BT-Drucksache 15/4716

Entwurf eines Gesetzes zur Ausweitung der Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union

Vom 25. Januar 2005


Deutscher Bundestag Drucksache 15/4716
15. Wahlperiode 25. 01. 2005

Gesetzentwurf
der Abgeordneten Peter Hintze, Dr. Wolfgang Schäuble, Dr. Gerd Müller,
Peter Altmaier, Thomas Silberhorn, Veronika Bellmann, Kurt-Dieter Grill,
Olav Gutting, Gunther Krichbaum, Patricia Lips, Dr. Georg Nüßlein, Albert
Rupprecht (Weiden), Michael Stübgen, Matthias Wissmann, Norbert Barthle,
Klaus Brähmig, Alexander Dobrindt, Ingrid Fischbach, Roland Gewalt, Josef
Göppel, Michael Grosse-Brömer, Ursula Heinen, Michael Hennrich, Ernst Hinsken,
Klaus Hofbauer, Bernhard Kaster, Volker Kauder, Michael Kretschmer, Barbara
Lanzinger, Michaela Noll, Franz Obermeier, Thomas Rachel, Dr. Andreas
Schockenhoff, Matthias Sehling, Marco Wanderwitz, Annette Widmann-Mauz,
Dr. Angela Merkel, Michael Glos und der Fraktion der CDU/CSU

Entwurf eines Gesetzes zur Ausweitung der Mitwirkungsrechte
des Deutschen Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union

A. Problem
Der Vertrag über eine Verfassung für Europa enthält Fortschritte zur Weiterent-
wicklung der europäischen Integration, die die EU handlungsfähiger, transpa-
renter und demokratischer machen. Der Verfassungsvertrag stärkt die Stellung
der nationalen Parlamente gegenüber der Europäischen Union und überträgt zu-
gleich weitere Zuständigkeiten von den Mitgliedstaaten auf die europäische
Ebene.
Die mit fortschreitender Integration vom Deutschen Bundestag und vom Bun-
desrat auf die Europäische Union übertragenen Gesetzgebungsbefugnisse wer-
den dort für Deutschland im Wesentlichen durch die Bundesregierung im Rat
wahrgenommen. Zuständigkeitsübertragungen auf die EU haben eine Verschie-
bung des innerstaatlichen Gleichgewichtes zwischen Bundesregierung auf der
einen Seite und Deutschem Bundestag und Bundesrat bzw. den Ländern auf der
anderen Seite zur Folge. Die Bundesregierung ist dem Deutschen Bundestag
parlamentarisch verantwortlich. Diese Kontrollfunktion kann aber nur dann
wirksam wahrgenommen werden, wenn die Beteiligungs- insbesondere die Un-
terrichtungsrechte des Deutschen Bundestages in Europaangelegenheiten aus-
reichend entwickelt sind.

B. Lösung
Der Deutsche Bundestag hält es deshalb für erforderlich, als Folge der im Ver-
fassungsvertrag vorgesehenen Kompetenzübertragungen auf die EU seine Mit-
wirkungsrechte in Angelegenheiten der Europäischen Union weiter zu entwi-
ckeln. Dazu dient dieser Gesetzentwurf.

Drucksache 15/4716 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

C. Alternativen
Beibehaltung der geltenden Rechtslage.

D. Kosten
Durch die Gesetzesänderung entstehen keine zusätzlichen Kosten.

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/4716

Entwurf eines Gesetzes zur Ausweitung der Mitwirkungsrechte
des Deutschen Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union

Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen:

Artikel 1
Gesetz über die Zusammenarbeit

von Bundesregierung und Deutschem Bundestag
in Angelegenheiten der Europäischen Union

§ 1
In Angelegenheiten der Europäischen Union wirkt der

Deutsche Bundestag an der Willensbildung des Bundes mit.
§ 2

Der Deutsche Bundestag bestellt einen Ausschuss für die
Angelegenheiten der Europäischen Union. Der Deutsche
Bundestag kann den Ausschuss ermächtigen, für ihn
Stellungnahmen abzugeben.

§ 3
(1) Die Bundesregierung unterrichtet den Deutschen Bun-

destag umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt über
alle Vorhaben im Rahmen der Europäischen Union, die für
die Bundesrepublik Deutschland von Interesse sein könnten.

