BT-Drucksache 15/4933

Gedenken anlässlich des 90. Jahrestages zu Vertreibung und Massakern an den Armeniern am 24. April 1915 - Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen

Vom 22. Februar 2005


Deutscher Bundestag Drucksache 15/4933
15. Wahlperiode 22. 02. 2005

Antrag
der Abgeordneten Dr. Christoph Bergner, Dr. Friedbert Pflüger, Hermann Gröhe,
Hartmut Koschyk, Erwin Marschewski (Recklinghausen), Dr. Wolfgang Bötsch,
Klaus Brähmig, Anke Eymer (Lübeck), Erich G. Fritz, Karl-Theodor Freiherr von
und zu Guttenberg, Holger Haibach, Klaus-Jürgen Hedrich, Joachim Hörster,
Werner Lensing, Claudia Nolte, Ruprecht Polenz, Dr. Klaus Rose, Bernd
Schmidbauer, Dr. Andreas Schockenhoff, Erika Steinbach, Dr. Hans-Peter Uhl
und der Fraktion der CDU/CSU

Gedenken anlässlich des 90. Jahrestages des Auftakts zu Vertreibungen
und Massakern an den Armeniern am 24. April 1915 – Deutschland muss zur
Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Vor 90 Jahren, am 24. April 1915, wurde auf Befehl der das Osmanische Reich
lenkenden jungtürkischen Bewegung die armenische politische und kulturelle
Elite Istanbuls verhaftet und ins Landesinnere verschleppt, wo deren größter
Teil ermordet wurde. Dieses Geschehen markierte den Beginn von Vertreibun-
gen und Massakern an den armenischen Untertanen des Osmanischen Reiches,
die im Schatten der Ereignisse des 1. Weltkrieges stattfanden. Den nachfolgen-
den Deportationen und Massenmorden fielen nach unabhängigen Berechnungen
zwischen 1,2 und 1,5 Millionen Armenier zum Opfer. Die rekrutierten arme-
nischen Soldaten der osmanischen Armee wurden zu Beginn des Kriegseintritts
des Osmanischen Reichs in Arbeitsbataillone zusammengefasst und mehrheit-
lich ermordet, die Frauen, Kinder und Alten ab Frühjahr 1915 auf Todesmär-
sche durch die syrische Wüste geschickt. Eine der gewollten Folgen dieser De-
portationen war, wie einer der angesehensten Historiker des 20. Jahrhunderts,
Arnold J. Toynbee, 1967 in seinem Buch „Acquaintances“ im Rückblick fest-
stellte, „so viele Leben wie nur möglich en route zu vernichten.“ Wer von den
Verschleppten noch nicht unterwegs ermordet worden oder umgekommen war,
den erreichte dieses Schicksal spätestens in den unmenschlichen Lagern in der
Wüste um Deir ez Zôr. Massaker wurden auch von eigens dafür aufgestellten
Spezialeinheiten ausgeführt. Widerstand ranghoher türkischer Beamter gegen
dieses Vorgehen wie auch Kritik aus dem osmanischen Parlament begegnete
das jungtürkische Regime mit brutaler Ablehnung. In den Gebieten, aus denen
die christlichen Armenier vertrieben worden waren, siedelte die osmanische
Regierung als loyal geltende muslimische Untertanen an, zumeist Flüchtlinge
der Balkankriege. Ebenso waren Angehörige anderer christlicher Volksgrup-
pen, insbesondere aramäisch/assyrische und chaldäische Christen, aber auch
bestimmte muslimische Minderheiten von Deportationen und Massakern be-
troffen.

