsplätze der Bundeswehr wird sich der Übungsplatz Wittstock zu
einem Refugium für bedrohte Tier- und Pflanzenarten entwickeln. Der Bundes-
wehr ist Natur- und Landschaftsschutz unzweifelhaft ein wichtiges Anliegen.
Zusammen mit der Bundesforstverwaltung führt sie regelmäßige Maßnahmen
durch, die weit über die gesetzliche Verpflichtung zum Naturschutz hinaus-
gehen. Mit der „Richtlinie zur nachhaltigen Nutzung von Truppenübungs-
plätzen“ legt sie verbindliche Grundsätze und Verfahren für die umweltverträg-

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liche und nachhaltige Nutzung aller Übungsplätze, also auch des Luft-Boden-
Schießplatz Wittstock, fest. Somit erhält und fördert die Bundeswehr das Leis-
tungsvermögen des Naturhaushaltes in vorbildlicher Weise.
Der ca. 12 000 ha große Übungsplatz ist mit Munitionsteilen und Blindgänger-
munition aus der Zeit vor der Nutzung durch die Bundeswehr stark belastet.
Die Räumung dieser Fundmunition erfordert erhebliche Investitionen. Die der-
zeitigen Schätzungen liegen bei 200 Mio. Euro. In 10 bis 15 Jahren wird die
Bundeswehr den Platz vollständig von früherer Munition geräumt haben. Sie
bedient sich dazu fachkundiger Firmen, die ihre Arbeitskräfte vorwiegend in
der Region gewinnen. Seit 1993 werden die, in erster Linie aus der Zeit der
Nutzung durch Truppen des Warschauer Paktes stammenden, Bodenverunreini-
gungen durch den wehrbiologischen Dienst der Bundeswehr zusammen mit
verantwortlichen Stellen des Landes Brandenburg erfasst, bewertet und unter
gemeinsamer Aufsicht saniert. Soweit Boden und Grundwasser untersucht wur-
den, konnten großflächige Verunreinigungen bisher nicht festgestellt werden.
Zur kontinuierlichen Kontrolle werden 51 Grundwassermessstellen betrieben.
Die Bundeswehr legt richtigerweise großen Wert auf ihre Integration in die
Gesellschaft und auf eine für alle Seiten förderliche zivil-militärische Zusam-
menarbeit. Seit ihrer Aufstellung vor nunmehr 50 Jahren bringt sie der Bevöl-
kerung, die durch ihre notwendigen Übungstätigkeiten betroffenen ist, stets
Verständnis entgegen und bemüht sich, im Rahmen des Möglichen und Ver-
antwortbaren, Anträgen und Wünschen nachzukommen. Dennoch ist es unbe-
stritten, dass die Streitkräfte Übungsplätze benötigen. Soldatinnen und Solda-
ten in Einsätze zu befehlen, ohne ihnen vorher ausreichend Möglichkeiten zur
Ausbildung und zur Übung zur Verfügung gestellt zu haben, wäre moralisch
wie politisch unverantwortlich.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. an der Nutzung des Luft-Boden-Schießplatzes Wittstock festzuhalten, um

einerseits optimale Übungsbedingungen für die Luftfahrzeugbesatzungen zu
garantieren und andererseits die Übungsbelastungen ausgewogen auf Nord-,
Ost- und Süddeutschland zu verteilen;

2. insgesamt pro Kalenderjahr maximal 850 Einsätze auf diesem Übungsplatz
zu erlauben, inklusive der Einsätze der alliierten Partner sowie der Nacht-
einsätze;

3. den Flug- und Übungsbetrieb der Kampfflugzeugbesatzungen jeweils vom
16. Juni bis zum 15. Oktober sowie zwischen Weihnachten und Neujahr und
an gesetzlichen Feiertagen zu untersagen;

4. in den Wochen, in denen der Flug- und Übungsbetrieb erlaubt ist, diesen auf
die Zeit von Montag bis Donnerstag jeweils von 9.00 bis 11.30 Uhr und
14.00 bis 17.00 Uhr zu begrenzen;

5. Nachtflüge ausschließlich jeweils vom 1. Oktober bis zum 31. März zu ge-
nehmigen, ebenfalls beschränkt auf die Wochentage Montag bis Donnerstag,
und zwar jeweils von 30 Minuten nach Sonnenuntergang bis 23.30 Uhr;

6. zu garantieren, dass jeweils vom 1. Mai bis zum15. Juni von den übenden
Kampfflugzeugen über den Gebieten Müritz (See), Müritz-Nationalpark,
Mecklenburger Klein-Seenplatte und um Rheinsberg, sowie für taktische
Einflüge aus östlicher Richtung eine Mindestflughöhe von 600 m eingehal-
ten wird;

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7. die über dem gesamten Gebiet der Bundesrepublik Deutschland geltende
Mindestflughöhe von 300 m grundsätzlich auch im Umfeld des Luft-Bo-
den-Schießplatzes Wittstock außerhalb der Übungsplatzgrenzen anzuwen-
den und lediglich in äußerst streng limitierten Ausnahmefällen gering-
fügige Unterschreitungen zu erlauben;

8. sicherzustellen, dass ausschließlich innerhalb der Übungsplatzgrenzen
Kampfflugzeuge ihre Flughöhe auf bis zu 30 m über den Boden absenken,
um den Anflug auf Ziele realistisch trainieren zu können;

9. allen eventuell möglichen Bestrebungen zur Einrichtung eines zusätzlichen
Tiefstfluggebietes eine Absage zu erteilen;

10. zu untersagen, dass auf dem Luft-Boden-Schießplatz Wittstock scharfe
Bomben abgeworfen, Treibstoff abgelassen oder Luftbetankungsübungen
sowie Panzer- und Artillerieschießen durchgeführt werden.

Berlin, den 22. Februar 2005
Günther Friedrich Nolting
Helga Daub
Jörg van Essen
Dr. Karl Addicks
Ernst Burgbacher
Horst Friedrich (Bayreuth)
Birgit Homburger
Dr. Heinrich L. Kolb
Harald Leibrecht
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Dr. Hermann Otto Solms
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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