(2) Vorhaben in diesem Sinne sind alle Maßnahmen,
durch die Rechtsetzungsakte der Europäischen Union vorge-
schlagen oder vorbereitet werden sowie Maßnahmen, wel-
che außerhalb des Rechtssetzungsverfahrens zu Festlegun-
gen führen, die sich auf die Bundesrepublik Deutschland
auswirken können.

§ 4
(1) Die Bundesregierung übersendet demDeutschen Bun-

destag insbesondere die Entwürfe von Rechtsetzungsakten
der Europäischen Union und unterrichtet den Deutschen
Bundestag zugleich über den wesentlichen Inhalt und die
Zielsetzung, über das beim Erlass des geplanten Rechtset-
zungsakts innerhalb der Europäischen Union anzuwendende
Verfahren und den voraussichtlichen Zeitpunkt der Befas-
sung des Rates, insbesondere den voraussichtlichen Zeit-
punkt der Beschlussfassung im Rat. Die Bundesregierung
übermittelt dem Deutschen Bundestag die Angaben der
Kommission und derMitgliedstaaten, insbesondere der Bun-
desregierung, im Rahmen der Gesetzesfolgenabschätzung zu
den Folgen eines EU-Vorhabens in rechtlicher, wirtschaft-
licher und finanzieller Sicht. Sie unterrichtet den Deutschen
Bundestag unverzüglich über ihre Willensbildung, über den
Verlauf der Beratungen, über die Stellungnahmen des Euro-
päischen Parlaments und der Europäischen Kommission,
über die Stellungnahmen der anderen Mitgliedstaaten sowie
über die getroffenen Entscheidungen.

(2) Die Bundesregierung übermittelt demDeutschen Bun-
destag Entwürfe von Europäischen Gesetzgebungsakten,
welche durch die Kommission der Europäischen Union ge-
mäß Artikel 2 des Protokolls über die Rolle der nationalen
Parlamente in der Europäischen Union dem Deutschen Bun-

destag zugeleitet werden, zu Beginn der Sechs-Wochen-Frist
gemäß Artikel 6 des Protokolls über die Anwendung der
Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit
mit einer umfassenden Bewertung eines EU-Vorschlags.
Diese Bewertung umfasst auch die Prüfung der Zustän-
digkeit der EU zum Erlass des vorgeschlagenen Gesetz-
gebungsaktes sowie die Beachtung des Subsidiaritäts- und
Verhältnismäßigkeitsprinzips. Hierzu sind im Rahmen einer
umfassenden Abschätzung der Folgen für Deutschland in
rechtlicher, wirtschaftlicher und finanzieller Sicht Aussagen
zu Regelungsinhalt, Alternativen, Kosten, Verwaltungsauf-
wand und Umsetzungsbedarf zu machen.

§ 5
(1) Die Bundesregierung gibt vor ihrer Zustimmung zu

Rechtsetzungsakten der EuropäischenUnion demDeutschen
Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Frist zur
Stellungnahme muss so bemessen sein, dass der Deutsche
Bundestag ausreichend Gelegenheit hat, sich mit der Vorlage
zu befassen.

(2) Die Bundesregierung darf von der Stellungnahme des
Deutschen Bundestages nur abweichen, wenn eine maßgeb-
lich zu berücksichtigende Stellungnahme des Bundesrates
oder wenn zwingende außen- und integrationspolitische
Gründe dies erfordern. Die Bundesregierung kündigt eine
Abweichung von der Stellungnahme des Deutschen Bundes-
tages zuvor an und legt die Gründe dafür dar.

(3) Die Bundesregierung unterrichtet den Deutschen Bun-
destag unverzüglich nach der Beschlussfassung im Rat über
die Durchsetzung seiner Stellungnahmen.

(4) Beabsichtigt der Europäische Rat, einen Beschluss zum
Übergang von der Einstimmigkeit zu Mehrheitsentscheidun-
gen gemäß Artikel I-55 Abs. 4 oder gemäß Artikel IV-444
Abs. 1 des Vertrags vom 29. Oktober 2004 über eine Verfas-
sung für Europa zu fassen, stellt die Bundesregierung recht-
zeitig vor dem geplanten Beschluss des Europäischen Rates
das Einvernehmen mit dem Deutschen Bundestag her. Erteilt
der Deutsche Bundestag sein Einvernehmen nicht, stimmt
die Bundesregierung im Europäischen Rat gegen einen
Beschlussvorschlag gemäß Satz 1. Artikel 23 Abs. 1 Satz 3
in Verbindung mit Artikel 79 Abs. 2 des Grundgesetzes gilt
entsprechend.