Drucksache 15/4933 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Die Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reichs, die Republik Türkei, bestrei-
tet bis heute, dass diesen Vorgängen eine Planmäßigkeit zugrunde gelegen hätte
bzw. dass die Todesfälle während der Umsiedlungstrecks und die verübten
Massaker von der osmanischen Regierung gewollt waren. Diese ablehnende
Haltung steht im Widerspruch zu der Idee der Versöhnung, die die Werte-
gemeinschaft der Europäischen Union leitet, deren Mitgliedschaft die Türkei
anstrebt.
Der in diese Vorgänge neben dem Osmanischen Reich am tiefsten involvierte
Staat war dessen militärischer Hauptverbündeter während des Ersten Welt-
kriegs, das Deutsche Reich. Sowohl die politische als auch die militärische
Führung des Deutschen Reichs war von Anfang an über die Verfolgung und Er-
mordung der Armenier genauestens informiert. Die Akten des Auswärtigen
Amts, die auf Berichten der deutschen Botschafter und Konsuln im Osmani-
schen Reich beruhen, dokumentieren die planmäßige Durchführung der Massa-
ker und Vertreibungen. Trotz dringender Eingaben vieler deutscher Persönlich-
keiten aus Wissenschaft, Politik und Kirchen an den Reichskanzler unterließ es
die deutsche Reichsleitung jedoch, auf ihren osmanischen Verbündeten mit an-
deren Mitteln als lediglich mit diplomatischen Noten einzuwirken; diese waren
mehr zur Entkräftung der Anklagen, die seitens der westlichen Entente gegen
Deutschland erhoben worden, als zur Beeinflussung des eigenen türkischen
Bündnispartners gedacht.
Als der evangelische Theologe Dr. Johannes Lepsius am 7. Oktober 1915 in der
Pressevereinigung im Deutschen Reichstag die Ergebnisse seiner im Juli/August
1915 in Istanbul durchgeführten Recherchen vortrug, wurde das gesamte
Armenier-Thema von der deutschen Reichsregierung gegen die Intention von
Lepsius unter Zensur gestellt. Ebenso wurde von der deutschen Militärzensur
bereits am 7. August 1916 die einen Monat zuvor in Potsdam als Buch pub-
lizierte Dokumentation von Johannes Lepsius’ „Bericht über die Lage des Ar-
menischen Volkes in der Türkei“ verboten und beschlagnahmt. Die von Lepsius
direkt an die Abgeordneten des Deutschen Reichstags gesandten Exemplare
dieser Dokumentation wurden durch die Behörden abgefangen und den Abge-
ordneten erst nach dem Krieg 1919 ausgehändigt.
Es zeichnet die Staaten der Europäischen Union aus, dass sie sich zu ihrer kolo-
nialen Vergangenheit und den dunklen Seiten ihrer nationalen Geschichte be-
kennen. Noch immer sind aber Historiker in der Türkei bei der Bearbeitung der
Geschichte der Vertreibung und Ermordung von Armeniern 1915/1916 nicht
frei. Nicht nur wegen der Publikation von historischen Untersuchungen zu den
Armenier-Massakern, sondern auch aufgrund der Edition von Romanen wie
z. B. dem weltbekannten Werk von Franz Werfel „Die vierzig Tage des Musa
Dagh“, das das Schicksal der Armenier behandelt, können türkische Wissen-
schaftler und Herausgeber in der Türkei strafrechtlich verfolgt werden. Solange
das Eingeständnis einer türkisch/osmanisch-staatlichen Schuld bzw. einer plan-
mäßig durchgeführten Absicht hinter den Vertreibungen und Massakern an den
Armeniern in der Türkei oder auch nur die Erwähnung der Verbrechen an den
Armeniern unter Strafe steht, kann also nicht einmal die Grundvoraussetzung
einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung erfüllt werden.
Die Auseinandersetzung mit diesen historischen Ereignissen hat aber auch
unmittelbare Bedeutung für die Gegenwart. Heute ist die Normalisierung der
Beziehungen zwischen der Republik Türkei und der Republik Armenien, die
wesentlich unter der Last einer unbewältigten Vergangenheit leiden, für die
Zukunft der ganzen Region von besonderem Interesse. So könnte ein Ende der
Grenzblockade durch die Türkei die Isolierung Armeniens aufheben. Das Ende
der Isolierung Armeniens würde neue Möglichkeiten der friedlichen Lösung
des Karabach-Konfliktes zwischen Armenien und Aserbaidschan bieten.
Deutschland kommt im Rahmen der Nachbarschaftsinitiative der EU und auf-