(5) Vor der Zustimmung im Europäischen Rat zu Be-
schlüssen zur Aufnahme von Verhandlungen zur Vorberei-
tung von Beitritten zur Europäischen Union sowie zur Auf-
nahme von Verhandlungen zur Änderung der vertraglichen
Grundlagen der Europäischen Union stellt die Bundesregie-
rung das Einvernehmen mit dem Deutschen Bundestag her.
Erteilt der Deutsche Bundestag sein Einvernehmen nicht,
lehnt die Bundesregierung Beschlüsse gemäß Satz 1 im Eu-
ropäischen Rat ab.

§ 6
Vor der Zustimmung zu Vorhaben, die auf Artikel I-18 des

Vertrags vom 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für

Drucksache 15/4716 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Europa gestützt werden, stellt die Bundesregierung das Ein-
vernehmen mit dem Deutschen Bundestag her. Erteilt der
Deutsche Bundestag sein Einvernehmen nicht, so lehnt die
Bundesregierung das Vorhaben im Rat ab.

§ 7
(1) Über die Erhebung einer Klage des Deutschen Bun-

destages gemäß Artikel 8 des Protokolls über die Anwen-
dung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnis-
mäßigkeit beschließt der Deutsche Bundestag auf Antrag
mindestens eines Drittels seiner Mitglieder.

(2) Die Bundesregierung übermittelt eine Klage namens
des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 8 des Protokolls
über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und
der Verhältnismäßigkeit unverzüglich und ohne inhaltliche
Prüfung an den Gerichtshof der Europäischen Union.

(3) Bei Klagen gemäß Absatz 1 übernimmt der Deutsche
Bundestag die Prozessführung vor dem Europäischen
Gerichtshof.

§ 8
Der Deutsche Bundestag erhält das Recht, in der Ständi-

gen Vertretung Deutschlands bei der Europäischen Union
vertreten zu sein.

§ 9
Einzelheiten der Unterrichtung und Beteiligung des Deut-

schen Bundestages nach diesemGesetz bleiben einer Verein-
barung zwischen der Bundesregierung und dem Deutschen
Bundestag vorbehalten.

Artikel 2
Vereinbarung zwischen der Bundesregierung

und dem Deutschen Bundestag
über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten
der Europäischen Union in Ausführung des § 9

des Gesetzes über die Zusammenarbeit
von Bundesregierung und Deutschem Bundestag
in Angelegenheiten der Europäischen Union

I.
(1) Die Bundesregierung unterrichtet den Deutschen

Bundestag laufend und in der Regel schriftlich über alle
Vorhaben im Rahmen der Europäischen Union.

(2) Darüber hinaus unterrichtet das Bundesministerium
der Finanzen den Deutschen Bundestag gemäß den §§ 3 und 4
des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregie-
rung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union insbesondere auch durch Übersendung
von der Bundesregierung vorliegenden.
a) Dokumenten

– der Kommission und ihrer Dienststellen, soweit sie an
den Rat gerichtet oder der Bundesregierung auf sons-
tige Weise offiziell zugänglich gemacht worden sind;

– des Europäischen Rates, des Rates, der informellen
Ministertreffen und der Ratsgremien.

b) Berichten und Mitteilungen von Organen der Europäi-
schen Union über Sitzungen
– des Europäischen Rates, des Rates und der informel-

len Ministertreffen;
– des Ausschusses der Ständigen Vertreter und sonsti-

ger Ausschüsse oder Arbeitsgruppen des Rates;
– der Beratungsgremien bei der Kommission.

c) Berichten der Ständigen Vertretung über
– Sitzungen des Rates und der Ratsgruppen1), der infor-

mellen Ministertreffen und des Ausschusses der Stän-
digen Vertreter;

– Sitzungen des Europäischen Parlaments und seiner
Ausschüsse;

– Entscheidungen der Kommission,
wobei der Deutsche Bundestag dafür Sorge trägt, dass
diese Berichte nur an die Mitglieder des Bundestages und
einen begrenzten Personenkreis in der Verwaltung des
Deutschen Bundestages weitergeleitet werden.

d) Dokumenten und Informationen über förmliche Ini-
tiativen, Stellungnahmen und Erläuterungen der Bundes-
regierung für Organe der Europäischen Union2).

II.
Die Unterrichtung bezieht sich auch auf Vorhaben, die auf

Beschlüsse der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen
derMitgliedstaaten gerichtet sind. ImÜbrigen oder ergänzend
erfolgt die Unterrichtung mündlich in ständigen Kontakten.

III.
Die Bundesregierung übersendet die Unterlagen dem

Deutschen Bundestag zum frühestmöglichen Zeitpunkt und
auf dem kürzesten Weg.

IV.
Die Ministerien des Bundes eröffnen dem Deutschen

Bundestag im Rahmen der geltenden Datenschutzvorschrif-
ten Zugang zu ressortübergreifenden Datenbanken zu Vor-
haben im Rahmen der Europäischen Union. Die Bundes-
regierung wird sich bemühen, dass EG-Datenbanken, die
den Regierungen der Mitgliedstaaten zugänglich sind, auch
dem Deutschen Bundestag zugänglich gemacht werden. Ein-
zelheiten müssen gesondert geregelt werden.

V.
(1) Über die nicht unter den Nummern I und II fallenden

Rechtsakte und über sonstige Beschlüsse der Kommission
von grundsätzlicher Bedeutung oder erheblicher Auswir-
kung auf die Interessen der Bundesrepublik Deutschland
unterrichtet das federführende Ressort den Ausschuss des
1) Darunter fallen auch Berichte über Sitzungen der Freunde der Präsi-

dentschaft sowie der Antici-Gruppe.
2) Die Unterrichtung bezieht sich auch auf die Sammelweisung für den

Ausschuss der Ständigen Vertreter sowie auf förmliche Initiativen der
Regierungen anderer Mitgliedstaaten gegenüber Rat und Kommis-
sion, die der Bundesregierung offiziell zugänglich gemacht wurden
und die für die Meinungsbildung der des Deutschen Bundestages von
Bedeutung sind.

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 5 – Drucksache 15/4716

Deutschen Bundestages für die Angelegenheiten der Euro-
päischen Union (nachstehend EU-Ausschuss) und den feder-
führenden Ausschuss.

(2) Darüber hinaus erwartet der EU-Ausschuss des
Deutschen Bundestages, dass in diese Unterrichtung auch
Informationen über eigene Initiativen, Initiativen aus den
Bundesländern und des Bundesrates sowie Initiativen von
Mitgliedstaaten, die für die Willensbildung des befassten
Organs der Europäischen Union entscheidungsfördernd
sind, einbezogen werden.

VI.
Die Bundesregierung hat eine geeignete Vertretung in

den Ausschüssen, insbesondere im EU-Ausschuss, sicher-
zustellen.

Artikel 3
Änderung des Richterwahlgesetzes

Das Richterwahlgesetz vom 25. August 1950, zuletzt ge-
ändert durch …, wird wie folgt geändert:
1. § 1 Abs. 3 wird wie folgt gefasst:

„(3) Die deutschen Mitglieder des Gerichtshofs der
Europäischen Union werden von der Bundesregierung im
Einvernehmen mit dem Richterwahlausschuss berufen
und vom Bundespräsidenten ernannt.“

2. § 10 Abs. 1 wird wie folgt gefasst:
„(1) Der zuständige Bundesminister und die Mitglie-

der des Richterwahlausschusses können vorschlagen,
wer zum Bundesrichter zu berufen ist. Die Bundesregie-
rung und die Mitglieder des Richterwahlausschusses
können vorschlagen, wer als deutsches Mitglied des Ge-
richtshofs der Europäischen Union zu berufen ist.“

Artikel 4
Inkrafttreten, Außerkrafttreten

Dieses Gesetz tritt mit dem Tage des Inkrafttretens des
Vertrags über eine Verfassung der Europäischen Union in
Kraft. Dieser Tag ist im Bundesgesetzblatt bekanntzugeben.
Gleichzeitig tritt das Gesetz über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegen-
heiten der Europäischen Union vom 12. März 1993 (BGBl. I
S. 311) außer Kraft.