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/4933

grund seiner problematischen Rolle in den deutsch-türkisch-armenischen Be-
ziehungen Anfang des 20. Jahrhunderts eine besondere Verpflichtung zu, sich
für eine solche Normalisierung und Verbesserung der Lage zwischen Armenien
und der Türkei einzusetzen. Es liegt im Interesse der EU, durch die Öffnung des
Landweges durch die Türkei die wirtschaftliche Entwicklung Armeniens und
die Stabilität in der Region zu fördern.
Der Deutsche Bundestag verneigt sich im Gedächtnis der Opfer von staatlicher
Gewalt, Mord und Vertreibung unter den Armeniern. Er bedauert die zweifel-
hafte Rolle des Deutschen Reiches, das angesichts der Informationen über or-
ganisierte Vernichtung von Armeniern im Osmanischen Reich, die dem Aus-
wärtigen Amt vorlagen, nicht einmal versucht hat, einzugreifen. Der Deutsche
Bundestag ehrt mit diesem Gedächtnis auch das Werk all der Deutschen, die
sich unter schwierigen Umständen und gegen den Widerstand ihrer Regierung
in Wort und Tat für die Rettung von armenischen Frauen, Männern und Kindern
eingesetzt haben. Besonders das Werk von Johannes Lepsius, der energisch und
wirksam für das Überleben des armenischen Volkes gekämpft hat, soll der
Verdrängung und dem Vergessen entrissen und im Sinne der Verbesserung der
Beziehungen zwischen dem armenischen, dem deutschen und dem türkischen
Volk gepflegt und erhalten werden.
Heute leben rund 4,5 Millionen Armenier außerhalb der Republik Armenien,
davon 40 000 Armenier allein in Deutschland. Seit den 70er Jahren haben sich
vor allem die beiden großen Kirchen in Deutschland für eine Integration der
Christen aus der Türkei eingesetzt. Die hier entstandenen armenischen Gemein-
den bieten auch die Möglichkeiten der Begegnung und des Gedenkens. Gerade
angesichts der großen Anzahl der in Deutschland lebenden Muslime aus der
Türkei ist es eine wichtige Aufgabe, sich die Geschichte zu vergegenwärtigen
und dadurch auch zu einer Aussöhnung beizutragen.
Als Deutsche sind wir in einer besonderen Verantwortung und appellieren
daher an Türken und Armenier, über die Gräben der Vergangenheit nach Wegen
der Versöhnung und Verständigung zu suchen.
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf,
– dafür einzutreten, dass sich die Türkei mit ihrer Rolle gegenüber dem arme-

nischen Volk in Geschichte und Gegenwart vorbehaltlos auseinandersetzt;
– sich für die Gewährung der Meinungsfreiheit in der Türkei, insbesondere

auch bezüglich der Massaker an den Armeniern, einzusetzen;
– darauf hinzuwirken, dass die Türkei die zwischenstaatlichen Beziehungen

zu Armenien umgehend normalisiert;
– einen eigenen Beitrag dafür zu leisten, dass zwischen Türken und Armeniern

ein Ausgleich durch Versöhnen und Verzeihen historischer Schuld erreicht
wird;

– einen Beitrag dazu zu leisten, dass die Aufarbeitung der Vertreibungs-
geschichte der Armenier als Teil der Aufarbeitung der Geschichte ethnischer
Konflikte im 20. Jahrhundert auch in Deutschland erfolgt.

Berlin, den 22. Februar 2005
Dr. Angela Merkel, Michael Glos und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.