Berlin, den 25. Januar 2005
Peter Hintze
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Gerd Müller
Peter Altmaier
Thomas Silberhorn
Veronika Bellmann
Kurt-Dieter Grill
Olav Gutting
Gunther Krichbaum
Patricia Lips
Dr. Georg Nüßlein
Albert Rupprecht (Weiden)
Michael Stübgen
Matthias Wissmann
Norbert Barthle
Klaus Brähmig
Alexander Dobrindt
Ingrid Fischbach

Roland Gewalt
Josef Göppel
Michael Grosse-Brömer
Ursula Heinen
Michael Hennrich
Ernst Hinsken
Klaus Hofbauer
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Michael Kretschmer
Barbara Lanzinger
Michaela Noll
Franz Obermeier
Thomas Rachel
Dr. Andreas Schockenhoff
Matthias Sehling
Marco Wanderwitz
Annette Widmann-Mauz
Dr. Angela Merkel, Michael Glos und Fraktion

Drucksache 15/4716 – 6 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Begründung

A. Allgemeines
Der Vertrag über eine Verfassung für Europa enthält Fort-
schritte zur Weiterentwicklung der europäischen Integra-
tion, die die EU handlungsfähiger, transparenter und demo-
kratischer machen. Der Verfassungsvertrag stärkt die Stel-
lung der nationalen Parlamente gegenüber der Europäischen
Union und überträgt zugleich weitere Zuständigkeiten von
den Mitgliedstaaten auf die europäische Ebene.
Die mit fortschreitender Integration vom Deutschen
Bundestag und vom Bundesrat auf die Europäische Union
übertragenen Gesetzgebungsbefugnisse werden dort für
Deutschland im Wesentlichen durch die Bundesregierung
im Rat wahrgenommen. Zuständigkeitsübertragungen auf
die EU haben eine Verschiebung des innerstaatlichen
Gleichgewichtes zwischen Bundesregierung auf der einen
Seite und Deutschem Bundestag und Bundesrat bzw. den
Ländern auf der anderen Seite zur Folge. Die Bundesregie-
rung ist dem Deutschen Bundestag parlamentarisch verant-
wortlich. Diese Kontrollfunktion kann aber nur dann wirk-
sam wahrgenommen werden, wenn die Beteiligungs- insbe-
sondere die Unterrichtungsrechte des Deutschen Bundes-
tages in Europaangelegenheiten ausreichend entwickelt sind.
Die Praxis hat gezeigt, dass hier Verbesserungen notwendig
sind. Das Inkrafttreten des Vertrags über eine Verfassung für
Europa bietet dazu die Gelegenheit. Dabei geht es nicht nur
um eine Präzisierung der Informationspflichten der Bundes-
regierung gegenüber dem Deutschen Bundestag, sondern
auch um eine Weiterentwicklung der Mitwirkungsrechte des
Deutschen Bundestages. Diese reichen von einem grund-
sätzlichen Weisungsrecht des Deutschen Bundestages ge-
genüber der Bundesregierung vor ihrer Zustimmung zu
Rechtsetzungsakten bis hin zu einem konkreten Zustim-
mungserfordernis in politisch wichtigen Entscheidungen auf
EU-Ebene. Einer besseren Mitwirkung dient auch das Recht
des Deutschen Bundestages, in der Ständigen Vertretung
Deutschlands bei der Europäischen Union vertreten zu sein.
Des Weiteren wird das Verfahren in Bezug auf eine Klageer-
hebung des Deutschen Bundestages bei Verstößen gegen
das dem Verfassungsvertrag beigefügten Protokoll über die
Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Ver-
hältnismäßigkeit festgelegt. Schließlich wird das Verfahren
zur Entsendung der deutschen Mitglieder zum Gerichtshof
der Europäischen Union (EuGH) dem zur Ernennung der
Richter der obersten Gerichtshöfe des Bundes angepasst.

B. Einzelbegründung
Zu Artikel 1 (Gesetz über die Zusammenarbeit von

Bundesregierung und Deutschem
Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union

Die §§ 1 und 2 des Zusammenarbeitsgesetzes bleiben
unverändert.
§ 3 wird um einen neuen Absatz 2 erweitert, der den Begriff
des Vorhabens genauer definiert. Damit soll klargestellt
werden, dass auch die Vorbereitung von Rechtsetzungsakten

und auch solche Maßnahmen erfasst werden, die außerhalb
eines formalen Rechtsetzungsverfahrens (z. B. im Rahmen
der offenen Koordinierung) zu Festlegungen mit Auswir-
kungen für Deutschland führen können.
In § 4 wird zunächst die Terminologie dem Wortlaut des
Verfassungsvertrags angepasst. Darüber hinaus wird die
Bundesregierung aufgefordert, im Rahmen der Gesetzesfol-
genabschätzung bei EU-Vorhaben eigene Angaben, solche
der Kommission und der anderen Mitgliedstaaten zu den
Folgen in rechtlicher, wirtschaftlicher und finanzieller Sicht
zu übermitteln.
Weiterhin wird die Bundesregierung im Rahmen des durch
den Verfassungsvertrag eingeführten Frühwarnmechanis-
mus zur Subsidiaritäts-/Verhältnismäßigkeitsprüfung ver-
pflichtet, eine umfassende Bewertung eines EU-Vorschlags
vorzulegen, der auch die Prüfung der Zuständigkeit der EU
zum Erlass der Maßnahme und die Frage der Verhältnismä-
ßigkeit umfasst.
§ 5 regelt in den Absätzen 2 und 3 die Möglichkeit einer ver-
bindlichen Stellungnahme des Deutschen Bundestages ge-
genüber der Bundesregierung, bevor diese Rechtsetzungs-
akten der Europäischen Union zustimmt, im Gegensatz zu
der bislang normierten Pflicht zur bloßen Berücksichtigung
der Stellungnahmen. Hiermit wird die Einflussnahme des
Deutschen Bundestages auf das Verhalten der Bundesregie-
rung imRat gestärkt, so dass die demokratische Legitimation
des Regierungshandelns erhöht wird. Allerdings kann die
Bundesregierung bei einer maßgeblich zu berücksichtigen-
den Stellungnahme des Bundesrates oder bei zwingenden
außen- und integrationspolitischen Gründen davon abwei-
chen, so dass das erforderliche Maß an Verhandlungsflexibi-
lität gewahrt wird.
Die Bundesregierung muss eine Abweichung von der Stel-
lungnahme des Deutschen Bundestages zuvor ankündigen
und die Gründe für ein Abweichen von der Stellungnahme
des Deutschen Bundestages zuvor darlegen. Sie muss darü-
ber hinaus über die Durchsetzung der Stellungnahmen des
Deutschen Bundestages nach Beschlussfassung im Rat un-
verzüglich berichten. Nur so erlangen die Stellungnahmen
des Deutschen Bundestages die notwendige Durchsetzungs-
kraft.
In § 5 Abs. 4 wird das Verfahren zwischen Deutschem Bun-
destag und Bundesregierung beim Übergang von der Ein-
stimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit gemäß Artikel I-55
Abs. 4 (mehrjähriger Finanzrahmen) und Artikel IV-444
Abs. 1 (vereinfachtes Änderungsverfahren) des Verfassungs-
vertrages geregelt. Falls die Bundesregierung beabsichtigt,
einem entsprechenden Beschlussvorschlag des Europä-
ischen Rates zuzustimmen, muss sie die vorherige Zustim-
mung des Deutschen Bundestages einholen, der mit Zwei-
drittelmehrheit beschließt. Dieses Verfahren ist notwendig,
weil mit dem Übergang zur qualifizierten Mehrheit die
Einwirkungsmöglichkeiten der Bundesregierung im Rat
verändert und das Gewicht Deutschlands zu Gunsten einer
besseren Handlungsfähigkeit der EU abnimmt. Da dies
eine politisch sehr wichtige Entscheidung ist, muss sie von

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7 – Drucksache 15/4716

einer Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag getra-
gen werden.
In § 5 Abs. 5 wird die Entscheidung der Bundesregierung in
zwei weiteren politisch bedeutsamen Fällen dem Zustim-
mungsvorbehalt des Deutschen Bundestages unterstellt: die
Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlun-
gen sowie über die Aufnahme von Verhandlungen zur
Änderung der vertraglichen Grundlagen der Europäischen
Union. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass
bereits die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen von der
Zustimmung des Deutschen Bundestages getragen sein
muss, der den Beitrittsvertrag später ratifiziert. Andernfalls
könnte der Deutsche Bundestag den Beitritt eines Landes
nur unter Inkaufnahme eines außenpolitisch erheblichen
Verlustes an Ansehen ablehnen. Daher ist es geboten bei
Vorbehalten des Deutschen Bundestages gegenüber dem
Beitritt eines neuen Staats zur EU dieses schon im Vorfeld
nach außen deutlich zu machen, damit es erst gar nicht zu
Verhandlungen kommt, die ganz am Ende scheitern würden.
Auch das Zustimmungsvotum des Deutschen Bundestages
im Vorfeld von Vertragsänderungsverhandlungen hat den
gleichen Frühwarneffekt. Auch hier ist es sinnvoll, dass die
Bundesregierung vom frühest möglichen Zeitpunkt mit der
Unterstützung des Deutschen Bundestages verhandeln kann,
der das Ergebnis der Verhandlungen schließlich ratifizieren
muss.
Beide Formulierungen tragen damit dazu bei, das Handeln
der Bundesregierung im Europäischen Rat demokratisch
stärker zu legitimieren.
Mit § 6 wird die entsprechende Bestimmung aus dem beste-
henden Zusammenarbeitsgesetz von Bund und Ländern
(dort § 5 Abs. 3) zur Anwendung der Flexibilitätsklausel
(Artikel 308 EG-Vertrag) übernommen. Klargestellt wird,
dass die Bundesregierung das Vorhaben im Rat ablehnen
muss, sich also nicht enthalten kann, wenn das Einverneh-
men mit dem Deutschen Bundestag nicht erzielt wurde.
§ 7 normiert das Klagerecht des Deutschen Bundestages
nach Artikel 8 des Protokolls des Verfassungsvertrags über
die Anwendung der Grundrechte der Subsidiarität und der
Verhältnismäßigkeit. Der Beschluss des Deutschen Bundes-
tages über die Klageerhebung erfolgt auf Antrag eines Drit-
tels seiner Mitglieder, ist also ein Minderheitenrecht. Nur so
werden die Rechte des Deutschen Bundestages wirklich
verbessert, weil die Parlamentsmehrheit über die von ihr
gewählte und selbst klagebefugte Bundesregierung bereits
einen mittelbaren Zugang zum EuGH hat. Dies entspricht
im Übrigen auch der Rechtslage, wie sie bei der abstrakten
Normenkontrollklage besteht (Artikel 93 Abs. 1 Nr. 2 des
Grundgesetzes). Dadurch, dass das Protokoll des Verfas-
sungsvertrags über die Anwendung der Grundsätze der Sub-
sidiarität und Verhältnismäßigkeit festlegt, dass die Klage
von einem Mitgliedstaat im Namen seines nationalen Parla-
ments oder einer Kammer dieses Parlaments übermittelt
wird, muss die Klage zwar von der Bundesregierung
namens des Deutschen Bundestages beim Europäischen
Gerichtshof eingereicht werden. Dies hat aber unverzüglich
und ohne inhaltliche Prüfung zu geschehen. Die Bundes-
regierung handelt hier als Bote. Dem entspricht, dass der
Deutsche Bundestag selbst die Prozessführung vor dem
Europäischen Gerichtshof übernimmt.

In § 8 wird das Recht des Deutschen Bundestages geregelt,
in der Ständigen Vertretung Deutschlands bei der Europä-
ischen Union vertreten zu sein. Durch die räumliche Nähe
wird der Informationsfluss zwischen Bundesregierung und
Deutschem Bundestag erheblich erleichtert, was zu einer ef-
fektiveren Wahrnehmung der Mitwirkungsrechte des Deut-
schen Bundestages führt.
§ 9 schafft die Rechtsgrundlage für eine Vereinbarung zwi-
schen der Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag.
Eine entsprechende Rechtsgrundlage gibt es bereits jetzt
schon im Zusammenarbeitsgesetz von Bund und Ländern in
Angelegenheiten der Europäischen Union.

Zu Artikel 2 (Vereinbarung zwischen der Bundes-
regierung und dem Deutschen Bun-
destag über die Zusammenarbeit in
Angelegenheiten der Europäischen
Union in Ausführung des § 9 des
Gesetzes über die Zusammenarbeit
von Bundesregierung und Deutschem
Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union)

Der Deutsche Bundestag strebt eine Vereinbarung zwischen
Bundesregierung und Deutschem Bundestag an, die es bis-
lang nur im Verhältnis Bundesregierung/Regierungen der
Länder gab. Dabei geht es um eine Präzisierung der Infor-
mationspflichten der Bundesregierung, wie sie sich aus Ar-
tikel 23 Abs. 2 des Grundgesetzes und dem Zusammenar-
beitsgesetz zwischen Bundesregierung und Deutschem
Bundestag ergeben. In der Vergangenheit war dieser Infor-
mationsfluss häufig mangelhaft. Die Bundesregierung hat
Dokumente, Mitteilungen und Berichte von den europäi-
schen Institutionen dem Deutschen Bundestag zum frühest-
möglichen Zeitpunkt zuzuleiten. Gleiches gilt für die
Berichte der Ständigen Vertretung über die von ihr wahrge-
nommenen Sitzungen und über die ihr zugänglichen Doku-
mente. Ohne diese Informationen ist eine effektive Mit-
wirkung des Deutschen Bundestages in EU-Angelegenhei-
ten nicht möglich. Nur mit Hilfe einer umfassenden und
schnellen Informationspolitik der Bundesregierung kann der
Deutsche Bundestag die ihm vom Grundgesetz in Artikel 23
verliehenen Rechte wahrnehmen. Dabei sagt der Deutsche
Bundestag zu, dass die Berichte der Ständigen Vertretung
nur einem klar begrenzten Personenkreis zugänglich ge-
macht werden, um die Vertraulichkeit zu wahren. Dem
Deutschen Bundestag sind zudem ressortübergreifende Da-
tenbanken in Bezug auf Vorhaben der Europäischen Union
zu eröffnen. Auch sagt die Bundesregierung zu, sich um die
Öffnung nur den Regierungen zur Verfügung gestellten
EU-Datenbanken zu bemühen. Alle diese Maßnahmen tra-
gen dazu bei, die Mitwirkung des Deutschen Bundestages
bei EU-Vorhaben überhaupt erst zu ermöglichen, da präzise
und zeitnahe Informationen dafür die Voraussetzung sind.
Die Bundesregierung wird darüber hinaus verpflichtet, auch
mündlich in den betroffenen Ausschüssen des Bundes zu
unterrichten, insbesondere über eigene Initiativen und sol-
che der Bundesländer, des Bundesrates sowie anderer Mit-
gliedstaaten.
Die Bundesregierung hat eine geeignete Vertretung in den
Ausschüssen sicherzustellen, die sich mit EU-Vorhaben be-

Drucksache 15/4716 – 8 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode
fassen, insbesondere also dem EU-Ausschuss, um einen rei-
bungslosen Informationsaustausch zwischen Bundesregie-
rung und Deutschem Bundestag zu gewährleisten.
Zu Artikel 3 (Änderung des Richterwahlgesetzes)
Der Regelungsbereich des Richterwahlgesetzes wird auf die
deutschen Mitglieder des Europäischen Gerichtshofs er-
streckt. Damit erfolgt deren Benennung in Anlehnung an
das Verfahren zur Ernennung der Richter der obersten Ge-
richtshöfe des Bundes, das heißt unter anderem Vorschlags-
recht seitens der Mitglieder des Richterwahlausschusses so-
wie Berufung im Einvernehmen mit dem Richterwahlaus-
schuss. Die Transparenz im Verfahren wird erhöht, was
letztlich der Qualität der Benennung der deutschen
EuGH-Richter zu Gute kommt.
Zu Artikel 4 (Inkrafttreten, Außerkrafttreten)
Artikel 4 legt das Datum für das Inkrafttreten des Gesetzes
auf das Datum für das Inkrafttreten des Verfassungsvertrags
fest, da weite Teile dieses Gesetzes auf den Verfassungsver-
trag Bezug nehmen und erst mit seinem Inkrafttreten Wir-
kung entfalten.

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